Operation Libero

Operation Libero ist nicht etwa ein Fussballverein. So nennt sich eine neue Studentenbewegung. Die Initianten setzen sich dafür ein, dass die Schweiz eine Zukunft hat. Denn die Zukunft der Schweiz ist bedroht.

 

 "La Suisse dans l'histoire aura le dernier mot."

Victor Hugo

 

Operation Libero ist nicht etwa ein Fussballverein. So nennt sich eine neue Studentenbewegung. Die Initianten sind smart. Und sie sind ehrgeizig. Sie haben sich sehr viel vorgenommen. Sie setzen sich dafür ein, dass die Schweiz eine Zukunft hat. Denn die Zukunft der Schweiz ist bedroht. Wir wissen es alle: es gibt die böse SVP, eine populistische Propagandamaschine, die ständig wieder neuen Mist zettelt, und es gibt die dummen Landbewohner, die in stupider Unbelehrbarkeit desöftern mal ihre Stimmzettelchen falsch ausfüllen. Sobald es um Ausländerfragen oder Minarette geht, verwechseln sie das Ja mit dem Nein oder das Nein mit dem Ja, und die bundesrätliche Empfehlung ist wieder einmal für die Katz gewesen. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, kommt jetzt auch noch die Ecopop-Initiative, eine Krake aus den braungrünen Tiefen des politischen und wirtschaftlichen Unverstands. So etwas geht natürlich nicht! Da muss man aktiv werden und Gegensteuer geben. Da muss man eingreifen. Einem Studenten, der in den Startlöchern seiner zukünftigen Karriere steht, liegt viel an Mitgestaltung, Vernetzung und Internationalität. Er weiss, wofür er sich einsetzt, wenn er - offen oder verdeckt - den neoliberalen Sozialingenieuren und Grosskapitalverwaltern das Wort redet. Durch gewisse Enwicklungen oder Nicht-Entwicklungen sieht er sich ins Abseits gedrängt. Die “Ich AG”, die ihm für seine Zukunft vorschwebt, braucht eine offene Schweiz, eine Schweiz, die mit der EU zusammengeht. Die Studenten und so gut wie alle gesellschaftlichen Funktionsträger schwören (heimlich oder offen) auf die EU, weil sie von deren Vernetzungskapazitäten profitieren. Die EU ist ein Eliteverein, der vor allem Eliten fördert. Und ganz besonders die aufstrebenden Noch-nicht-Eliten, bestehend aus jungen, perfekt angepassten, ehrgeizigen Menschen, die in ihrem Optimierungsdrang ein strahlendes Megalopolis imaginieren, ein New Switzerland aus funkelnden Glaspalästen und umweltfreundlichen Softtech-Infrastrukturen, ein helvetisches Silicon Valley, das den hipen Leistungsträgern und smarten Global Players jede denkbare Vergünstigung gewährt - und im meist verschwiegenen Umkehrschluss alles nicht dazu Passende eliminiert. 

 

Zunächst fällt auf: Operation Libero (nomen est omen) spielt die übliche neoliberale Leier ab. Es ist die Ideologie des grenzenlosen Wachstums, eines wirtschaftlichen Automatismus, der uneingeschränkt und unangefochten gültig sein soll, das Primat der Ökonomie. Unter dieser Wachstumsideologie firmiert auch die Auffassung, die rein marktorientierte, unregulierte Einwanderung, die wir gegenwärtig erleben, sei für die Schweiz ein Segen und deshalb unbedingt beizubehalten. Der unausgesetzte Arbeitskräfteimport, so die Überzeugung der studentischen Jung-Liberalen, hält die Wirtschaft am Laufen und beschert uns Wohlstand in Hülle und Fülle. Ja sogar Glück! Was die selbsternannte Leistungselite, die dieses Szenarium vorantreibt und verteidigt, unter Glück versteht, kann man sich ungefähr vorstellen: wer sich nach oben strampelt, erwirbt sich das Recht, am Globalisierungswucher mitzuverdienen. Den erhebt Operation Libero zur ultimativen Handlungsmaxime und ignoriert dabei geflissentlich, dass ein Grossteil der Bevölkerung bei dem ganzen Liberalisierungsausbau in die Röhre guckt. Nicht jeder bekommt ein Stück des Kuchens ab. Einwanderung - das kann jeder Ökonom bestätigen - steigert zwar die Profite, drückt aber auch die Löhne. Einwanderung kann vorteilhaft sein. Aber die Frage ist halt immer: für wen? Unzweifelhaft hat sich die allgemeine Stimmung gedreht. Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit hat sich die Situation für viele Schweizer zum Schlechteren gewendet. Umso besser geht es denjenigen, die auf den oberen Sprossen der Einkommensleiter stehen. Eine privilegierte Minderheit ist eifrig damit beschäftigt, die persönlichen Pfründe zu sichern und aus der sozialen Ungleichheit den grösstmöglichen Gewinn zu schlagen. Wer nicht ganz oben und nicht ganz unten steht und noch einigermassen gut dran ist, weil er wenigstens die Krümel auflesen darf, die von oben herabfallen, versucht die Realität zu verdrängen. Die Tatsache, dass es ihm bald selbst an den Kragen gehen könnte. Die Tatsache, dass immer mehr Menschen immer weniger zu verlieren haben: sogar hier in der reichen Schweiz. So und nicht anders sieht das Gesellschaftsmodell aus, mit dem uns Operation Libero beglücken will. Die Studentenbewegung befindet sich - wie ihr Name schon sagt - in einer Verteidigungsposition. Sie verteidigt ein Ideal, das längst schon Realität ist. Aber eben: diese Realität wird nicht überall willkommen geheissen. Auch auf der Gegenseite gibt es Verteidiger, gut aufgestellte Defensivspieler. Es gibt dort eine Menge Widerstand, den man brechen muss. Und es gibt die Unentschlossenen, Gleichgültigen und rechtspopulistisch Verwirrten, die man auf den rechten Pfad bringen muss. Da muss man eingreifen. Und dem Namen zum Trotz: man muss sogar angreifen. Im Originalton klingt das dann so:

 

Die Operation Libero setzt sich ein für eine Schweiz, die Chancen bietet und Freiheiten schützt. Eine Schweiz, die Zuwanderung als Bereicherung erkennt und die ihre humanitäre Tradition hochhält. Eine Schweiz die weiss, dass sie wegen, und nicht trotz ihrer Offenheit ein erfolgreiches Land ist. Wir wollen eine weltoffene, liberale, moderne und international vernetzte Schweiz.

 

Wir Liberas und Liberos wollen eine Schweiz, in der Leistung zählt, nicht Herkunft. Eine Schweiz, die Selbstverantwortung und Pioniergeist fördert, die Wachstum als Grundlage einer gerechten Gesellschaft sieht, und die Fortschritt als Ziel versteht.

 

Wir sehen die Schweiz als das Chancenland des 21. Jahrhunderts. Denn Chancen sind der Schlüssel zum Glück, zu Wohlstand, zu freier Lebensentfaltung und zu Fairness. Das ist die Schweiz, in der wir leben wollen und für die wir uns einsetzen wollen.

 

Vielleicht ist es hilfreich, die Beweggründe von Operation Libero im ideologischen Umfeld der Initianten zu suchen. Für sie ist die Lage kritisch. Sie sind vorgewarnt. Seit dem 9. Februar 2014 wissen sie, wo es geschlagen hat. Die rechtskonservative Randzone hat sich ausgeweitet. Die Ideale der SVP sind auf einmal mehrheitsfähig. Die Schweiz will sich per Plebiszit “abschotten”. Entsetzen macht sich breit, Fassungslosigkeit im In- und Ausland, überall erheben sich die professoralen Zeigefinger, Warnungen werden ausgestossen, Moralkeulen geschwungen, man spricht von Fremdenfeindlichkeit, - obwohl jährlich weiterhin 80'000 Menschen ins Land strömen, Tendenz steigend, bald schon sind es 100'000. Schon etwas merkwürdig für ein Land, das von Fremdenfeinden beherrscht wird! Doch egal, das Narrativ erfüllt seine Aufgabe: alles, was sich dieser Entwicklung in den Weg stellen könnte, muss als "schlecht" oder "böse" gebrandmarkt werden. Dabei gibt es sehr stichhaltige Gründe, auf die Bremse zu treten. Was jedem vernünftigen Schweizer Sorge bereiten sollte, ist die pyramidale Logik dieser Einwanderung. Es ist die Logik eines Schneeballsystems. Während die ärmeren EU-Länder ausbluten, weil ihnen die halbwegs gut Ausgebildeten in Scharen davonlaufen, wird unsere Hochprofit-Insel mit hoch profitablen Arbeitskräften geflutet (Zuwanderung als Bereicherung, wie wahr!), wobei es hier nicht in erster Linie um den Import wertvoller Fachkräfte geht - nur etwa 15 Prozent aller Einwanderer sind überdurchschnittlich qualifiziert - es geht um den Profit durch Masse, die schiere Quantität. Nicht erst seit vorgestern hat die Schweiz den höchsten Ausländeranteil aller europäischen Staaten, und die Masseneinwanderungsinitiative wird jetzt schon derart kleingemahlen, dass man kein Prophet sein muss, um ihre völlige Wirkungslosigkeit vorhersagen zu können. Besonders konfus verhalten sich unsere Intellektuellen und Kulturschaffenden. Sie stehen unter Strom. Mit Händen und Füssen wehren sie sich gegen "Abschottung" und "Isolationismus". Um ehrlich zu sein: ich halte diese Leute für total übergeschnappt. In der Sahara ein Schild aufzustellen, das vor Eisbären warnt, zeugt entweder von Eisbären-Phobie oder von geografischer Unkenntnis. Man scheint die Relationen völlig aus den Augen verloren zu haben. Liegt es am Schock? Der Vorgang ist ja unerhört! Das Volk hat ein skandalöses Machtwort gesprochen. Es hat die Masseneinwanderungsinitiative angenommen. Und ja, ich sage hier bewusst "Volk" und nicht "Bevölkerung". Ich masse mir an, das passgenaue Wort zu verwenden, in Abgrenzung zur linksliberalen Diktion, die das links- und rechtsideologisch vorgeprägte Wort "Volk" durch das neutralere Wort "Bevölkerung" ersetzt haben will. Letztlich ein Trugschluss, weil das Wort "Bevölkerung" eigentlich in den Jargon der Verwaltungstechnik gehört. Ein "Volk" lässt sich eben nicht verwalten, ist keine Verwaltungseinheit, sondern in der Tat etwas sehr Diffuses, Unberechenbares, das unter Umständen Revolutionen anzetteln kann. Wie bei uns geschehen. Das Volk (nicht die Bevölkerung!) erteilt der geballten, propagandastisch hochgerüsteten Wirtschaftsmacht eine Abfuhr und spricht sich für politische Selbstbestimmung aus. Trotzig stellt es sich gegen das Machtkartell aus Regierung, Economiesuisse, IG Industrie, Branchenverbänden, Gewerkschaften, sozialdemokratischer und bürgerlicher Polit-Prominenz und Universitäten. Es rutscht nach rechts, oder korrekter gesagt: eine hauchdünne Mehrheit von Verführten und Irregeleiteten schliesst sich dem von langer Hand geplanten Isolationskurs an. 

 

Viele Schweizer sind unzufrieden. Sie wünschen sich eine Korrektur. Und nein: es trifft nicht zu, dass der Schweizer Souverän auch nur im entferntesten einer isolationistischen Politik huldigt. Die Globalisierungslakaien zeichnen ein völlig verzerrtes Bild. In geradezu hetzerischer Manier unterstellen sie den Befürwortern einer vernünftigen Migrationspolitik, sie seien rückständig und isolationistisch. Als ob die Schweiz vor der Einführung der Personenfreizügigkeit eine dreissig Meter hohe Mauer um sich herum gehabt hätte! Als ob die gutschweizerische Weltoffenheit jemals zur Disposition gestanden wäre! Die überbesorgte Haltung der Weltoffenen und Dynamischen hat etwas Donquichottisches. Diese Leute formieren sich im Kampf gegen Windmühlen (Rechtspopulismus) und verteidigen etwas, das in seiner Omnipräsenz kaum gefährdet sein dürfte (Internationalität). Andererseits verdrängen sie die wirklichen Probleme. Genau das tun auch die aufstrebenden Jungakademiker von Operation Libero. Sie wollen die Polit-Landschaft neu aufmischen, wollen Gegensteuer geben. Doch von Problembewusstsein keine Spur. Soziale Ungleichheit? Bankenkrise? Schwindendes Volksvermögen? Die Halbierung vieler Reallöhne seit 1990? Nein, da schaut man lieber weg. Das Böse im "konservativen Ungeist" zu verorten, ist allemal einfacher und passt wunderbar in das Weltbild einer aerodynamisch getrimmten Fortschrittsgläubigkeit. Für die Studenten von Operation Libero ist der vermeintliche Siegeszug von Blocher und Co. ein Schlag ins Gesicht. Ein Fehdehandschuh. Dass jemand die Vormachtsstellung der Globalisierung und die Zugriffsrechte internationaler Wirtschafts- und Politinstanzen auch nur im Ansatz in Frage zu stellen wagt! Unglaublich! Für sie ist die Globalisierung XXL die Realität schlechthin, das gelobte Land, das wir kleinen Kuhschweizer unter dankbaren Bücklingen annehmen sollten. Sich selber sehen sie natürlich als Anwälte dieser Realität. Als geistige Speerspitze des Fortschritts.

  

Eine Partei oder Bewegung, die sich vorsätzlich und programmatisch gegen die SVP gestemmt hätte, gab es bislang nicht. Durch Operation Libero ist nun zweifellos so etwas wie ein Profil in die Gegnerschaft gekommen. Deren Schwäche besteht ja gerade darin, dass sie schwer zu fassen und zu bündeln ist. Die von Operation Libero anvisierte Zielgruppe ist jung, wohlhabend, anpassungsfähig, fortschrittsgläubig, urban, kosmopolitisch, konsumistisch und leistungsorientiert. Über den Daumen gepeilt sind das die ungefähr zwanzig- bis dreissigjährigen Städter, junge Menschen "on the top", die sich heranzoomen lassen, wenn man einen werbepsychologischen Näherungswert für eine Produktplatzierung sucht. Es sind die idealen Konsumenten und Konsum-Appetizer. Klar, man kennt das. Aber ich reibe mir die Augen. Wie kann denn Operation Libero eine solche Jugend politisch adressieren? Was hat denn diese Jugend mit Politik am Hut? Ja, ich weiss, sie kann sehr engagiert für gewisse Anliegen eintreten, zum Beispiel für das Recht auf mehr Party ("Tanz dich frei") oder tiefere Studiengebühren. Das waren aber immer nur ganz kleine Proteste, und der Frust hat sich hier wohl in Grenzen gehalten. Erst mit den Erfolgen der SVP hat sich unter avancierten jungen Menschen eine Unzufriedenheit ausgebreitet, die die Frustrationstoleranz ernsthaft strapaziert hat. Bis zum Debakel der MEI-Abstimmung war das jedoch etwas Schwammiges und Nebelhaftes, das sich gar nicht richtig artikulieren konnte. Ausser dass man hin und wieder auf den bösen Blocher schimpfte.

 

Das soll sich nun ändern. "Uns Jungen darf man die Zukunft nicht verbauen!" Mit diesem Mantra will Operation Libero der kollektiven Schwammigkeit zu Leibe rücken. Die neue Bewegung bietet jungen Menschen eine politische Rolle an, in der das jugendliche Bedürfnis nach Vorne-Dabeisein auf die Coolness des Hipsters trifft. Cool, hip und trendig ist diese Bewegung nicht nur der äusseren Erscheinung nach, sondern auch weil sie einem locker beschwingten Relativismus huldigt. Mit diesem Relativismus relativiert Operation Libero zum Beispiel das Krisenszenario der "Masseneinwanderung". Anstatt für Obergrenzen und Kontingente plädiert man für den schrankenlosen Relativismus. Viel oder wenig: das ist ja immer relativ. Wenn jemand aus einer Millionenmetropole wie Tokio oder Singapur in die Schweiz kommt, wird er sich wohl kaum beengt fühlen. Viele putzige kleine Häuschen, das höchste Hochhaus mickrige 178 Meter, reichlich Seen und Grünflächen, und nicht zu vergessen die Alpen, die Jurakette: in der Wahrnehmung eines Grossstädters wohl eher eine ländliche Stadt als ein überbautes Land. Kommt aber jemand aus den Pampas von Chile oder den Wäldern Kanadas in die Schweiz, dann ist der Schock programmiert: vom Boden- bis zum Genfersee eine einzige Betonüberbauung. Und von den Menschenmassen, die darin herumwuseln, wird sich jeder Landbewohner aus Chile oder Kanada zwangsläufig erdrückt fühlen. Zustandsbeschreibungen wie “eng” oder “weit” sind relativ. Die Frage ist ja immer: verglichen womit? An welcher Vergleichsgrösse ist die Zustandsbeschreibung festzumachen? An früher? Nein, früher war früher. Und heute ist heute. Es gibt kein Zurück. Wer etwas Verlorenes zurückhaben möchte, steht argumentativ auf verlorenem Posten: seine Vergleichsgrösse (“Die gute alte Zeit”) beruht auf etwas, das durch das unausgesetzte Entschwinden der Gegenwart immer schon relativiert gewesen ist. Die schlauen Köpfe von Operation Libero haben das erkannt, ziehen aber sehr einseitige Konsequenzen daraus. Gewieft nutzen sie den Relativismus, um die "Dichtestress-Argumentation" als subjektiven Unsinn zu entlarven. Um dem Stimmvolk die Vision einer EU-kompatiblen Schweiz zu verkaufen, stossen sie jede Richtgrösse um, hinter der man eine subjektive Empfindlichkeit vermuten könnte. Die einzige Richtgrösse, die sie gelten lassen, ist die Maxime des neo-ökonomischen Fortschritts. Den relativieren sie natürlich nicht. Dabei müssten doch beide Wahrnehmungen als selektiv erkannt werden! Man kann die Zukunft oder die Vergangenheit verklären: in beiden Fällen setzt man eine ideologische Richtschnur an. Und in beiden Fällen glaubt man an eine "höhere" Notwendigkeit. Das tut nicht nur der Rechtskonservative, wenn er seine politische Agenda mit einer mythischen Vergangenheit rechtfertigt, die Schlacht von Morgarten mit EU-Kritik vermischt oder den Landvogt Gessler mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. In das gleiche Denken verfällt auch der fortschrittlichste Liberalist. In seiner Fortschrittsperspektive erscheint die Wirtschaft als eine Art Naturmacht, die weder gesteuert noch gebremst und schon gar nicht angehalten werden kann. Die Menschen müssen tun, was die Wirtschaft von ihnen verlangt, nicht etwa umgekehrt. Auch hier erscheint eine "höhere" Notwendigkeit, auch hier haben die Menschen zu begreifen, dass ihre Entscheidungsfreiheit beschränkt ist. Sie ist durch den Markt determiniert, durch eine marktkonforme Zukunftsgläubigkeit. Wer ökonomisch denkt, denkt zukunftsgerichtet, im ständigen Maximierungsmodus. Der Liberale predigt nicht Freiheit, sondern Notwendigkeit; für ihn ist die Zukunft genauso fixiert und handlungsbestimmend wie die Vergangenheit für den Rechtskonservativen. Und aus diesem zukunftsgläubigen Wirtschaftsautomatismus, der die Menschen entweder mitzieht oder abhängt, geht eine potentiell unendliche Progression hervor. Damit die Motoren brummen, damit Migros, Coop, die Bauwirtschaft, die Versicherungen, die Banken, die Unternehmer und Wohneigentümer weiterhin ihre Rentiten einstreichen können, braucht es unausgesetzt Nachschub, braucht es Menschen, die konsumieren und Wohnungen mieten, immer mehr Menschen, die konsumieren und Wohnungen mieten, braucht es infolgedessen auch Ressourcen, Infrastrukturen und Platz, braucht es immer mehr und immer mehr von allem. Für jeden Menschen, der sich hier niederlässt, braucht es zwei bis drei oder vielleicht sogar zehn Nachzügler, damit dessen Spitalbetreuung, Sozialversorgung, Einkaufsmöglichkeit, Fahrmöglichkeit, AHV-Deckung etc. sichergestellt ist. Diese ins Unendliche angelegte Progression ist Teil der neoliberalen Ideologie, mit der Operation Libero gegen die "stockkonservative" SVP ins Feld zieht. Fragt sich, ob man hier nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreibt. Und ob das nicht ein Kampf der Halbschlauen gegen die Halbdummen ist.

 

Wozu studiert man eigentlich Ökonomie? Der Wirtschaftsfachmann von Operation Libero, Ivo Scherrer, 26-jährig, angehender Ökonom, ein Typ, der "mit wehenden Fahnen in die Zukunft zieht" (nachzulesen auf der Website von Operation Libero), hat sich wahrscheinlich in seinen vielen wehenden Fahnen ein bisschen verheddert. Die Zuwanderung, die er mit wehenden Fahnen verteidigt, treibt das ganze Land in eine absurde Hypertrophie. Läuft der Zustrom ungehindert weiter, leben in 70 Jahren ungefähr 32 Millionen Menschen in der Schweiz. Ich hoffe, dass Ivo Scherrer ein langes Leben beschieden ist, damit er das noch erleben darf: dieses Gewusel und Gewimmel von Menschen auf kleinstem Raum. Die ganze Schweiz ein einziges Tokio, wo die Menschen ein Nümmerchen ziehen müssen, wenn sie aufs WC wollen, und wie Sardinen übereinander gestapelt werden, wenn sie sich schlafen legen. In dieser Entwicklung ein Wirtschaftswunder zu sehen, grenzt schon fast an Schwachsinn. Symptomatisch und für jeden sicht- und nachvollziehbar ist die neo-ökonomische Bauwut: pro Sekunde verschwindet in der Schweiz mehr als ein halber Quadratmeter unter Asphalt und Beton. Pro Sekunde! Für die sprachgewandten Studenten von Operation Libero eine reine Formulierungsfrage. Anstatt von “Masslosigkeit” reden sie lieber von “Prosperität”. Das klingt nach Füllhorn, das klingt gut. Der angehende Ökonom Ivo Scherrer hat zumindest die Grundregel der Ökonomie einigermassen begriffen: wenn es von etwas zu viel gibt, ist das meistens positiv. Wenn es von etwas zu wenig gibt, liegt meistens ein Mangel vor. Das entspricht auch unserer Alltagserfahrung. Ein Blick in den Kühlschrank genügt, um die ökonomische Grundregel zu begreifen. Kühlschrank voll: gut. Kühlschrank leer: schlecht. So erklärt man es dem Kinde. Und so erklärt es uns Operation Libero.

 

Eine Schweiz mit unlimitierter Zuwanderung soll das "Chancenland des 21. Jahrhunderts" sein. Die Träume von Operation Libero kann man natürlich aus platztechnischen Gründen zurückweisen. Doch lassen wir die "Dichtestress-Argumentation" mal beiseite. Wie gesagt, sie kann leicht ad absurdum geführt werden. Ausserdem ist ein gewisses Mass an Zuwanderung vielleicht sogar nötig, um einer Gesellschaft frische Kräfte zuzuführen. Man kann das mit einer Bluttransfusion vergleichen. Wenn man Zuwanderung als "kulturelle Bereicherung" definiert und nebst dem Platzproblem auch noch den wirtschaftspolitischen Hintergrund ausblendet, die Ausbeutung durch Billigarbeit und Entwurzelung, könnte man durchaus zur Überzeugung gelangen, dass an diesen Träumen etwas dran sei. Eine heterogene Gesellschaft hat zweifellos ihre Stärken. Und sie hat auch ihre Annehmlichkeiten: chinesisches Essen zum Beispiel. Doch Operation Libero hat eigentlich etwas ganz anderes im Auge. Ziemlich offensichtlich soll hier Heterogenität als Aushängeschild für eine Utopie herhalten, die mit Heterogenität nicht mehr allzu viel zu tun hat. Operation Libero geht es nämlich nicht um ein Jekami-Spiel, nicht um Vielfalt, die auch Unterprivilegierung und Armut einschliessen würde, sondern um Exklusivität, einen Club der Erwählten. Ivo Scherrer nennt seine international durchmischte Traumschweiz “das liberalste Land der Welt” und malt sich - den Blick visionär ins Weite gerichtet - ein “Zukunfslabor für Denker, Tüftler und Forscher” aus. (Tagesanzeiger vom 14.10.2014) Freie Bahn für die Intelligenz! Eine Gelehrtenrepublik wie bei Arno Schmidt: the International Republic for Artists und Scientists. Ich persönlich stelle mir diese Republik als eine Art Elfenbeinturm vor. Unzählige Billigarbeiter haben ihn erbaut, lackiert, gepützelt und verglast. Und zuoberst auf der zart begrünten Aussichtsplattform versammeln sich die weissgewandeten, hightech-versierten “Denker, Tüftler und Forscher”, um ihre Freiluft-Symposien abzuhalten, ihre Freiluft-Gedanken auszutauschen, ihre Freiluft-Erfindungen vorzuführen und ihre Freiluft-Theorien vorzutragen. Fraglich ist, ob diese selbstvergessenen Menschheitsbeglücker die von ihnen beglückte Menschheit überhaupt je zu Gesicht bekommen: die normalen Büezer und Taglöhner, die sich dumm und dämlich krümmenden und schuftenden Menschenmassen, die diesen Turm erbaut haben und täglich den Kaviar hinaufschicken, an dem man sich oben delektiert. Was sich nach "Metropolis" oder Huxleys "Schöner neuer Welt" anhört, ist in gewissen Gegenden der Welt schon lange Wirklichkeit. Wieso wandert Ivo Scherrer nicht nach Dubai oder Katar aus? Dort fände er genau das vor, wovon er in seiner kleinen Studentenbude wahrscheinlich immer dann zu träumen beginnt, wenn er wieder einmal den Abwasch machen oder den Müll raustragen muss: Millionen fremdimportierter Arbeitssklaven bauen unter erbärmlichsten Bedingungen luxuriöse Kongresshallen für zukünftige "Denker, Tüftler und Forscher", und einer von ihnen könnte Ivo Scherrer sein! Über Freiheit, Chancengleichheit, Gerechtigkeit und Wohlstand lässt sich trefflich diskutieren, wenn man hochwertigen Kaviar (800 Euro pro Kilogramm) schlürfen darf. Und wenn man weder den Müll raustragen noch den Abwasch machen muss. Doch ich möchte fair sein. Ich unterstelle Ivo Scherrer nicht, dass er seine Zukunftsvision so meint, wie ich sie hier auslege. Ich überzeichne, um deutlich zu machen, wo der Schwachpunkt liegt. Und ich erlaube mir die Frage, ob die Vision einer von jeglicher Erdenschwere befreiten Elite nicht genau die Art von Eigendünkel offenbart, die eher das Problem als die Lösung ist. Was bringt ein Problemlösungsverein, wenn er selber das Problem ist?

 

Operation Libero ist angetreten, um die SVP in die Schranken zu weisen. Man kann die SVP kritisieren. Man kann sie schlecht finden. Kein Problem. Doch eines muss man ihr lassen: in Bezug auf aussenpolitische Themen hat sie schon immer den richtigen Riecher bewiesen. Es ist gut möglich, dass Blocher in einer grösseren Perspektive - in der Wahrnehmung zukünftiger Historiker - als derjenige dastehen wird, der die Schweiz gerettet hat. Die Monstrosität einer zentralistisch aufgeblähten, machtpolitisch hoffnungslos überdehnten Europäischen Union, die ihren bürokratischen Feudal-Sozialismus ausschliesslich dazu benutzt, um Banken und Grosskonzerne zu schützen und die kleinen Leute zu enteignen, hat Blocher schon vor über zwanzig Jahren vorausgesagt. Wenn das nicht weitsichtig ist, dann weiss ich auch nicht. Kein einziger Linker (nicht einmal Jean Ziegler) hat einen derartigen Weitblick bewiesen. Und was die Freisinnigen betrifft: bei denen war schon immer Hopfen und Malz verloren. Ich kann mich noch gut an die bundesrätliche Drohkulisse vor der EWR-Abstimmung erinnern. Falls die Schweiz das EWR-Abkommen nicht ratifizieren würde, so unkte damals Bundesrat Delamuraz (FDP) vor versammelter Presse, sei es um die Zukunft der Schweizer Jugend geschehen. Ende Feuer! Das war 1992, und die Schweizer Jugend (ich kann es bezeugen!) hatte es in den Neunzigerjahren recht gut. Es war ein goldenes Jahrzehnt mit endlosen Partys, sicheren Jobs und einem angenehmen gesellschaftlichen Klima. Ohne die Knebelungen der EWR-Regularien fuhr die Schweiz anscheinend gar nicht so schlecht. Doch im Jahr 2002 zog sich die Schlinge zu. Das Imperium schlug zurück. Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit setzte ein spürbarer Wandel ein. Die Arbeitnehmer gerieten immer stärker unter Druck. Die Lebenshaltungskosten (Krankenkassen etc.) stiegen rasant, während die meisten Durchschnittslöhne auf dem Niveau der Neunzigerjahre verharrten. Aber schlimmer noch: die steigende Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt machte sich vor allem dort bemerkbar, wo man infolge von Automation und Digitalisierung ohnehin schon zu kämpfen hatte, während sich die Aktionäre und Superreichen die Hände rieben und den neoliberal korrumpierten Sozis zum gelungenen Demokratieabbau gratulierten. So hat man das supranationale Wirtschaftsdiktat doch noch durchgewunken. Und noch immer wird mit allen Mitteln, wenn auch grösstenteils verdeckt, darauf hingearbeitet, die staatliche Souveränität zugunsten internationaler Multis und Regulierungsbehörden an den Nagel zu hängen. In diese Richtung zielt nun auch Operation Libero. Weil es hier grundsätzlich und jederzeit gegen die SVP geht, den unersetzlichen Lieblingsfeind aller weltoffenen Schweizer, ist es den Liberas und Liberos selbstverständlich nicht sehr genehm, wenn die Globalisierung mit all ihren supranationalen Fallstricken und Demokratiedefiziten in den Fokus gerät. Man könnte ja noch dem Feind in die Hände spielen!

  

Die Vision einer besseren Schweiz verknüpft Operation Libero mit dem Hochglanzbild des rundum selbstermächtigten Individuums, das seine Entscheidungsfreiheit quasi aus dem Hut zaubert. Die Bedingungen und Einschränkungen dieser Entscheidungsfreiheit werden überhaupt nicht reflektiert. Hier liegt der blinde Fleck, der das radikal-liberale Weltbild schon immer zu einer Lebenslüge gemacht hat. Die Entscheidungsfreiheit ist nämlich kein Apriori. Sie ist nicht voraussetzungslos. Begriffe wie "fairer Wettbewerb", "Selbstverantwortung" und "Talent und Fleiss" speisen die neoliberale Fiktion des autonomen Individuums und entlarven sich dann eben doch als Formeln einer brutalen Marktideologie. Das autonome Individuum fällt nicht einfach vom Himmel. Es entsteht durch Privilegierung. "Selbstverantwortung" muss man sich finanziell leisten können. Und mit ähnlichen Denkfehlern geht es dann weiter. Der "faire Wettbewerb" ist so etwas wie ein schwarzer Schimmel. Bei jedem Wettbewerb bleiben Menschen auf der Strecke, denen es eigentlich egal ist, ob sie fair oder unfair ausgebootet worden sind. Und ob sich "Talent und Fleiss" in dem von Operation Libero begrüssten Wirtschaftsumfeld nomadisierender Arbeitskräfte (Praktikantenausnützerei, Billiglohnjobs etc.) auszahlen, ist sowieso fraglich. Was sich in diesem Umfeld hingegen sehr wohl auszahlt, ist ein reiches Elternhaus. Und - last, but not least - die Anbiederung an elitäre Machtinteressen. Operation Libero verkauft sich sehr geschickt. Flavia Kleiner, die Präsidentin von Operation Libero, setzt sich telegen in Szene, macht sich lieb Kind bei den Mächtigen und sichert sich deren Applaus. Dass sie die öffentliche Präsenz dazu benutzt, neoliberalen Bullshit zu verzapfen: wen interessiert's? Flavia Kleiner sieht blendend aus. Und sie hat Charisma. Das ist letztlich der Eindruck, der hängenbleibt. Operation Libero verkennt nicht nur den Stellenwert des Individuums, sondern auch die Funktion des Staates. Ihm wird die Rolle des Platzwartes zugewiesen. Als ob die Entstehung des Nationalstaats nicht auch ein Emanzipationsprojekt gewesen wäre! Ein Kampf um Selbstbestimmung gegen Machteinflüsse von aussen. So weit geht das historische Bewusstsein bei Operation Libero leider nicht. In trottelig-gutgläubiger Manier überlässt man das Feld den skrupellosesten Wirtschaftsmächten, denen sich ein auf Regulierungs- und Verwaltungsmechanismen reduzierter Staat zwangsläufig unterwerfen muss. Damit negiert Operation Libero Denkansätze, die man in einem akademischen Umfeld eigentlich erwarten dürfte. Liest man dort überhaupt noch Adorno, Horkheimer und Marx? Oder liest man dort nur noch Adam Smith und Friedrich Hayek? Oder lesen die Studenten nur noch Tweets, weil sie sich damit besser auf eine Karriere vorbereiten können? Es findet überhaupt keine Distanzierung zu den bestehenden Machtverhältnissen statt. Das fängt schon damit an, dass diese Jungliberalen die politischen Rahmenbedingungen, die das sozialdarwinistische Ungleichheitsprinzip des Neoliberalismus flankieren und abstützen, als "Chancengleichheit" anpreisen. Ein Trugschluss. Man setzt auf Eigeninitiative und Eigenverantwortung, verkennt aber die spezifischen Begünstigungen und Protektionen, ohne die ein Mensch, der sich eigenverantwortlich nach oben kämpfen will, ziemlich schnell auf der Nase landet - oder im Gefängnis. Der liberale Traum von der "Tellerwäscher-Karriere" ist ein Trugbild. Ein Alibi. Realitätsferner denn je. Operation Libero will eine Schweiz, "in der Leistung zählt, nicht Herkunft". Was sagt man dazu? Sauber gescheitelte Studis in teuren Markenklamotten belehren uns darüber, dass die Leistung zählen soll und nicht die Herkunft. Vielen Dank für die Aufklärung! Und herzliche Grüsse an den zahlungskräftigen Herrn Papa! Der Anteil der Studierenden, bei denen nicht mindestens ein Elternteil über einen höheren Abschluss verfügt, beläuft sich gerade mal auf 9 Prozent. Nach wie vor entscheidet die finanzielle und soziale Situation des Elternhauses, was aus dem Sprössling wird. Im 21. Jahrhundert ist das kaum anders als früher, eher noch ausgeprägter. Warum nur kaufe ich diesen Jungliberalen die egalitäre Floskel von der "Chancengleichheit" nicht ab? Ganz einfach: weil die meisten Studenten - vor allem solche wie bei Operation Libero, die neben dem Studium noch Zeit haben für ein politisches Engagement - die Existenznöte des unteren Mittelstandes nur vom Hörensagen kennen, wenn überhaupt. Hier wird mitnichten für Chancengleichheit gekämpft. Ein 26-jähriger Student aus gutem Hause hat von der Globalisierung wenig zu befürchten - und von der Personenfreizügigkeit erst recht nicht. Von ihr kann er nur profitieren. Die EU gibt ihm alle Mittel und Möglichkeiten an die Hand, voranzukommen. Sein Marktwert ist gesichert, der Armutsfalle entgeht er locker, und das kann man ihm auch nicht zum Vorwurf machen. Dass er gute Chancen hat, in der heutigen Arbeitswelt Fuss zu fassen, zum Topverdiener aufzusteigen und ein menschenwürdiges Leben zu führen, sei ihm gegönnt. Wenn man aber sieht, wie sich diese Studenten - gebildete Menschen mit einem reflektierten Zugang zum Weltgeschehen - um die elementaren politischen und sozialen Fehlentwicklungen unserer Zeit herumfoutieren, muss man die Tonart dann doch ein bisschen verschärfen. Flavia Kleiner, Ivo Scherrer und ihre Mitstreiter spielen sich als zukünftige Problemlöser auf, wischen aber im Hier und Heute die drängendsten und unausweichlichsten Probleme bedenkenlos unter den Teppich. Wenn das unsere zukünftige Elite sein soll, dann wünsche ich jetzt schon gute Nacht.

 

 

 

 

Oktober, 2014