Blasphemie

Ich erinnere mich an einen Schulausflug. Es war in der ersten Gymnasialklasse. Wir besuchten die Kirche von Colmar. Bei der Kirchenbesichtigung, die ein Priester leitete, sagte ein Mitschüler plötzlich, indem er auf ein holzgeschnitztes Kruzifix zeigte: "Da hängt ja einer!" Nach wie vor - Jahrzehnte später - muss ich über diese Bemerkung lachen. "Da hängt ja einer!" Aber was ist daran so komisch? Es ist die Situation. Es ist die Kirche mit den hallenden Stimmen. Es ist der Schüler, der den Dummkopf spielt und eine Bemerkung macht, die den Priester aus dem Konzept bringt. Ob und wie komisch etwas ist, hängt oft vom Kontext ab. Das Religiöse will ernst genommen werden. Es erheischt Respekt. Und gerade diese Fallhöhe zieht die Komik magisch an. Grösser könnte eine Zielscheibe für Spott nicht sein. 

 

 

 

 

Das Recht auf Blasphemie lässt sich nicht auf die Gretchenfrage reduzieren. Man muss es in einem grösseren Zusammenhang sehen. Wer Religionen in Frage stellt, will sie ja nicht durch eine alternative Weltanschauung ersetzen. Das Ziel kann nicht eine Ersatz-Religion sein. Ein Atheismus, der diesem grösseren Zusammenhang Rechnung trägt, ist keine Ersatz-Religion, sondern lediglich eine Abrissbirne für Häuser, die zuviel Platz einnehmen. Sofern sich der Atheist auf den Standpunkt stellt, dass Atheismus vor allem mit intellektueller Redlichkeit und weniger mit festen Glaubenssätzen zu tun hat, kann er die von ihm kritisierten oder verspotteten Religionen ganz gut am Leben lassen. Er möchte bloss verhindern, dass religiöse Menschen allzu selbstsicher werden. Er sägt ihnen sozusagen die Hörner ab. Kurz gesagt: er kämpft nicht für eine atheistisch genormte Weltanschauung, sondern für eine säkulare Gesellschaft, die den religiösen Pluralismus überhaupt erst ermöglicht. Das Recht auf Blasphemie kommt nicht ausschliesslich den Atheisten zugute. Meinungsfreiheit schützt auch diejenigen, die zwar gläubig sind, aber nicht ganz auf der verlangten Linie: Abweichler, Häretiker, Minderheiten. Das aber bedeutet, dass keine Religion das Recht hat, ihre Schutzwürdigkeit über die Meinungsfreiheit zu stellen. Jede Religion muss sich messen lassen, vor allem auch an sich selbst. Auch innerhalb einer Religion offenbaren sich Widersprüche, Feindschaften und konkurrierende Auffassungen. Diese Divergenz macht deutlich, dass intersubjektive Verbindlichkeit in Glaubensfragen illusorisch ist. Sie ist ein realitätsfernes Versprechen. Ein gefährliches Versprechen, weil Religionen diese Verbindlichkeit vorgaukeln, ohne sie im geringsten garantieren zu können. Wo eine Religion gegründet wird, ist das Schisma schon programmiert. Mit ihren "dogmatischen Abschirmungs-Prinzipien" (Hans Albert) kaschieren religiöse Weltdeutungen eigene Denkfehler, Widersprüche und Auslegungsspielräume, die zu endlosen Streitereien führen können, bis hin zu offener Gewalt. Nicht nur zwischen den Religionen, sondern auch innerhalb der Religionen. Das zeigt sich bis zum heutigen Tag. Die schlimmsten Religionskonflikte spielen sich innerhalb der Religionen ab: zwischen verschiedenen Konfessionen. Oder zwischen einem dogmatischen Machtsystem und den häretischen Bewegungen, die es in Frage stellen.

 

Religionskritik ist ein tragendes Element jeder säkularen Gesellschaft, die als solche ein vitales Interesse daran hat, irreale, totalitäre und theokratische Bestrebungen zu unterbinden. Das Christentum ist nur deshalb tolerierbar, weil man es in die Schranken gewiesen hat. Katholiken und Protestanten wissen das sehr genau, zu viele Federn haben sie schon lassen müssen. Mit guten Gründen verzichten sie darauf, ihre historisch bedingte Sonderstellung auszunützen. Sie halten sich vornehm zurück, halten sich brav an die Spielregeln und pflegen sogar eine gewisse Selbstkritik. Nicht einmal der übelste Hardcore-Katholik käme heute noch auf die Idee, die Inquisition gutzuheissen. Und die Protestanten, die in der Neuzeit gewütet haben wie die Buddha-Statuen zerstörenden Talibanmilizen, sind inzwischen ganz nett und kleinlaut und getrauen sich kaum noch, einen Gottesdienst zu veranstalten, ohne mit Buddhisten, Muslimen und Katholiken Händchen zu halten. Wo man früher das Schwert geschwungen hat, um Glaubensabtrünnige niederzumetzeln, benutzt man heute Stricknadeln, um die obligaten Wollsocken für den Kirchenbazar zu stricken. Im Umgang mit dem Säkularismus sind die Landeskirchen - das muss man anerkennen - über den eigenen Schatten gesprungen. Ernsthafte Konflikte gibt es hier kaum noch. Ausnahmen wie die katholische Entrüstung über die Papst-Sottisen der Satire-Zeitschrift “Titanic” bestätigen die Regel. Im allgemeinen gehen die Landeskirchen ziemlich souverän mit Religionskritik um. Denn eines haben sie gelernt: Religionsfreiheit bedeutet nicht, dass religiöse Autoritäten und Auffassungen nicht lächerlich gemacht werden dürfen. Ausserdem kann man es sich kirchlicherseits schlicht nicht leisten, wählerisch zu sein. Weil der christliche Glauben in der heutigen Gesellschaft zunehmend marginalisiert wird, ist man froh um jede religiöse Debatte. Religionskritik ist immer noch besser als Gleichgültigkeit. Lieber in einem kritischen Licht stehen als unbemerkt im Dunkeln hocken! Die Pfarrer und Diakone, die ich kenne, sind die Ersten, die über einen religiösen oder antireligiösen Witz lachen. Und vielleicht auch die Einzigen.

 

Gesetzlich bewegt man sich hier zwar in einer Grauzone. In den meisten europäischen Ländern - auch in der Schweiz - gibt es einen Blasphemieartikel, ein Gesetz gegen Gotteslästerung. Allerdings kennt es eine wichtige Einschränkung. In der juristischen Praxis kann es nicht so ohne weiteres gegen Karikaturen, Polemik, Satire und Ähnliches angewendet werden. Eine Handhabe für Zensur bietet dieses Gesetz nicht. Die Meinungs- und Kunstfreiheit hat meistens Vorrang. Man kann praktisch jeden Juristen fragen und erhält stets dieselbe Antwort: in einer liberalen Gesellschaft ist die Meinungsfreiheit höher zu gewichten als religiöse Empfindlichkeit, da letztere keine intersubjektive Geltung besitzt, keine wirkliche Konsensfähigkeit, die Meinungsfreiheit aber schon. Der Blasphemieartikel - eigentlich ein alter Zopf aus vergangenen Jahrhunderten - richtet sich in erster Linie gegen handfeste Störungen und Vandalenakte wie zum Beispiel Kirchenschändungen. Eine Protestaktion, wie sie Pussy Riots in einer Moskauer Kirche veranstaltet haben, könnte auch bei uns mit dem Blasphemiparagraphen geahndet werden. Doch in der Praxis wäre das gar nicht so einfach. Würde ein derartiger Fall in der Schweiz verhandelt werden, müsste der Ankläger höchstwahrscheinlich eine Argumentation vorbringen, die in Richtung "Erregung öffentlichen Ärgernisses" geht. Der Vorwurf der Blasphemie hätte vor einem mitteleuropäischen Gericht, das seine religiöse Neutralität hochhalten muss, denkbar schlechte Chancen.

 

Will man die Frage beantworten, wodurch religiöse Satire begründbar ist, tut man gut daran, zuerst einmal den Begriff der Religionsfreiheit zu klären. Religionsfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit dem Recht auf religiöse Immunität. Eine solche Immunität gibt es nur in Theokratien. Bei uns hat niemand das Recht, seine Überzeugungen für sakrosankt zu erklären. Religionsfreiheit bedeutet lediglich, dass ich das Recht habe, meine eigene Religion zu wählen. Ich darf sogar meine eigene Religion oder Kirche gründen: - wie das der französische Komponist Erik Satie getan hat, der sich zum Papst seiner eigenen Kirche ernannt hat, deren einziges Mitglied er war. (Das Experiment schlug dann allerdings fehl: als er sich wegen Häresie exkommunizieren wollte, verstrickte er sich im Unfehlbarkeitsdogma und schmiss den Papsthut mit einem "Urbi et Orbi" aus dem Fenster). Glauben darf ich alles, solange ich in der Ausübung meines Glaubens nicht gegen die Gesetze verstosse. Ich darf den grössten Unsinn glauben. Ich darf in meiner Besenkammer den heiligen Besen anbeten. Das darf mir niemand verbieten. Aber umgekehrt darf ich auch niemandem verbieten, meinen heiligen Besen als ein plumpes Stück Holz zu bezeichnen. Ja mehr noch: man darf ihn sogar als Dreckschleuder bezeichnen. In einer säkularen Gesellschaft müssen solche Meinungen frei und offen geäussert werden dürfen. Religiöse Menschen müssen erkennen und akzeptieren, dass ihr Glaube keine intersubjektive Geltung besitzt. Ausserdem ist der Glaube keine personale Angelegenheit. Seine Verletzung oder Kränkung betrifft nicht die Unversehrtheit der Person. Heikel ist Religionskritik erst dann, wenn sie - wie zum Beispiel im Antisemitismus - nicht die Religion an sich zum Gegenstand hat, sondern ein ethnisches Feindbild, wenn also Religionskritik lediglich als Vorwand dient, um den Juden wieder einmal alles Übel dieser Welt in die Schuhe zu schieben. Im Normalfall steht eine Religion - präziser gesagt: das normative Glaubenssystem einer Religion, nicht ihre Kultur - auf der gleichen Stufe wie eine politische oder ideologische Überzeugung. Und für eine Überzeugung muss ich - als geistig mündiger Mensch, der seiner kleinkindlichen Trotzphase entwachsen ist - selbstverständlich Kritik einstecken können. Ein Spott, der nicht auf die Person, sondern auf die Überzeugung zielt, kann nicht mit persönlicher Diffamierung - geschweige den Rassismus - gleichgesetzt werden. Eine religiöse Überzeugung kann man ablegen oder annehmen, nicht aber die Haut- oder Haarfarbe, die Körpergrösse, das Geschlecht oder eine Behinderung. Ein Punkt, der oft unter den Tisch fällt. Vor allem in linken Kreisen wird Islamkritik gerne mit Rassismus gleichgesetzt. Oder mit Antisemitismus verglichen. Beides ist ein Totschlag-Argument. Und beides ist ein Eigentor. Wenn man Rassen konstruiert, wo keine sind, um sich hinter dem Schutzschild von Rassismusvorwürfen zu verstecken, ist das eben auch schon Rassismus. Und im Antisemitismus spielt Religionskritik kaum eine Rolle. Da vermischt man also Dinge miteinander, die nichts miteinander zu tun haben, und missbraucht Begriffe wie "Rassismus" und "Antisemitismus" für die übliche linksdiskursive Opferbewirtschaftung. Religionskritik kritisiert die Überzeugung, nicht die ethnische Zugehörigkeit oder die kulturelle Prägung. Wenn jemand das Christentum kritisiert, fühle ich mich, obwohl ich durch und durch christlich geprägt bin, kein bisschen beleidigt. Ich würde mich aber beleidigt fühlen, wenn ich ein überzeugter Christ wäre, ein Christ, der sein Christentum als Willenssache auffasst, die es zu verteidigen gilt, weil jemand anders eine andere Auffassung über diese Sache haben könnte. Deshalb sind es nicht die Blasphemiker und Religionskritiker, die man in Sachen Toleranz massregeln sollte: es sind die religiösen Ignoranten.

 

So logisch das alles ist: leider steht zu befürchten, dass die Abwehrkräfte des Säkularismus erlahmen. Durch den Druck strenggläubiger Imigranten und ihrer religiösen Interessensverbände ist eine Entwicklung in Gang gekommen, die fast nicht mehr aufzuhalten ist. Das säkulare Terrain verkommt zum Selbstbedienungsladen für religiöse Separatisten, und der Widerstand ist zwar vorhanden, fällt jedoch politisch nicht ins Gewicht. Das Problem ist, dass sich unsere Gesellschaft für derartige Missbräuche geradezu anbietet. Durch ihr naives Toleranzethos gerät sie zunehmend unter Druck, sie lässt sich erpressen und ausnehmen. Selbst die Landeskirchen predigen mittlerweilen eine Toleranz, mit der sie die eigenen Voraussetzungen untergraben. Denn der Mainstream-Islam kann in keiner Weise mit dem Mainstream-Christentum verglichen oder gleichgesetzt werden. Zwischen den beiden Religionen liegen ungefähr 500 Jahre Schocktherapie in Form von Reformation, Gegenreformation, Humanismus, Aufklärung, Positivismus, Darwinismus, Marxismus und einer Moderne, die in der muslimischen Welt gehasst wird wie der leibhaftige Teufel, obwohl an jeder Strassenecke von Dakar bis Islamabad eine Leuchtreklame für Coca Cola blinkt.

 

Die Debatte um Religionskritik durch Satire und Karikatur hat sich am Islam neu entzündet. Es ist eine uralte Debatte, und noch im 20. Jahrhundert betraf sie vor allem das Christentum. Seit der Fatwa gegen Salman Rushdie und der Ermordung Theo Van Goghs haben sich die Gewichte merklich verschoben. Was nicht nur mit dem islamistischen Terrorismus zu tun hat, sondern auch mit dem Islam insgesamt. Von wegen: es hat nichts mit Religion zu tun. Das Christentum musste sich extrem verbiegen, um sich als Machtreligion installieren zu können. In dieser Biegsamkeit lag aber auch die Chance zur Säkularisierung. Anders beim Islam. Hier finden totalitäre und politische Tendenzen den idealen Nährboden, da diese Religion - gegründet von einem Feldherrn, Politiker und Kaufmann - schon von Grund auf sittenpolizeilich, machtpolitisch und militärisch zu Werke gegangen ist. Der politische Islam ist authentisch, und genau darin liegt der Grund, weshalb er sich weltweit und auf sehr breiter Basis durchsetzt. Einen unpolitischen Mainstream-Islam gibt es nicht. Nirgends. Den Beweis dafür finden wir in islamischen Ländern. Diese Länder sind eben nicht islamisch in dem Sinn, wie ein christliches Land christlich ist. Eine Staatskirche - egal, ob anglikanisch, protestantisch oder römisch-katholisch - hat nicht den Rang, den der Islam in muslimischen Ländern beansprucht - und meistens ziemlich totalitär durchsetzt. Muslimische Mehrheitsgesellschaften sind fast immer Theokratien. Oder weniger freundlich ausgedrückt: religiöse Despotien. Damit könnte man umgehen, wenn der Westen eine klare religionskritische Haltung hätte und sich dazu durchringen könnte, die liberalen und säkularen Kräfte in der muslimischen Welt zu unterstützen. Leider passiert genau das Gegenteil. Die linksgrüne Islam-Toleranz, eine kurzsichtige Blanko-Toleranz, die das Böse immer nur rechts verortet und jeden Islamkritiker als Rassisten diffamiert, verrät nicht nur den westlichen Säkularismus, sondern auch all jene mutigen Muslime, die unter Lebensgefahr ihre eigene Religion zu kritisieren wagen. Getrieben von einer verknöcherten anti-westlichen Ideologie und einer falschen Auffassung von Religionsfreiheit hofiert man den Kreide fressenden Islamisten und schliesst mit ihnen eine Art Schutzpakt, mit dessen Hilfe Frauen unterdrückt, die Meinungsfreiheit eingeschränkt und ein weltweiter religiöser Obskurantismus durchgesetzt wird. Dieses anti-aufklärerische Engagement von Menschen, die ihrer politischen Überzeugung nach eigentlich die Werte der Aufklärung verteidigen müssten, befeuert den rechten Populismus und reisst die ganze Linke in den Abgrund. Sogar in der vergleichsweise schwach islamisierten Schweiz befürworten sehr viele Muslime die Scharia. (Nach einer Umfrage der Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften befürwortet jeder fünfte Schweizer Muslim die Scharia. Stand November 2018). Diese demonstrative und gleichsam selbstverständliche Abgrenzung, die man heute bei vielen europäischen Muslimen antrifft, ist ein deutliches und alarmierendes Zeichen dafür, dass sich der Islam in einem globalen Massstab politisiert hat und den Säkularismus ablehnt. Und nein, schuld daran ist eben nicht der rechte Populismus oder irgendeine systematische Stigmatisierung ("Islamophobie"). Hier verwechselt man Ursache und Wirkung, zumal der erstarkte islamische Fundamentalismus ein globales Phänomen darstellt. Viele Muslime stigmatisieren sich selber.

 

Ansätze zu einem mittelalterlichen Gesellschaftsverständnis gibt es auch in anderen Religionen, selbst im solid säkularisierten Christentum. Obwohl der Islam mit seinem rigiden Tugendkatalog und seiner Neigung zur schriftgetreuen Militanz weitaus stärker aneckt als jede andere Religion, ist der Fanatismus auf christlicher Seite keineswegs verschwunden. Und man sollte ihn auch nicht aus den Augen verlieren. Nur weil christliche Fundamentalisten darauf verzichten, Halleljua schreiend Menschen umzubringen mit gesegnetem Sprengstoff, sind sie noch lange nicht zur Vernunft gekommen, was man vor allem in den USA sehen kann. Religiöse Propagandisten verspüren anscheinend Rückenwind. Was wir brauchen, ist eine Gegendrehung, eine streitbare Aufklärung. Leute wie Henryk M. Broder, Abdel Samad und Richard Dawkins springen hier in die Bresche. Was wir brauchen, ist eine Religionskritik ohne Scheuklappen und Waschlappen-Mentalität. Trotz erheblichem Widerstand von Seiten islamischer Staaten hat sich diese Ansicht teilweise auch bei der UNO durchgesetzt. Auf der Informationsplattform des Vereins Humanrights.ch wird in Bezug auf entsprechende UNO-Beschlüsse unmissverständlich klargestellt, dass niemand “wegen seiner Äusserungen über eine bestimmte Religion bestraft werden” kann, es sei denn, “es handle sich um eine ohnehin strafbare Verletzung religiöser Gefühle (Blasephemie-Verbote auf der Ebene des Strafrechts)...” Blasphemie-Verbote, so führt Humanrights.ch weiter aus, “fallen unter die Meinungsäusserungsfreiheit”.

 

Hier beisst sich die Katze freilich in den Schwanz. Was nützt es, Religionen kritisieren zu dürfen, wenn man keine religiösen Gefühle verletzen darf? Ich darf also uneingeschränkt Kuchen essen, muss aber darauf achten, dass ich meine Diät einhalte. Da sich das Diffamierungsverbot in Religionsfragen als Unsinn erweist, wird es auf die strafrechtliche Ebene der “Meinungsäusserungsfreiheit” abgewälzt, was aber keine Lösung bringt, sondern lediglich zur Folge hat, dass ein Unsinn durch einen grösseren Unsinn ersetzt wird. De facto (wenn auch nicht de juris) gibt es für Ideen, Ideologien und religiöse Traditionen keine Immunität. Der von den Religionswächtern gerne zitierte Blasphemieartikel (im Schweizerischen Strafgesetzbuch Artikel 261) kollidiert, wie ich bereits erwähnt habe, mit dem Recht auf Meinungs- und Kunstfreiheit und entlarvt sich immer wieder als Papiertiger, der in der säkularen Rechtsprechung nur sehr beschränkt angewendet werden kann. Wenn überhaupt. Im Ernstfall kann der Blasphemieartikel keine einzige Form von Religionskritik unterbinden oder einschränken, vor allem nicht im Kunstbereich. Und selbstverständlich ist es nicht an den Gläubigen, zu definieren, wo eine Kritik aufhört und eine Verunglimpfung anfängt. Ob jemand, der aufgrund seines Glaubens oder seiner Überzeugung kritisiert wird, die betreffende Kritik als herabwürdigend empfindet oder nicht, hängt einzig und allein von seiner subjektiven Empfindung ab. So gesehen kann jede derartige Kritik als verunglimpfend empfunden werden, und das Argument, dass man Religionen wohl kritisieren darf, aber nicht verunglimpfen, hängt ziemlich in der Luft. Es ist ein Scheinargument. Es ist null und nichtig. Die Grenzziehung kommt ja immer von dort, wo man sich beleidigt fühlt. Sie ist also nicht objektiv. Das Motiv dieser Grenzziehung ist nicht verallgemeinerbar. Das Recht, nicht bestohlen, beraubt oder ermordet zu werden, ist verallgemeinerbar. Das Recht, nicht persönlich beleidigt zu werden, ebenfalls. Nicht aber das Recht auf eine unantastbare Weltauffassung. Dieses Recht - eigentlich ein Pseudo-Recht - unterliegt keinen allgemeingültigen Kriterien. Es ist ein Exklusivrecht - und insofern eben kein Recht, sondern ein Privileg. Das, was Religionen gemäss ihren eigenen Drehbüchern gerne etablieren würden. Vor dem Gesetz aber sollten alle Menschen gleich sein. Insofern sind Religionen immer - wenn auch meistens nur latent - gegen das Grundgesetz gerichtet. Religiöse Gefühle sollen unter Schutz gestellt werden. Andererseits nehmen sich die Religionswächter kraft einer höheren (göttlichen) Befugnis die Freiheit heraus, Menschen, die nicht in das jeweilige religiöse Konzept passen, als Sünder, Verworfene und Feinde hinzustellen. Das wiederum sollte ihrer Meinung nach erlaubt und garantiert sein. Und tatsächlich ist es das auch. Auch Fundamentalisten haben das Recht, ihre Meinung zu äussern. Es gibt kein Gesetz, das Dummheit verbietet. Man darf den gesunden Menschenverstand beleidigen. Man darf die Menschen in Verdammte und Erwählte einteilen. Das tut auch Dieter Bohlen, wenn er einen Schnulzensänger lobt oder zur Sau macht. Kein Problem. Das nennt sich Meinungsfreiheit. Doch unter dieser Voraussetzung müssten die Religionswächter auch die Retourkutsche zulassen. Gleiches Recht für alle. Dieses Recht wird logischerweise nicht durch eine religiöse Instanz gewährleistet. Die Spielregeln werden woanders gemacht. Die Unterscheidung zwischen einer Diffamierung oder Diskriminierung und einer religionskritischen Manifestation oder Äusserung kann nicht vom Beleidigten getroffen werden. Wenn der Farbenblinde befugt wäre, seinen Mitmenschen den korrekten Gebrauch von Farbbezeichnungen vorzuschreiben, wäre das ziemlich fatal. Die juristische Logik ist eine andere. Hier hat nicht der Religionswächter darüber zu befinden, was man darf und was nicht. Wenn sich jemand persönlich beleidigt fühlt, kann er Klage einreichen und eine unabhängige Instanz anrufen, die den Vorwurf überprüft. Wobei der Tatbestand der Blasphemie absolut untauglich ist, um irgendeine Grenzlinie zu ziehen. Was darf man? Und bis wohin? Und ab wo darf man was nicht? Und in Bezug worauf? Es gibt keine Massstäbe, mit denen man etwas so Schwammiges wie Blasphemie rechtlich definieren könnte, da fehlt jegliche Objektivität. So könnte es zum Beispiel für einen Druiden den Gipfel der Blasphemie darstellen, wenn jemand an einen Baum pinkelt. Die meisten andern Menschen werden das aber keineswegs als blasphemisch empfinden, höchstens als unappetitlich. Und so geht es ja auch bei Mohammed- und Papstkarikaturen: wieso sollte man auf die irrationalen Empfindlichkeiten von Muslimen und Katholiken Rücksicht nehmen? Wenn man das täte, müsste man sämtlichen Glaubensgemeinschaften und Sekten das Recht zugestehen, religionskritische Äusserungen zu reglementieren, und worauf das hinauslaufen würde, kann man sich ja ungefähr vorstellen. 

 

2014