Denkfabriken

 

Denkfabriken, Fachgremien und Expertenzirkel liegen merkwürdigerweise oft daneben. Ein bekannter Psychologe hat dieses Phänomen schon in den Siebzigerjahren untersucht. Er hat herausgefunden, weshalb elitäre Gruppen besonders anfällig für Selbsttäuschungen und Fehleinschätzungen sind.

 

Denkfabriken - auf Neudeutsch Think Tanks oder Thinkgroups - wollen weitsichtig sein: vorausschauend. Dazu sammeln sie Informationen, werten Statistiken aus, befragen Experten, schauen, woher der Wind weht, wenn sich eine neue Entwicklung anbahnt, und erstellen von Zeit zu Zeit ein öffentliches Gutachten zu irgendeinem gesellschafts- oder wirtschaftspolitischen Thema. Dieses Gutachten ist nicht unparteiisch. Es ist kein Wetterbericht. Es bezieht Position. Es zeigt auf, was richtig und was falsch ist, und in diesem Sinne enthält es immer eine Empfehlung oder Anweisung. Denkfabriken erstellen nicht nur die Diagnose, sondern benennen auch die Therapie. Das kann spannend sein, wenn die Ausgangsfrage eine gewisse Brisanz besitzt. Doch in der Regel führt es dann doch zu den üblichen kurzsichtigen Analysen und voraussehbaren Schlussfolgerungen.

 

Da hat sich die Denkfabrik "Avenir Suisse" doch tatsächlich für die Abschaffung der kirchlichen Feiertage ausgesprochen! Wenig überraschend die Begründung: kalenderarische Feiertage seien unrentabel. Man müsse die Freizeit flexibilisieren. Wenn man am Kirchenjahr festhalte, wie wenn es in Stein gemeisselt wäre, verursache man laut Adam Riese einen Milliardenschaden. Da hat man aber gut gerechnet! Nach dieser Logik verursachen wir auch einen Milliardenschaden, weil die meisten von uns nachts nicht arbeiten. Was will man sich über solche Rechenkünste aufregen? Überraschend wäre es gewesen, wenn "Avenir Suisse" die zwei Dutzend frommen Katholiken aus dem Innerrhodischen dafür gelobt hätte, dass sie an Auffahrt eine ökonomisch sinnlose Prozession abhalten. Wenn "Avenir Suisse" über die Gesellschaft nachdenkt - und das Gleiche gilt für viele andere Denkfabriken - kann man davon ausgehen, dass das Ergebnis in eine exakt vordefinierte Schablone passt. Das ist wie "Malen nach Zahlen": mit Denken hat es wenig zu tun. 

 

Es gibt regierungsnahe Denkfabriken, akademische Denkfabriken und wirtschaftsliberale Denkfabriken. Was es nicht gibt, sind unabhängige Denkfabriken. Wo sich eine Denkfabrik zu Wort meldet, spielen Wirtschaftsinteressen mit, äussern sich Machtpositionen, wäscht die eine Hand die andere, wird die Werbetrommel gerührt und die grosse Leuchte irgendeines hehren Ideals montiert, damit die kleinen Schifflein wissen, wo sie hinsegeln müssen.

 

Dass Denkfabriken so häufig mit vorhersehbaren Schablonen operieren, liegt allerdings auch am "Groupthink", einem Phänomen, das in der Psychologie bestens bekannt ist. Der US-Psychologe Irving Janis hat es Anfang der Siebzigerjahre eingehend untersucht. Anlass dazu bot ihm eine Reihe von Fehlentscheidungen und falschen Prognosen der Kennedy-Administration. Kennedy hatte bekanntlich einige der brillantesten Köpfe des Landes um sich versammelt, namhafte Wissenschaftler und Intellektuelle. Irving Janis fragte sich, was wohl die Ursache dafür war, dass diese geballte und von einem jungen, fortschrittlichen Präsidenten hofierte Intelligenz einen derartigen Mangel an Weitblick und Durchblick gezeigt hatte. Ein echtes Rätsel. Doch die psychologische Erklärung ist relativ einfach: wer sich in der Position einer anerkannten Fachperson befindet, hat sich bei jeder öffentlichen Äusserung immer auch um die persönliche Reputation zu kümmern. Vor allem dann, wenn eine gemeinsame Meinung ausgehandelt werden soll. Die Sache, um die es jeweils geht, ist nicht das alleinige Kriterium in einer Thinkgroup. Entscheidend ist auch, wie man sich in seiner festgeschriebenen Rolle als Fachperson in der Gruppe, mit der man sich austauscht, wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu positionieren vermag. Denn wer sich allzu weit vom Konsens entfernt, setzt seine Reputation aufs Spiel. Wer sich mit einer institutionell genehmigten Bestallung öffentlich äussert und seine Meinung mit anderen abstimmen muss, hat gar keine andere Wahl, als in der Spur des Erwartbaren zu bleiben. Wer aus der Reihe tanzt, tanzt nicht lange mit. Wer ausschert, wird sehr schnell zurückgepfiffen - oder schlichtweg überstimmt. In einer etablierten und öffentlich agierenden Gruppe gibt es kein Abseits, und dies bedeutet nichts anderes, als dass sämtliche Denkprozesse in einer solchen Gruppe determiniert sind. Das Problem ist vor allem das Bewusstsein der gehobenen Stellung, durch die sich eine Ingroup legitimiert. Mit diesem Bewusstsein sichert man den Zusammenhalt und das Prestige der Gruppe, verhindert aber gleichzeitig, dass man "out of the box" denken und auf ungewöhnliche Situationen angemessen reagieren kann.

 

Ein Beispiel, das den Befund von Irving Janis unterstreicht und immer wieder genannt wird, um die Fehlbarkeit von Expertisen zu veranschaulichen, ist der Fall von Decca Records. 1962 bewarben sich die Beatles beim Label Decca Records mit Probeaufnahmen, um einen Plattenvertrag zu bekommen. Die hauseigenen Experten waren nicht etwa begeistert, sondern meinten stirnrunzelnd, dass "diese Art von Gitarrenmusik" keine Zukunft habe. Keiner der Experten getraute sich, von der Linie des Gewohnten und Erwartbaren abzuweichen. Und so kam es zu einer der peinlichsten Fehlentscheidungen der Musikgeschichte.

 

  

 

2018