Über Mozart steigt man nicht!

Konrad Rich bezeichnet sich als "Mozart-Spinner". Im Dachstock seines Hauses hat er ein Mozart-Kabinett eingerichtet, und regelmässig pilgert er an Mozarts Grabstätte. Dabei setzt er sich über viele bildungsbürgerliche Konventionen hinweg. Seine Mozart-Liebe inszeniert er ganz im Sinne des grossen Komponisten: unterhaltsam und exzentrisch.

 

Das Mozartjahr 2006. Von Salzburg und Wien aus verbreitet sich das Fieber über die ganze Welt und erreicht auch das Obere Baselbiet. Zwischen Grümpelturnieren und Vogelexkursionen, Töpfereiausstellungen und Seniorenabenden berichtet die dortige Lokalpresse auf einmal fieberhaft über Mozart. Artikel erscheint auf Artikel, und alle diese Artikel tragen eine unverwechselbare Handschrift. Da schreibt einer aus Passion und mit stupender Sachkenntnis über Wien und Wiens grössten Komponisten und präsentiert seine Kurzreportagen in der Pose eines Impresarios, der eine Varieténummer mit dressierten Katzen ankündigt. „Mozart in Wien“, „Das Griechenbeisl“, „Musikstadt Wien“, „Strassenmusikanten in meinem Himmel“... 

Konrad Rich, pensionierter Realschullehrer, gebürtiger Solothurner, seit 41 Jahren ansässig in Gelterkinden, Baselland, verheiratet, drei erwachsene Kinder, zwei Grosskinder, Gelegenheitsschreiber, Hobby- Photograph, Kulturreisender, anerkannter Mozart-Experte, spielt auf einer umfangreichen Klaviatur. Auf die Frage nach seiner liebsten Selbstbezeichnung antwortet er kurz und bündig: „Ich bin ein Mozart- Spinner.“ Die Beschäftigung mit Mozart hat er sich zur Lebensaufgabe gemacht, dergestalt, dass er keine Gelegenheit auslässt, das Andenken an den grossen Komponisten öffentlich und manchmal überaus spektakulär in Szene zu setzen. Anlässlich des Mozartjahrs 2006 hat er den Gelterkinder Park in einen Köchel-Verzeichnis-Park umgewandelt, an jedem Baum eine Hörstation, Mozart-Beschallung fast rund um die Uhr. Aber nicht genug damit: in allen Altersheimen der Region hat er – teils mit musikalischer Begleitung – Vorträge gehalten, keine trockenen Referate, sondern blumig ausgeschmückte Elogen. „Mozart, der Chefkomponist des lieben Gottes...“ Wie ein Conférencier wickelt er sein Publikum um den Finger. Konrad Rich ist ein Showman. Und er ist ein Missionar. Was immer er anrührt und anregt, es geht um Mozart. Auch privat. Mindestens viermal jährlich reist er nach Wien, um Mozarts Grab zu pflegen, und im Dachstock seines Hauses hat er ein Mozart-Kabinett eingerichtet, sein privates Mozartzimmer, das aber auch öffentlich ist. Inmitten von Mozart-Devotionalien und Konzertpostern können interessierte Besucher in die glitzernd-heitere Welt der Wiener Klassik eintauchen. Ist Konrad Rich wirklich ein Spinner? Sogar das Fernsehen hat sich mit ihm beschäftigt. In einem auf „Arte“ ausgestrahlten Film ist er als “Mozart-Spinner” porträtiert worden, und seine angebliche Spinnerei ist für „Arte“ genau das Richtige gewesen. Sie ist von gehobener Art. Konrad Rich ist ein wandelndes Ereignis, kein Spinner eigentlich, seine Verrücktheit hält er souverän in Schach. Mit Witz, Spleen und Originalität pflegt er jene idealistische Kunst- und Menschenliebe, die er in der Wiener Klassik und besonders in Mozarts Musik verwirklicht sieht. Ein lichtvolles Ideal, ein immenses Wissen, eine sympathische Kauzigkeit und nicht zuletzt ein Idol, das die Menschen seit über 200 Jahren in Bann schlägt: das alles interessiert mich. Ich möchte das Mozart-Kabinett besichtigen - und mit Konrad Rich ein Gespräch führen. Ich setze mich mit ihm in Verbindung. Ich habe Glück. Soeben ist er aus Wien zurückgekehrt. Zwar bin ich kein Mozart-Fan – bei Musik lege ich mich überhaupt sehr ungern fest – aber da ich einmal Klarinette gespielt habe, ist mein Verhältnis zu Mozart ein ziemlich direktes. Er hat mich oft ins Schwitzen gebracht. Den Schwierigkeitsgrad seiner Kompositionen (ach, das Kegelduett!) unterschätzt man gerne, und die Klarinette war Mozarts Hätschelkind. Dementsprechend gross ist die Verantwortung, die man als Klarinettist Mozart gegenüber hat. Das weiss ich aus Erfahrung. Aber weiss ich auch genug über Mozarts Leben, um mir keine Blösse geben zu müssen? Manches weiss ich noch vom Gymnasium her. Wir hatten dort einen mozartbegeisterten Musiktheorielehrer, der hiess Häusler, Doktor Häusler. Mit ihm zusammen haben wir die "Kleine Nachtmusik" auseinandergenommen, Takt für Takt und Note für Note, und er wurde nicht müde, uns zu erklären, dass Mozart nicht als Wunderkind in die Musikgeschichte eingegangen sei. Nein, seine Bedeutung habe er sich hart erarbeiten müssen... Das hat unser Lehrer völlig richtig gesehen, und ich bin ihm dankbar, dass er uns diesbezüglich reinen Wein eingeschenkt hat. Nicht nur weil es pädagogisch sinnvoll ist, Willensstärke, Ausdauer und Fleiss über die angeborene Begabung zu stellen, sondern auch weil man sich die Beschäftigung mit Mozart von vornherein verbaut, wenn man ihn in Hochglanzpapier einpackt und so tut, als wäre sein ganzes Werk ein Gottesgeschenk. Die Geschichte vom putzig puppenlustigen Salon-Äffchen, das mit verbundenen Augen und erstaunlich kleinen Fingerchen auf den Klaviertasten herumflitzt, ist im Hinblick auf Mozarts Musik eher hinderlich. Das dressierte Wunderkind überstrahlt den Komponisten zu Unrecht - heute nicht weniger als zu Mozarts Lebzeiten. Bei entsprechendem Drill kann aus einem Wunderkind ein grosser Virtuose werden; doch selten genug ist das mit einer eigenständigen schöpferischen Leistung verbunden. 

Wenn man sich mit Mozart beschäftigt, muss man sich mit vielen falschen Vorstellungen und hartnäckigen Klischees herumschlagen. Vielleicht ist es das, was mich an Mozart ein bisschen abschreckt. Zur Vorbereitung auf mein Gespräch lese ich ein paar Mozart-Biografien, und um mich in die richtige Gefühlslage zu bringen, spiele ich dazu querbeet einige Mozart-Werke ab. Wahrscheinlich geht es nicht nur mir so: für diese Musik braucht es keine Eingewöhnung. Sie ist einem sofort vertraut. Als wäre irgendetwas im Gehirn von Geburt an auf Mozart konditioniert. Hört man sich aber gewisse Werke etwas länger und intensiver an, bleibt man an gewissen Stellen hängen. Es sind Stellen, von denen etwas ganz und gar Unvertrautes ausgeht. Etwas Magisches, Irritierendes. Besonders intensiv erlebe ich das bei der Jupiter-Symphonie. Im letzten Satz gibt es so etwas wie eine übergeneigte Kurve: so nennt man bei Achterbahnen eine Querneigung der Schienen von über 90 Grad. Hier, in dieser musikalischen Querneigung, springen die Akkorde fast aus dem Gleis. Die ganze Harmonik scheint sich in eine andere Sphäre hineinzuwuchten. Einige Takte lang denkt man an Strawinsky oder Edgar Varese. Man traut seinen Ohren kaum. Das klingt ja haarsträubend modern! Aber dann ist es halt doch wieder Mozart, und die Harmonik, die im Überschwang ihres Ideenreichtums eine völlig abgedrehte Richtung genommen hat, kehrt wie durch Zauberei, wie schlafwandlerisch in das beschwingte Gefüge der Symphonie zurück. Solche Ausbrüche oder Kippmomente sind das, was mich an Mozart am meisten fasziniert. Hier finde ich sozusagen das Mozart-Konzentrat. Jetzt, im Vorlauf meiner Reportage, merke ich wieder einmal, wie grossartig das ist. Und wie sehr man sich auf diesen Komponisten einlassen muss, um es überhaupt erleben zu können. Die Vertrautheit, die sich bei Mozart immer wieder einstellt, kann sich als trügerisch erweisen. Gerade das gefällt mir. Vielleicht werde ich ja doch noch ein Mozart-Fan. Immerhin habe ich jetzt eine Mozart-Symphonie, die ich nennen könnte, falls mich Konrad Rich nach meinem ganz persönlichen Mozart-Highlight fragt. Bleibt nur noch die Köchelverzeichnis-Nummer. Die muss ich mir natürlich merken. Ich will mir keine Blösse geben. 

„Nur bitte ich dich mein lieber Wolfgang keinen Excess zu machen, und dich vor hitzigem Getränk zu hüten. Die starken Weine, und vieles Weintrincken ist dir also schädlich.“ (Leopold Mozart an seinen Sohn, 1777) 

Als er die Tür öffnet, flimmert in der Stube noch der Fernseher. Die Abendnachrichten sind fast vorüber, es ist Viertel vor acht. Die Schuhe darf ich anbehalten, er besteht sogar darauf. Er schaltet den Fernseher aus und bittet mich an den Stubentisch. Da stehen zwei Gläser und eine Flasche Solothurner Weisswein. Ich stelle meine Tasche ab und setze mich hin. Noch ehe ich mein Diktaphon eingeschaltet habe, beginnt Konrad Rich mit der Einleitung, das didaktisch Wohlgefällige liegt ihm im Blut: er ist 35 Jahre lang Lehrer gewesen, auf Überraschungseffekte versteht er sich. Er betätigt einen Kassettenrecorder, und auf einmal höre ich seine Stimme ab Band, er spricht am Radio, es ist das Klassiktelefon auf DRS 2, und ich höre, wie sich Konrad Rich mit einer durch das Telefon geringfügig veränderten Stimme die Auftrittsarie des Papageno aus der Zauberflöte wünscht. „Mit Mozartlichen Grüssen.“ Die Arie erklingt. „Der Vogelfänger bin ich ja...“ Entspannt lehne ich mich zurück. Die Arie ist ein Gassenhauer, scherzhaft und doch auch besänftigend, etwas ganz anderes als die Jupiter-Symphonie: hier wird kein Himmel gestürmt, keine schwindelerregende Klangarchitektur errichtet, hier hat man eher den Spieldosen-Mozart. Alles konzentriert sich auf die Melodie. Diese Einfachheit! Auch das hat etwas an sich. Ja was bloss? Man kann es nicht definieren. Man kommt dem Geheimnis nicht auf die Spur. Seit Jahrhunderten wird über Mozart geschrieben und gerätselt. Wer war dieser Mozart? „Der ewig Schweigende“, heisst es bei Hildesheimer. Eine Rätselgestalt, ein Vexierbild. Konrad Richs Mozart-Begeisterung, das wird mir sehr schnell klar, kommt aus einer anderen Quelle. Es ist nicht das Geheimnis, was ihn an Mozart fasziniert, es ist die Unmittelbarkeit. Bezeichnenderweise hält er mir keinen einführenden Vortrag, sondern drückt einfach auf einen Knopf, und schon ist es da. Darum geht es. Mozart ist präsent, sobald seine Musik erklingt. Konrad Rich sitzt da wie verzaubert. Für ihn ist Mozart so etwas wie ein guter Freund, ein spezieller Freund freilich, Konrad Rich verehrt ihn genauso ungezwungen, wie die alten Römer ihre Hausgötter verehrt haben. Es geht um eine Präsenz, die ihm lieb und wichtig ist, die ständig um ihn herum ist. Purismus und übertriebene Ehrfurcht kennt er nicht, eine gewisse Selbstironie, wie auch Mozart sie gepflegt hat, zumindest in seinen Briefen, hingegen schon. Auf dem Tischtuch liegen zwei Papierservietten mit einem süsslichen Mozart-Konterfei. Mozart für den Gelegenheitsgebrauch, den Hausgebrauch, umglänzt von Glitter und Lametta. Mozart als Schutzgott des flüchtigen schönen Scheins. Nach Gebrauch zu entsorgen. 

„Der Vogelfänger bin ich ja...“ Konrad Rich sitzt auf seinem Stuhl und dirigiert mit halbgeschlossenen Augen. Ich muss es hier sagen, und es ist nicht abwertend gemeint: Konrad Rich ist ein kleiner Mann. Es würde mich nicht wundern, wenn er, wie Mozart, unter 1.60 wäre. Die Physiognomie ist sehr ausgeprägt, besonders die Nase, die Augäpfel leicht hervortretend; auch in seinem Gesicht könnte man – trotz der altersbedingten Differenz - eine vage Ähnlichkeit mit Mozart erkennen. Ist das abwegig? Erliege ich einer Autosuggestion? Ich weiss es nicht. Mehrmals ertappe ich mich dabei, wie ich zwei Bilder übereinander blende: Mozart und Konrad Rich. Die Ähnlichkeit kann eingebildet sein oder nicht. Aber immer wieder denke ich: das ist Mozart, wie er mit 75 Jahren ausgesehen haben könnte, wäre er so alt geworden. Auch das Fahrige und Unruhige, Eigenschaften Mozarts, die vielfach bezeugt sind, scheint Konrad Rich mit seinem Idol zu teilen. Die Körperhaltung verrät Unruhe, die Hände sprechen vor sich hin, zeigen, unterstreichen, punktieren, dirigieren, schnellen manchmal plötzlich hoch, um ein Ausrufungszeichen oder eine Fermate zu setzen: Gestikulationen eines Menschen, der es gewohnt ist, Schreibstifte und Kreidestücke zu handhaben, Formeln zu verdeutlichen, Mahnungen zu erteilen. 35 Jahre lang, also während genau der Zeitspanne, die Mozarts Leben umfasst, ist Konrad Rich Realschullehrer gewesen. Diese Koinzidenz wird noch verwunderlicher, wenn man den zeitlichen Abstand zu Mozarts Geburts- und Todesjahr betrachtet. 1756 kam Mozart in Salzburg zur Welt. 200 Jahre später, 1956, trat Konrad Rich den Lehrdienst an. 1791 starb Mozart in Wien. 200 Jahre später, 1991, trat Konrad Rich den Ruhestand an. 

Das Lehrersein hat er nie ganz aufgegeben. Er redet mit Bedacht, dozierend, exemplifizierend, er holt aus, ich bin nun seine Schulklasse. Ihm zuzuhören, ist ein Genuss, aber ein Genuss, der anstrengend sein kann. Seine Sprache sagt immer weniger, als sie meint, das liegt an der Mundart. Sein schleppender Solothurner Dialekt erinnert an Peter Bichsel. Und siehe da: die beiden kennen sich. Jahrelang haben sie bei den nichtsonderlich umjubelten Heimspielen des FC Solothurn gemeinsam Fähnchen geschwenkt. Jahrelang haben sie dieselben Beizen besucht. Aber davon wird Konrad Rich erst später erzählen, der Abend ist noch lang, die Weinflasche noch nicht einmal entkorkt. Jetzt spricht er über das Marionettentheater Schloss Schönbrunn. Er habe es (Zeigefinger in der Luft) schon mindestens zwanzig Mal besucht. Zwanzig Mal! Bei fast allen Begebenheiten und Orten, die er schildert, betont er ihre Quantität, wie oft, wie lange, wie hoch, wie breit. Hierin zeigt sich etwas sehr Auffälliges: der ständige Verweis auf Zahlen, auf Grössenverhältnisse, Mengen und Perioden. Die Vorliebe für Repetition, die Reprise, das Wiederholen gleicher oder ähnlicher Vorgänge, das Wiedersehen und Wiederfinden, das Abzählen von Sachen und Orten - bis hin zum Abzählen der Schritte, ein Ritual, in das er mich etwas später noch einweihen wird. 

Bei aller Musikliebe ist Konrad Rich ein hartgesottener Zahlenfreak, er hat die C-Matur gemacht, hat Mathematik unterrichtet, und so weit weg ist das ja nun wirklich nicht. Musik hat viel mit Mathematik zu tun, man denke nur an die ausgeklügelten numerischen Relationen bei Bach, und war Einstein nicht ein hervorragender Musiker? Freilich ist Konrad Rich nicht Musiker geworden. Das Warum erschliesst sich aus seiner Biographie. Abgesehen von einem kurzen Intermezzo in der Jugend, als er sich an der Geige versucht hat, hat er seine musikalische Neigung nie über eine schwelgerische Perzeption hinausgetrieben. Ist das nun Selbstbeschränkung – oder eher das Gegenteil? Mit Perzeption meine ich eine Aufnahmefähigkeit, die nur der Liebhaber aufbringt. Dem Leistungsbeflissenen verweigert sie sich. Wer, professionell oder nicht, Musik macht, in Funktion tritt als ausübender Künstler, muss sich disziplinieren, entwickelt automatisch Ehrgeiz, das Laisser-faire des Liebhabers kommt ihm abhanden. Sehr schnell wird mir klar, dass ich es hier mit einem Liebhaber zu tun habe. Einem Virtuosen der Perzeption. Mozarts Musik ist sein Schwingungsfeld. Natürlich frage ich mich, inwiefern dieses persönliche Schwingungsfeld in ein soziales Schwingungsfeld eingebettet ist. Musik ist ja nicht einfach nur ein freischwebendes Etwas, das uns beglückt oder ärgert, oder besser gesagt: wenn sie das tut, hat das seinen Grund. Musik definiert soziale Zugehörigkeit, bestätigt Gruppen in ihrem Selbstverständnis. Musik als Lebensart, als Haltung, das gibt es nicht erst seit Woodstock. Auch Schubertiaden und Mozart-Festspiele sind Manifestationen einer Lebenshaltung. Auf den ersten Blick könnte man Konrad Rich als typischen Klassikfan einstufen, gepflegte Erscheinung, gebildet, einem festen Kanon an ästhetischen Werten verpflichtet, geschmacklich dem Konventionellen zuneigend, in vielen Einzelheiten (kein Konzert ohne Krawatte!) entspricht er diesem Klischee, obwohl er auch mit ihm spielt, ja es manchmal geradezu unterläuft: Konrad Rich ist auch ein Till Eulenspiegel. Gute klassische Konzerte ja, aber warum nicht auf mehreren Hochzeiten tanzen, wenn doch die Welt so reich und bunt ist? Völlig falsch wäre die Annahme, man würde Konrad Rich nur in feiner Gesellschaft antreffen, auf dem Hochkulturstand sozusagen. Wie Mozart macht er sich gerne lustig über „die da oben“. Die feine Gesellschaft liegt ihm nicht. Nicht ungern mischt er sich unter das Fussvolk. In Wien gibt es kaum eine Beiz, die er noch nicht besucht hat, und es ist wohl kein Zufall, dass ich ihn im „Bären“ in Liestal kennengelernt habe und nicht etwa an einem Mozart-Konzert. Mozart, der seine Konzertpflichten hie und da vernachlässigte, um zu bechern und Karten zu spielen, hätte sich im “Bären” bestimmt wohl gefühlt. Der „Bären“ ist eine rustikale Fressbeiz, warme Küche bis Mitternacht. Man bekommt dort die besten Pilzpastetli und wunderbaren Rehpfeffer, und einmal im Jahr findet ein Lottomatch statt, dann ist Konrad Rich dabei, legt sein Glück in die Waagschale. Nichts – ausser Mozart natürlich – macht ihn glücklicher, als einen Schinken oder einen Salami zu gewinnen. Durch seine originelle und unverblümte Art fällt es ihm leicht, auf Menschen zuzugehen. Oder Ausnahmesituationen zu schaffen, in denen man miteinander ins Gespräch kommt. So hat er schon die erstaunlichsten Kontakte geknüpft. In Wien hat er zum Beispiel den bekannten Zetteldichter Helmut Seethaler kennengelernt. Seethaler bringt an öffentlichen Orten Klebebänder an, die er mit seinen Zettelgedichten versieht. Eine Mischung aus Aktionskunst und Literatur. Seethaler wollte schon lange mal nach Zürich, um dort seine Poesie zu verbreiten. Aber Konrad Rich hat ihm das ausgeredet. „Was willst du in Zürich? Komm doch nach Basel, in die Kulturhauptstadt!“ Wenn Konrad Rich über Kultur spricht, referiert er nicht über grosse Konzerte und grosse Dirigenten. Auf musikalische Ereignisse ersten Ranges bezieht er sich eher beiläufig, fast verschämt. Seine Zuneigung gilt eher dem Kleinen, dem scheinbar Unbedeutenden. In Wien besucht er regelmässig die musikalischen Nebenschauplätze, etwa die belebten Flanierstrecken, wo die Strassenmusikanten spielen, am liebsten aber das Marionettentheater Schloss Schönbrunn: ein Kleinod. Gespielt wird dort hauptsächlich die Zauberflöte, en miniature sozusagen, die Musik kommt ab Band. Konrad Rich ist ein neugieriger Mensch; er hat es sich nicht nehmen lassen, in das Kabäuschen hinter der Bühne hochzusteigen. Stundenlang hat er den Puppenspielern auf die Hände geschaut. Über den Zauber hinter dem Zauber spricht er sehr ausführlich.Eine koordinatorische Meisterleistung, schwärmt er. Wenn man sich die kompolizierten Bewegungsabläufe anschaue, die ein Puppenspieler beherrschen müsse, könne man sich über die Grazie der Marionetten gar nicht genug verwundern. 

Dann redet Konrad Rich über das Klassiktelefon, mit dem er mich in seine Mozart-Verehrung eingeführt hat. Das Klassiktelefon, diese zu Unrecht belächelte Symbiose aus drei verschiedenen Schallereignissen (Musik, Telefon und Radio), benutzt er nicht nur, um seine Mozart-Verehrung öffentlich zu bekunden, sondern auch, um eine spektakuläre Simultanität von Ort, Zeit und Sache zu erzeugen. Wie geht das vor sich? Viermal im Jahr besucht Konrad Rich Mozarts Grab, die zentrale Pilgerstätte. Konrad Rich ist kein Kulturtourist. Über die historische und kuturelle Dimension dieses Ortes erfahre ich wenig von ihm, da wird keinBildungsteppich gewoben, kein Baedeker nacherzählt. Mozart – das ist für Konrad Rich eine Beziehung. Er redet über Mozart wie über eine Privatsache, und so unrecht hat er ja nicht. Es ist sein Mozart, über den er redet, nicht der Mozart von Hinz und Kunz. Was geht uns diese Beziehung eigentlich an? Selbstverständlich gibt es ebenso viele Mozarts, wie es Mozart-Bewunderer gibt, das ist klar, und dennoch muss ich das Relativierende dieser Annahme in Frage stellen. Es gibt auch einen Generalnenner. Mozart ist ein kulturelles Phänomen, das seine besondere Kraft aus einer paradoxen Nicht-Präsenz bezieht. So allgemeingültig das Werk, so unfassbar erscheint der Mensch, der es hervorgebracht hat. Will man die Universalität des Werks aus den Lebensumständen und den mentalen Eigenheiten des Menschen Wolfgang Amadeus Mozart herleiten, sieht man sich vor ein gewaltiges Rätsel gestellt. Die Frage ist nicht: wer war Mozart? An Selbstzeugnissen besteht kein Mangel, Mozart war ein fleissiger Briefeschreiber. Die Frage ist vielmehr: wie hat dieser Mensch Mozart sein können? Wolfgang Hildesheimer hat das Rätsel ebenso scharfsinnig wie ausufernd analysiert. Gelöst hat er es nicht. Persönlichkeit und Werk sind nicht in Übereinstimmung zu bringen. Es sei denn, man bastelt einen Phantasie-Mozart, der das Wunder möglich macht. Der reale Mozart, soweit er sich aus Zeitdokumenten erschliessen lässt, verflüchtigt sich im Bild des oberflächlichen Spassmachers, des Windbeutels. Was fehlt, ist die geistige Statur, die Selbstreflexion, die gefühlsmässige Anbindung an das Werk. Mozart scheint wie hinter seinem eigenen Rücken komponiert zu haben, schlafwandlerisch, rein mechanisch. Wundersam geht es hier zu. Das ganze Werk kreist um einen fehlenden Mittelpunkt. Und jährlich pilgern so und so viele Menschen an ein leeres Grab. Mozarts Leichnam wurde, angeblich aufgrund einer hygienischen Verordnung, entsorgt wie ein Müllsack, niemand weiss, wohin. Doch dann, Schlag auf Schlag, setzt eine Rezeption ein, die in der Musikgeschichte wohl einmalig ist. Gerüchte, Falschmeldungen, Hypothesen und Verschwörungstheorien schiessen ins Kraut und überwuchern die Realität. Aus dem dummfidelen „Hofcompositeur“ wird auf einmal ein tragisches Genie, wenn nicht sogar ein Heiliger. Das leere Grab hat etwas Schauerliches. Und gleichzeitig scheint es auf eine Apotheose hinzudeuten. In jedem Fall verleitet es zu Spinnereien und Spekulationen. Man möchte fassen, was nicht fassbar ist, man umkreist einen Punkt, der nicht fixiert ist, und driftet ab. Gegen derartige Versuchungen scheint Konrad Rich immun zu sein. Seine Spinnerei hat weniger mit dem vergangenen als mit dem gegenwärtigen Mozart zu tun. Über die Umstände von Mozarts Tod verliert er kein einziges Wort. Nichts von Totenkult. Für ihn ist Mozart kein Toter, auch keine historische Figur. Anfangs irritiert mich das, aber dann gewöhne ich mich daran, so wie man sich seit "Jurassic Parc" eigentlich ohne grosse Mühe daran gewöhnt hat, dass es wieder Dinosaurier gibt. Echt aussehende Dinosaurier! Auch bei Mozart kann man feststellen, dass sich seine Existenz gewissermassen virtualisiert hat. Er ist diesseitig verfügbar, er hat eine Adresse, und er beantwortet fleissig Fanpost. Nur einmal im Jahr, nämlich am 5. Dezember um 1 Uhr nachts, reiht sich Konrad Richs Mozart unter die Toten ein. Dann nämlich läuten die Totenglocken. Und das ist der Moment für das Klassiktelefon. Eigens für diesen Zweck hat sich Konrad Rich ein Handy angeschafft. An jedem 5. Dezember um 1 Uhr nachts findet er sich an Mozarts Grab ein, legt eine Rose nieder, zündet eine Kerze an und deponiert auf DRS 2 seinen Musikwunsch. „Mit Mozartlichen Grüssen“. Seine Anrufe sind inzwischen legendär. Für die Kulturredaktoren bei DRS 2 ist Konrad Rich eine Art Hausgespenst. Grinsend zeigt er mir ein Radio-Heftli, in dem er als „militanter Mozart- Verehrer“ erwähnt wird, keine sehr schmeichelhafte Bezeichnung, wie ich finde, und ich sage es ihm auch. Er lacht. In seinen Augen blitzt es lausbübisch. Nachtsüber sei der Friedhof geschlossen, flüstert er. Doch das sei für ihn kein Hindernis. Er könne trotzdem hinein. Die Friedhofsgärtnerin sei ihm wohlgesonnen. Sie lasse immer ein Türchen für ihn offen: sein persönliches Katzentürchen. 

Das Betreten der Grünflächen, Grabstellen und Grüften ist untersagt. Das Lagern auf denselben ist nicht gestattet. Berühren von Grabdenkmälern kann gefährlich sein und ist zu unterlassen. Kinder dürfen nicht auf den Grabdenkmälern herumklettern. Hunde und Fahrräder dürfen in den Friedhof nicht mitgenommen werden. Besuchszeiten April bis August 7h-19h, September 7h-19h, Oktober 7- 17h, ab November bei Einbruch der Dunkelheit. (Informationstafel auf dem Friedhof St. Marx, Wien) 

Immer wieder blättere ich in dem liebevoll gestalteten Photoalbum, das mir Konrad Rich ausgeliehen hat. Seine vielen Besuche auf dem St. Marxer Friedhof sind darin bestens dokumentiert: Begegnungen, Erlebnisse, die besonderen Momente. Da ist zum Beispiel die Friedhofsgärtnerin, Frau Hermine Löff, eine fesche Wienerin, sie passt auf, dass niemand auf den Gräbern herumklettert. Auch zu den Pflanzen schaut sie, der Friedhof gehört nicht nur den Toten und deren Besuchern, sondern auch den Pflanzen. Schneidet jemand aus dem im Frühjahr so üppig blühenden Flieder auch nur ein winziges Büschelchen heraus, ist sie sofort zur Stelle, um das Raubgut zu konfiszieren. Eine Ausnahme macht sie nur bei Konrad Rich. Im April und Mai, wenn die ganze Friedhofsanlage wie unter farbigen Schaum begraben liegt, darf er sich ein Büschelchen abschneiden – mit ausdrücklicher Genehmigung der Frau Hermine Löff. Auf den Photos taucht Frau Hermine Löff immer wieder auf. Sie ist seine Verbündete. Sie schützt ihn vor der gestrengen Friedhofsverwaltung, deren Repräsentantin sie eigentlich ist. Er nennt sie seine Chefin, womit er Bezug nimmt auf eine Zeit, da Frau Hermine Löff, wenn auch nicht offiziell, tatsächlich seine Chefin gewesen ist. Gratisarbeit hat er geleistet: Laubrecheln im Herbst. Auf einigen Photos sieht man, wie er mit Frau Hermine Löff den grossen Kiesweg säubert. (Seine Schwägerin Dorette hat ihm eine Gärtnerschürze geschneidert). Der pensionierte Lehrer als Hilfsarbeiter. Illegal sei das gewesen, erklärt er, die Friedhofsverwaltung, wäre sie informiert gewesen, hätte das missbilligt. Aber die Arbeit habe ihm gutgetan, sie habe ihm Rückhalt gegeben in einer schwierigen Zeit...Und so kommt er auf die "schwierige Zeit" zu sprechen, die grosse Lebenskrise, in der seine Mozart-Mission ihren Anfang genommen hat. 

“Im Jahr 92 quittierte ich den Schuldienst. Es war eine schreckliche Zeit. Ich war sehr niedergeschlagen. Damals fing ich an, regelmässig nach Wien zu reisen. Mindestens vier Mal im Jahr pilgerte ich auf den St. Marxer Friedhof und besuchte Mozarts Grab. In Sichtweite des Grabmals setzte ich mich auf eine Bank. Ich sass stundenlang dort, manchmal tagelang. Es ging mir sehr schlecht. Ich dachte: Wolferl hilf! Wolferl hilf! Doch es passierte nichts. Immer wieder ging ich hin, und es passierte immer noch nichts. Und nach etwa drei Jahren und unzähligen Wien-Besuchen merke ich plötzlich, dass ich Kontakt mit ihm habe. Mozart ist da, und ich kann mit ihm reden! Ich habe das schon vielen Leuten erzählt, und manche lachen dann und zeigen mir den Vogel. Das ist mir egal. Die können denken, was sie wollen. Für mich ist es eine Tatsache, dass ich mit Mozart in Verbindung stehe. Dass ich mit ihm reden kann. Es ist aber nicht so, dass ich seine Stimme akustisch höre. Ich kann das nicht Wort für Wort wiedergeben, was er mir sagt. Ich merke einfach, dass er da ist und redet. Und wenn ich ihm etwas sage, kommt es bei ihm an. Ich habe ihm auch schon Grüsse ausgerichtet." 

Egal, ob man diese Kontaktaufnahme spiritistisch oder psychologisch interpretiert: sie ist eine Tatsache. Mozart hat sich ihm zu erkennen gegeben. Eine echte Berufung. Die exzessive Beschäftigung mit Mozart ist denn auch kaum zu verstehen, wenn man sie nur als Spleen sieht. Man muss sie vor dem Hintergrund einer existentiellen Krise sehen. Vielleicht sogar als Therapie. Diesbezüglich ist Mozart ein gut erforschtes Phänomen, geradezu ein Modellfall. Der französische HNO-Arzt Alfred Tomatis entdeckte in den 1950er-Jahren, dass Mozarts Musik das menschliche Gehirn auf besondere Weise anregt. Seither wird Mozart für alle möglichen musiktherapeutischen Ansätze in Anspruch genommen, so nach dem Muster: wenn die Kühe Mozart hören, geben sie gesündere Milch. Nein, aus der Luft gegriffen ist das sicherlich nicht. Mozart als Psychopharmakon. Die “Kleine Nachtmusik” als Heilmittel gegen Schlaflosigkeit und Depressionen. Warum nicht? Man darf sich nur nicht zu sehr darauf verlassen. Bei Mozart selbst scheint die Wirkung versagt zu haben. Vielleicht war seine Musik der unbewusste Versuch, das innere Chaos zu bemeistern, eine Art Überkompensation, die natürlich nicht als Selbsttherapie taugte, weil sie das Chaos ja brauchte und voraussetzte. Mozarts Krankengeschichte ist ein Kapitel für sich. Ein grosses Kapitel. Nicht nur körperliche Gebrechen machten ihm zu schaffen. Er war dauernd am Limit, hin- und hergeworfen zwischen höchster Euphorie und tiefster Niedergeschlagenheit, zwischen Hypomanie, Paranoia und Zusammenbruch. Ziemlich sicher würde man ihm heute ein gutes Medikament verschreiben. Oder vielleicht würde man ihn in eine Musiktherapie schicken, damit er mit Daumenzimbeln und Mantren seinen Bodyflow verbessern lernen kann. 

Ich blättere weiter, das Photoalbum ist voller Gräber, und alle gruppieren sich um das Zentralgestirn Mozart herum, Hyrtl Jakob, akad. Kupferstecher, gestorben 1868, Entdecker des Mozart-Schädels, Gottlieb Anna, 1774–1856, Sängerin und Schauspielerin, erste Darstellerin der Pamina im “Figaro”, Maximilian Stadler, 1748-1833, vielseitig gebildeter Abbé, hat die Echtheit des Requiems verteidigt, und schliesslich, als Tüpfelchen auf dem i, Joseph Rothmeyer, Mozarts Totengräber, der, als ihn die Witwe Constanze 17 Jahre nach Mozarts Tod nach dem Ruheplatz ihres Mannes fragen wollte, selber auch schon unter der Erde lag, was zu der bekannten Verwirrung führte, denn bis heute ist nicht klar, wo genau in den Schachtgräbern der 3. und 4. Reihe links vom Friedhofskreuz Mozart beigesetzt wurde. Jedes photographierte Grab hat Konrad Rich mit einem schriftlichen Kommentar versehen. Die ganze Mozart-Prominenz des St. Marxer Friedhofs findet sich hier säuberlich inventarisiert. Natürlich sieht man dem Friedhof sein Alter an, fast alle Grabsteine und Grabmäler sind zerfallen und überwuchert. Niemand kümmert sich um sie. Nur zwei Gräber werden regelmässig gepflegt: das Mozart-Grab und das Grab von Madersperger. Mozart und Madersperger, ein kurioses Doppelgespann post mortem. Die beiden scheinen heimliche Schicksalsgenossen zu sein. Josef Madersperger, 1768-1850, der Erfinder der Nähmaschine, starb völlig verarmt und wurde in ein Massengrab geworfen. Umso berühmter ist er heute, Nähmaschinen- Fans aus aller Welt pilgern zu seinem Gedenkstein. Zum Glück gibt es auch noch die Lebenden. Alte Damen zum Beispiel, die täglich auf dem Friedhof spazierengehen und denen sich Konrad Rich anschliesst, um ein bisschen zu plaudern. Zwischen den grauen, weissen und sandgelben Steinen spaziert auch ein freilaufender Pfau herum. Sein Gefieder schillert wie ein Ballkleid. Sicher gibt es auch Singvögel, in den prächtigen Kastanien zum Beispiel, die den Hauptweg säumen, und immer wieder photographiert Konrad Rich die Besucher aus der Schweiz, seine Begleiter, die er in Wien herumführt, seine Frau Erika etwa, seinen Sohn Urs, Freunde, Bekannte, den „Solothurner Heimwehclub“. Solche Aufmärsche mögen vielleicht überraschen angesichts der Tatsache, dass Konrad Rich auf dem Friedhof die stille Zwiesprache mit Mozart sucht, aber Konrad Rich ist kein Einzelgänger, jedenfalls nicht immer, sich selbst ist er nicht genug, rund um “seinen” Mozart knüpft er die vielfältigsten Kontakte. Darin hat er seine Berufung gefunden. Seine Liebe zu Mozart ist öffentlich zugänglich. 

„Darf ich bitten? Da oben wartet Mozart auf uns.“ Vor dem schmalen, spindelförmigen Treppenaufgang zum Mozartzimmer schiebt Konrad Rich einen Vorhang beiseite, um mich vorzulassen. Das überrascht mich. Ich zögere. Die Wände sind mit Plakaten, Affichen, Postkarten, Photographien, Kunstdrucken, Zeitungsausschnitten und Konzertzetteln tapeziert. Ein einziges Thema, unendlich variiert: Wolfgang Amadeus Mozart. Rechts an der Wand einige Stapel grossformatiger Mozart-Bücher. Wie ich erfahre, erfüllen sie einen ganz bestimmten Zweck. Normalerweise muss jeder Gast, bevor er ins Mozartzimmer vorgelassen wird, eine Prüfung ablegen. Es ist eine Art Falle. Bevor der Gast eintrifft, legt Konrad Rich ein Mozart-Buch auf die Treppe. Wenn der Gast stehenbleibt oder einen Schritt um das Buch herummacht, ist das okay, der Gast darf passieren. Einmal aber ist jemand über das Buch hinweggestiegen, – achtlos über Mozart hinweggestiegen! Während Konrad Rich das erzählt, spielt er ein bisschen Oper, macht mir vor, wie er dem Schuldigen den Kopf gewaschen hat. „Raus mit dir! Über Mozart steigt man nicht!“ Insgeheim bin ich froh, dass er mir diese Prüfung erspart hat. Mein Respekt vor Mozart ist zwar gross, nicht aber mein Respekt vor Büchern. 

Das Mozartzimmer. Die Fülle an Mozart-Souvenirs, Mozart- Devotionalien, Mozart-Krimskrams, Mozart-Kramuri (wie man auf gut österreichisch sagen würde) präsentiert sich ebenso geordnet wie bunt. Von überallher lächelt Mozart herab, alles dreht sich um ihn und seine Epoche, diese reich verschnörkelte, zerbrechliche schöne Welt des Wohlklangs und des Savoir vivre, die Wiener Klassik. Selbstverständlich, und es enttäuscht mich fast ein bisschen, obwohl es doch eigentlich logisch ist, gibt es auch Stellen in diesem Zimmer, die vom Mozart-Kult abweichen: Beethoven und Haydn dürfen die Nebenaltäre für sich beanspruchen. Rechts vom Aufgang ein Büchergestell, in den Ausmassen eher bescheiden, ein paar handverlesene Mozart-Titel, Bücher über Wien, auf dem obersten Schaft das Köchelverzeichnis, ein ledergebundenes Monstrum, links davon, gegen das Frontfenster gerückt, ein Schreibtisch, zugedeckt mit Papierstössen, Büchern, Mäppchen, kein Chaos, eher so etwas wie kreative Unordnung oder charmante Nachlässigkeit. Das Mozart- Zimmer sei auch sein Arbeitszimmer, erklärt Konrad Rich, hier schreibe er seine Briefe, er pflege Brieffreundschaften. Und sofort denkt man wieder an Mozart, den manischen Briefeschreiber, den simultan operierenden Viel- und Schnellschreiber, den man sich, versetzt man ihn in die heutige Zeit, mit mindestens einem Handy an jedem Ohr vorstellen müsste, daneben E-Mails tippend, Exzell-Tabellen abrufend, Word-Files öffnend: ein für uns selbstverständliches Multitasking, das Mozarts Fähigkeiten wahrscheinlich voll und ganz entsprochen hätte. Wenn ich sage „uns“, meine ich damit die Generation, die mit Computern aufgewachsen ist, ich gehöre noch knapp dazu. Für Konrad Rich, Jahrgang 1932, ist die Realität keine Computersimulation. Wie die meisten Menschen seiner Generation ist er geprägt durch eine Zeit, in der ein Gegenstand noch etwas galt, ein kaputter Schuh noch geflickt wurde. Die Neuheitssucht der heutigen Jugend – ständig drückt sie auf die Delete-Taste - ist ihm fremd. Das Althergebrachte ist ihm lieb und teuer. Er hantiert mit Sachen, die vieldeutig auf sein Leben verweisen. Diese Sachen verwandeln sich bei ihm in etwas Lebendiges, etwas Gelebtes und Erfülltes. Ob handgefertigte Glitzerobjekte oder Kartonschachteln mit zerknitterten Artikeln, wertvoll sind ihm Sachen, die sich greifen, zählen, abwägen lassen, zu denen man einen konkreten sinnlichen Bezug herstellen kann. Ein bisschen ähnelt sein Zimmer einem Krämerladen. Die Sachen und Sächelchen, die sich hier angesammelt haben, ohne gesammelt worden zu sein, nimmt er gerne in die Hand, es sind Handschmeichler, die ihn zum Erzählen anregen, Erinnerungsstücke, Geschenke und Reminiszenzen. An eine Sammlerbörse gehören sie nicht. Konrad Rich ist kein Sammler, er denkt nicht an die bestmögliche nächste Akquisition, und wenn er irgendwo an der Wand oder auf einem Regal eine Lücke entdeckt, ist das für ihn kein Unglück. Schon öfters hat er Dinge ausgestaubt, aus Platzgründen, wie er sagt. Das Gedächtnis verfährt ähnlich. Man kann nicht alles im Kopf behalten. 

Kaum habe ich mir einen ersten Überblick verschafft, betätigt Konrad Rich einen CD-Player, und ein dunkler, volltönender Gesang durchströmt das Zimmer. Es ist die Sarastro-Arie aus der Zauberflöte. 

In diesen heil’gen Hallen Kennt man die Rache nicht.
– Und ist ein Mensch gefallen; Führt Liebe ihn zur Pflicht. 

Die Sarastro-Arie bezeichnet er als seine Nationalhymne. Als er noch Lehrer gewesen sei, habe er in diesem Zimmer die Schularbeiten korrigiert, und immer habe er dazu die Sarastro-Arie laufen lassen. So habe er sich moralisch über Wasser gehalten. Doch jetzt beginnt die Besichtigung, und sie beginnt sehr unmusikalisch. Auf der Balustrade, die das Zimmer gegen den Treppenaufgang hin abschirmt, finden sich etliche Schachteln mit Mozartkugeln. Den Grossteil der Verpackungen ziert das 1819 gemalte Mozartporträt von Barbara Krafft. Das Bildchen wirkt stereotyp, es suggeriert eine marktgängige Norm. Und tatsächlich, kein Witz: wie rund die Mozartkugeln sein dürfen, schreibt die EU millimetergenau vor. Sie bestimmt das Volumen, die Dichte der Füllung, die Dicke der Kugelbeschichtung, den Durchmesser, den Umfang, das Gewicht und natürlich auch die Kugelkrümmung, die von der Krümmung einer geometrisch exakten Kugel geringfügig abweichen muss, damit das Konfekt nicht allzu normiert wirkt. Die EU ist es auch, die den Erbfolgestreit um die Erfindung des Salzburger Konditormeisters Norbert Fürst geschlichtet hat. 1996 entschied der Oberste Gerichtshof in dritter Instanz, dass das Prädikat „Original Salzburger Mozartkugel“ nur der Firma Fürst zustehe. Bis heute produziert sie ihre Mozartkugeln nach altem Rezept und in Handarbeit. Die von der Firma Mirabell industriell gefertigte Kopie der „Original Salzburger Mozartkugel“ darf immerhin das Prädikat „Echte Salzburger Mozartkugel“ tragen. In der kitschigen Sammlung sind die edel designten Schachteln der Firma Mirabell in der Überzahl. Sie machen sich sehr gut. Und Konrad Rich betont mehrmals, dass es zwar nicht die Originale seien, aber niemand (Zeigefinger in der Luft) könne ihre Echtheit bestreiten... 

„Klein, rasch, beweglich, blöden Auges, eine unansehnliche Figur in grauem Überrock...“ (Ludwig Tieck über sein zufälliges Zusammentreffen mit Mozart in einer Theaterloge. Aus den „Erinnerungen“, erschienen 1855) 

Während Konrad Rich noch die verschiedenen Schachteln und Sorten erläutert, auch Preisvergleiche anstellt, versuche ich irgend etwas herauszugreifen, das unsere Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenken könnte. Ich möchte von diesem Süsswaren-Mozart wegkommen. Ich möchte etwas über den „echten“, den historischen Mozart erfahren. Ich deute auf die gegenüberliegende Wand; fast alle bekannten Mozartporträts sind dort zu sehen, auch das Porträt der Familie Mozart, sehr genrehaft, kleines Hauskonzert unter Vaters Aufsicht, Wolferl und Nannerl einträchtig am Klavier. „Die komplette Familie,“ sage ich, und Konrad Rich hebt sofort den Zeigefinger. „Nein, nicht ganz. Eine wichtige Person fehlt. Seine Cousine, das Bäsle.“ Schon sind wir mitten in einem Thema, das ihn, um es in der Sprache des 18. Jahrhunderts zu sagen, höchlich ergötzt. Grinsend führt er mich zum Büchergestell. „Jetzt muss ich mal etwas vorlesen,“ sagt er und blättert in einem Reclam-Bändchen. Es sind die berühmt- berüchtigten Bäsle-Briefe, die der damals 21jährige an seine Cousine Maria Anna Thekla Mozart geschrieben hat. Konrad Rich pflückt eine Briefstelle heraus, in der Mozart seine Adressatin zu einem "Thun" auffordert, das er scheinbar nicht zu benennen wagt. An anderer Stelle wird er dann aber umso deutlicher: dort ist von Lochbläserei die Rede, von Arschlecken und Finger im Arsch. Ganze Heerscharen von Mozart- Exegeten haben solche Briefstellen schamrot überschlagen - oder als pubertäres Gekritzel abgetan. Inzwischen dürfte man sich mit Mozarts Fäkalerotik versöhnt haben. Durch neuere Forschungen weiss man, dass diese Briefe gar nicht so gemeint waren, wie sie klingen. Zwischen Mozart und seiner Cousine war - nichts. Der ausgiebige Gebrauch von Fäkal- und Genitalausdrücken war in der Familie Mozart völlig normal. Es war eine Art Privat- oder Geheimsprache. Man sagte nicht: "Mir geht es gut." Man sagte: "Heute habe ich leidlich gut geschissen." Durchdrungen von psychologischer Aufklärung, sieht man das ohnedies nicht mehr so eng: wenn ein geistig Grosser herumferkelt, ist das nur die Kehrseite der Medaille. Und dass das idealisierte Mozartbild, das uns Frau Krafft hinterlassen hat, ein bisschen beschmutzt wird, was soll’s? Die meisten Mozart-Bewunderer empfinden das wohl als gerechtfertigt. Konrad Rich hat jedenfalls keine Mühe damit. Sein Mozart darf auch schmutzig sein. Das ist ein Mozart, mit dem wir uns auf Augenhöhe befinden. Niemand von uns hat je eine geniale Symphonie geschrieben, aber alle haben wir uns schon mal am Hintern gekratzt. Da können wir mitreden. Und trotzdem! Es ist es erstaunlich und lässt einen doch irgendwie nicht los, dass ein Komponist, der mit seiner Kunst die höchste Vollendung erreicht hat, intellektuell auf dem Niveau pubertärer Toilettenkritzeleien stehengeblieben sein soll. Diese Diskrepanz empfindet Konrad Rich sehr deutlich, und er versucht sie mir vor Augen zu führen, indem er nachdrücklich auf die Werke verweist, die Mozart bis zu seinem 21sten Lebensjahr geschaffen hat: unglaubliche Werke, und dann diese Briefe! Er verwirft lachend die Hände, er weiss nicht so recht, was er davon halten soll. Einfach unglaublich! Seltsamerweise, und hier zeigt sich wieder einmal, dass zwei Menschen, wenn sie das Gleiche hören, doch nicht das Gleiche hören, ist mein eigenes Erstaunen nicht gar so gross. Und das ist auch kein Wunder. Ich bin vierzig Jahre jünger als Konrad Rich. Meine sprachliche Konditionierung ist eine andere. Ich bin ein Kind der Popkultur. Der Mozart der Bäsle-Briefe schockiert mich nicht, im Gegenteil. Der exaltierte Freak mit verwuschelter Perücke und gepuderter Nase, der Hallodri und Rotzbengel, der sich ein Spässchen daraus macht, die Tonleiter zu furzen, ist mir sehr vertraut. Würde man seine quicklebendigen Briefe an einem Poetry Slam vortragen, nicht als historische Lektüre, sondern im Stil einer Stegreif-Einlage und ohne die Identität des Autors preiszugeben, so käme vermutlich niemand auf die Idee, dass sich hier ein Individuum äussert, das vor über 200 Jahren gelebt hat. Nein, ein Kulturschock ist das nicht. Eher so etwas wie ein Gegenklischee, und als solches inzwischen vielleicht schon ein bisschen überbeansprucht. Falco und Milos Forman haben diesen Mozart populär gemacht, sie haben einen Popstar avant la lettre kreiert. Dem Gipsbüsten-Mozart des 19. Jahrhunderts hat er etwas Entscheidendes voraus. Die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit löst sich auf, sobald man sich eingesteht, dass Mozart nicht nur auf dem Notenpapier komponiert hat. Er war immer und überall Mozart, nicht nur hinter dem Violinschlüssel. Und so hören wir den Mozart-Sound auch in seinen Briefen, die enorm vieltönig und rhythmisch sind, oft lautmalerisch, und was die Ferkeleien und Spässe angeht, so wissen wir nach Dada, Obladi-Oblada, Frank Zappa und Rap, dass Verbalkapriolen keineswegs geistreich sein müssen, um uns zu packen. Frechheit ist etwas Energetisches. Sie funktioniert auch ohne Inhalt. 

Weiter durch das Mozart-Kabinett. In den Sachen, die er mir zeigt, verdinglichen sich Gedanken und Erinnerungen, die immer nur kurz aufblitzen, und so springt er von Punkt zu Punkt, durchwühlt eine Schachtel, öffnet eine Schublade, kurbelt an einer Spieldose, nimmt eine Grusskarte in die Hand, deutet auf ein Plakat. Konrad Rich kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Immer gibt es da noch etwas in dieser Erinnerungskammer, das sich zeigen und erklären lässt, und immer befindet es sich in Griffweite, damit es sich bei Bedarf in eine autobiografische Fussnote verwandeln kann. Tatsächlich spricht Konrad Rich jetzt viel über sich selbst, der historische Mozart rückt beiseite, wir verlieren ihn fast aus den Augen. Die Gegenwart mit ihrem Getümmel verdrängt ihn. Es treten Personen hervor, die sich in Konrad Richs Alltag einmischen. Eine Wiener Künstlerin zum Beispiel, mit der er schon länger in Kontakt steht. Er hat sie durch einen Trick kennengelernt, den er immer wieder anwendet, um mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Der Trick ist so plump, dass er wahrscheinlich tatsächlich funktioniert. Auf der Transalpin-Strecke Zürich-Wien sitzt Konrad Rich meistens in einem Coupé, und immer hat er ein paar Mozart-CDs bei sich, die er mit der verstohlenen Absicht, einer allfällig anwesenden Dame das passende Stichwort zu geben, neben sich auf dem Sitzpolster ausbreitet. Meistens aber ergreift er selber das Wort und fragt die zufällig anwesende Dame mit einem Augenaufschlag aus dem 18. Jahrhundert, ob sie Mozart auch so möge wie er. Oder ob sie eher auf Haydn stehe. Die Wiener Künstlerin – deren Namen er mir freilich verschweigt – hat sich seine etwas umständliche Beredsamkeit anscheinend gerne gefallen lassen. Von ihr stammen die in allen Farben schillernden, handgeschneiderten Mozart-Krawatten, die sich Konrad Rich umbindet, wenn er sich für den feierlichen Anlass eines Mozart-Konzerts zurüstet. Jeder Krawatte trägt eine Nummer aus dem Köchelverzeichnis; so weiss er bei jedem Konzert, welche Krawatte dafür in Frage kommt. Natürlich ist das Köchelverzeichnis nicht vollständig abgedeckt, für dieses Quantum Krawatten wären etliche Kleiderschränke nötig. Aber die Werke, die Konrad Rich besonders am Herzen liegen, wie etwa die Zauberflöte oder die Kleine Nachtmusik, sind nun jederzeit als Accessoires verfügbar und können der üblichen Konzertbekleidung mit ein paar einfachen Handgriffen hinzugefügt werden. Die Künstlerin hat ihm auch ein filigran bemaltes Ei angefertigt, aus dem sich ein linierter Papierstreifen herausziehen lässt. Das Papier ist zum Aufzeichnen von Noten gedacht. Auch schön bemalte Grusskarten hat er von ihr bekommen. Die schönsten er eingerahmt und aufgehängt. Ob sie ihn denn manchmal an ein Mozart-Konzert begleite, frage ich ihn. Er lacht, als sei das nun wirklich das Letzte, was man denken dürfe. „Das würde sie niemals tun,“ sagt er. „Sie hat eigentlich nicht so viel mit Mozart am Hut... Nicht so viel wie Galina.“ – „Wer ist Galina?“ möchte ich wissen. Er deutet auf ein Plakat, auf dem eine blondhaarige Frau abgebildet ist, etwa 50jährig, eine Dirigentin. Vage erinnere ich mich, dass er diese Galina schon einmal erwähnt hat. Sie ist seine Wirtin in der Pension Mozart. 

In der innovativen Pension Mozart werden das Wohnen, die Kunst und die Kultur vereint. Wir bieten freundliche und zuvorkommende Bedienung. Wir besorgen gerne Ihre Karten für alle Theater- und Musikveranstaltungen. Im besonderen empfehlen wir Ihnen die Konzerte in der Wiener Staatsoper. Auch Ihre Haustiere sind bei uns willkommen! (Text auf der Webside der Pension Mozart, Theobaldgasse 15, Wien) 

Wenn Konrad Rich seine Traumstadt besucht, nähert er sich dem magischen Kreis, dem innersten Zirkel dieses Traums, mit genau bemessenen Schritten. Er hat ein Drehbuch. Nichts geschieht hier von ungefähr. Jeder Besuch läuft nach einem ähnlichen Muster ab. Es fängt damit an, dass ein Empfangskomitee bereitsteht. Nico und Galina Mauracher holen den mozartbegeisterten Schweizer am Wiener Hauptbahnhof ab. Ihnen gehört die Pension Mozart. Indem sich Konrad Rich in ihre Obhut begibt, bekommt er nicht nur das beste Zimmer in der Pension Mozart, er bekommt es auch noch zu einem Freundschaftspreis. Es ist das sogenannte Mozart-Zimmer, das einzige Mozart-Zimmer in der Pension Mozart. Diese Verdoppelung scheint Konrad Rich wichtig zu sein. Ein anderes Zimmer als das Mozart- Zimmer käme für ihn gar nicht in Frage. Zufall oder nicht: es trägt die Nummer 3, Glückszahl. Glück hat Konrad Rich auch hinsichtlich der Freundschaft, die ihn seit Jahren mit dem Ehepaar Mauracher verbindet. Galina Mauracher stammt aus Petersburg. Sie unterrichtet als Pianistin am Wiener Konservatorium. Hin und wieder tritt sie auch als Dirigentin in Erscheinung. Wenn Konrad Rich über Galina spricht, kommt er ins Schwärmen. Galina besitzt zwei Vorzüge, die wohl auch Mozart begeistert hätten: sie ist eine Frau. Und sie ist musikalisch. Wie sein Idol schwärmt Konrad Rich mit Vorliebe für musikalische Frauen. Mozarts grosser Schwarm war die aus dem Wiesental bei Basel stammende Sopranistin Aloisia Weber. Allerdings gab sie ihm einen Korb, woraufhin Mozart seine Schwärmerei auf Constanze übertrug, die Zweitjüngste der vier Weber-Schwestern. Die war immerhin eine gute Köchin, und die Ehe mit ihr - seiner "Stanzerl" - war sehr glücklich. Auch für Konrad Rich ist es vermutlich ein Glück, dass er nicht mit einer professionellen Musikerin verheiratet ist, und sein Glück ist es auch, dass die musische Muse, die er bei jeder Gelegenheit anhimmelt, einen gutmütigen Mann hat. Nico Mauracher und Konrad Rich sind dicke Freunde. Im Kontor der Pension Mozart treffen sie sich manchmal zu einem Schlummertrunk. Das kann ausarten. Es ist schon vorgekommen, dass Nico seinen Kumpel aufs Zimmer schleppen muss. Konrad Rich gibt zu, dass er mit Nico nicht mithalten kann. “Was der zusammensäuft!” Ob er in Wien noch andere Zechfreunde habe, erkundige ich mich - und schiebe gleich ein Vorurteil hinterher: man höre doch immer, die Wiener seien so schwierig. Konrad Rich lacht. Es ist ein bitteres Lachen. Leute wie Nico Mauracher seien die Ausnahme, meint er. Im allgemeinen stimme das schon, die Wiener seien alles andere als umgänglich. Man müsse sich an sie herantasten, dürfe keine Formalität übergehen, niemals den direkten Weg einschlagen. Das komme von der Donaumonarchie her. Der verbeamtete Standesdünkel sei noch überall zu spüren. Man könne da leicht in ein Fettnäpfchen treten, als Schweizer sowieso. Für jedes Pöstchen und Verdienstchen gebe es einen Extratitel: Herr Hofrat, Herr Kanzleirat, Frau Konzul, Eure Spektabilität.... Insgesamt 869 offizielle Titel, die alle noch in Gebrauch seien. Mit dieser hierarchisierenden Unterscheidungssucht tue er sich schwer. Er habe an der Uni Basel das Lizentiat gemacht, und in Österreich müsste man ihn aufgrund seiner akademischen Graduierung als Magister ansprechen. Herr Magister... So ein Blödsinn! Einmal habe jemand partout darauf bestanden, ihn mit „Herr Magister“ anzusprechen. Da sei ihm der Kragen geplatzt. Er habe gesagt: wenn Sie mich noch einmal so ansprechen, dann lasse ich augenblicklich meine Hosen runter und scheisse vor Ihnen auf den Boden. Dann haben Sie Ihren Magister! 

“Gewaltig viel Noten, lieber Mozart.” (Kaiser Joseph II. zu Mozart anlässlich der Uraufführung der “Entführung aus dem Serail”) 

Wiener kann man nicht werden. Man ist es, oder man ist es nicht. Obwohl er in der renommierten Pension Mozart ein- und ausgeht und alles weiss, was man über Wien überhaupt nur wissen kann, ist Konrad Rich so fremd in dieser Stadt wie ein japanischer Tourist. In der dortigen Society benimmt er sich manchmal ganz schön daneben. Die Rolle des Sonderlings ist ihm auf den Leib geschrieben. Auch hierin ähnelt er seinem Idol. In Wien blieb Mozart bis an sein Lebensende ein Kuriosum. Man fand ihn, gelinde gesagt, etwas verschroben. Zum Beispiel seine Angewohnheit, das Klavierspiel zu unterbrechen, um mit einem langgezogenen Miauen über Tische und Stühle zu springen. Er wurde geschnitten. Heutewürde man sagen: gemobbt. Die romantische Legende vom verfemten Genie muss allerdings korrigiert werden: bei diesem Mobbing war kein Neid im Spiel. Weder Salieri noch sonst jemand erkannte in Mozart das überragende Genie, als das wir ihn heute bestaunen. Sicher hielt man ihn für etwas Ausserordentliches, aber es fehlte die Begrifflichkeit, die man heute dafür zur Verfügung hat. Wenn es um Musik ging, war Genialität noch kein Kriterium, das sich ernsthaft anwenden liess. Der künstlerische Rang eines Komponisten wurde grundsätzlich sehr tief angesetzt: ein “Compositeur” war ein livrierter Trinkgeldempfänger, nicht viel mehr als ein Tischler oder Schneider. Man reduzierte ihn auf seine Funktion als Kapellmeister. Die war sehr praktisch ausgerichtet. Ein Kapellmeister musste dirigieren, arrangieren, organisieren, managen, ersatzweise als Musiker einspringen, und in der spärlichen Zeit, die ihm daneben noch blieb, komponierte er irgendwelche Auftragsarbeiten. Das änderte sich erst mit Beethoven, dem ersten Komponisten, der sich mit der ganzen Subjektivität seines Ich-Bewusstseins in die Musik einbrachte. Natürlich mit dem Anspruch, die Fesseln der Konvention zu sprengen, um eine universale Kunst zu schaffen. Diese Mischung aus Egomanie und Universalität wurde in der Romantik zum Kennzeichen des Genies. (Wobei "Genie" kein Leistungsausweis war, sondern eher eine Temperamentfrage. Ein Genie war man, weil man sich wie ein Genie verhielt, das heisst: ein bisschen daneben). Zur Zeit Mozarts gab es das noch nicht. Kein Komponist hätte es sinnvoll oder erstrebenswert gefunden, im Vollgefühl seiner schöpferischen Autonomie die Hörgewohnheiten zu verletzen. Man komponierte für den Tag, den jeweiligen Anlass, den einmaligen Gebrauch. An Unvergänglichkeit dachte niemand, Subjektivität war Privatsache. Die Komponisten sahen sich als Dienstleister. Sie arbeiteten am Fliessband, immer möglichst nah am Trend. Nicht anders als die DJs und Popstars unserer Tage bedienten sie den Unterhaltungsmarkt. Da war die Verpackung oft wichtiger als der Inhalt, das Event bestimmte die Kunst, nicht umgekehrt. Ein guter Komponist war ein Komponist, der sich an diesen Rahmenbedingungen ausrichten und sich entsprechend inszenieren und organisieren konnte, und insofern hatte der erfolgsverwöhnte Salieri nicht den geringsten Grund, Mozart zu hassen. Wenn überhaupt jemand hätte missgünstig sein müssen, dann wohl eher Mozart. Salieri genoss eine Reputation, von der Mozart nur träumen konnte. Die Frage, wie es der Supertalentierte fertigbrachte, hinter Salieri und Gluck zurückzubleiben, wird in Mozart-Biografien unterschiedlich beantwortet. Lag es an seinem unausgeglichenen Charakter? Seiner Verschrobenheit? Seiner Aufmüpfigkeit? Oder starb er einfach zu früh, noch vor seinem endgültigen Durchbruch? Oder war seine Musik für seine Zeitgenossen zu schwierig? Zu ungewöhnlich? War er eben doch kein Fliessband-Produzent, sondern ein Künstler, der an die Grenzen des Zumutbaren ging? In seiner Wiener Zeit war Mozart, wie Dieter David Scholz, Kulturkorrespondent von ARD, einmal sehr zutreffend geschrieben hat, “auf dem besten Wege, sich als europäische Sensation zu etablieren, nicht mehr als Wunderkind, aber fast schon als anerkannter grosser Komponist. Eben dieses eigenwillig unangepasste Nicht-mehr-und-noch-nicht war wohl das, was seine Zeitgenossen faszinierte und zugleich irritierte. Verkannt wurde Mozart keinesfalls, er polarisierte nur, war damals so unfassbar wie heute.” Vielleicht wird von daher verständlich, warum Mozart gegen Ende seines Lebens ins Abseits geriet. Er glich einem Reiter, der mit einem Salto Mortale in den Sattel zu kommen versucht - und über das Pferd hinwegspringt. Zuerst als Attraktion bestaunt, verlor er den Gusto seines Publikums mehr und mehr aus den Augen. Nicht nur kompositorisch. Oder weil er sich an Opernthemen heranwagte, die dem Adel nicht so geheuer waren. Mit seinem ungebärdigen Selbstbewusstsein, seiner Weigerung, den Lakaien zu spielen, machte er sich bei den Reichen und Vornehmen nicht nur Freunde. Dazu kamen finanzielle Probleme. Obwohl seine Einkünfte beträchtlich waren, häuften sich die Schulden, das Geld rann ihm buchstäblich durch die Finger, und so fühlte er sich zunehmend isoliert. Seine soziale Stellung war angeknackst. Nun, da er Wien erobert hatte, merkte er, dass er trotzdem nicht dazugehörte. Er war kein Wiener, und vor allem war er kein Wiener Kulturmensch. Dennoch war er fasziniert von Wien und tat alles, um seine Dazugehörigkeit unter Beweis zu stellen. 

Auch Konrad Rich versucht – auf seine schalkhafte Weise und im Wissen um die Unmöglichkeit dieses Vorhabens – Wien zu seiner eigenen Stadt zu machen. Immerzu redet er von „meinem Wien“. Sein Wien. Wien ist seine Traumstadt. Nicht nur, weil Mozart dort gelebt und gewirkt hat, sondern auch der Sehnsüchte wegen, die Mozart in diese Stadt hineinprojiziert hat. Wien war auch Mozarts Traumstadt. Wenn Konrad Rich durch Wien geht, durchmisst er nicht nur seinen eigenen Traum, sondern auch Mozarts Traum. Eine räumliche Kongruenz der Träume. Träume haben es an sich, dass sie unerfüllt bleiben. Und dass sie – wohl eher Segen als Fluch - die Zeit aufheben. Wenn Konrad Rich die kleine Kapelle beim Stephansdom aufsucht, wo der zwergenhafte Leichnam aufgebahrt wurde, bevor man ihn auf den St. Marxer Friedhof karrte, wird die zeitliche Differenz zwischen damals und heute hinfällig. Schritt für Schritt folgt Konrad Rich dem dahinrumpelnden Leichenwagen. Es ist kalt, Schneegestöber und Hagel erschweren das Vorankommen. Die belebten Geschäftsstrassen verwandeln sich in die schlammigen Feldwege, die vormals die Stadt mit dem Umland verbunden haben. Vor 200 Jahren lag der Friedhof noch am Stadtrand. Nach offiziellen Angaben misst die Strecke zwischen Stephansdom und dem Mozart-Grab 4800 Schritte, umgerechnet 3,64 km. Jedes Mal, wenn Konrad Rich diese Strecke abschreitet, zählt er die Schritte andächtig mit: eins, zwei, drei, vier... Seine Schrittzahl schwankt zwischen 5100 und 5300. 

“Wir Wiener blicken vertrauensvoll in unsere Vergangenheit.” Paul Farkas, 1893-1971, Schauspieler, Kabarettist und Regisseur 

In Österreich gibt es eine Zeitschrift mit dem Titel “Lebensart”. Was nach Lifestyle-Magazin klingt, ist in Wirklichkeit eine Zeitschrift über Ökologie. Unter “Lebensart” versteht man in Österreich so gut wie alles, sogar das Sterben. Für den Österreicher hat alles so eine bestimmte Art, und die Art ist ihm wichtig. Sie ist für ihn das Wichtigste überhaupt. Die Art zu gehen, ist ihm wichtiger als das Gehen. Die Art zu essen, ist ihm wichtiger als das Essen. So könnte man - freilich etwas grob - die österreichische Lebensphilosophie auf den Punkt bringen. Auf die Art kommt es an, die Form, den Ritus. Was Konrad Rich an Wien so anzieht, hat viel mit dieser Lebensphilosophie zu tun. In Wien lässt sich das Leben zelebrieren wie kaum sonstwo. Vom Kaffeetrinken bis zum Praterbesuch: jede Aktivität trägt die Signatur einer Zeremonie. Wenn Konrad Rich über Wien spricht, entfaltet sich ein Panoptikum des Immergleichen. Seinen Schilderungen ist unschwer zu entnehmen, dass es ihm vor allem um Wiederholung geht. Wenn er seinem nächsten Wienbesuch entgegenfiebert, weiss er selbstverständlich schon bis in jedes Detail, was ihn erwartet. Touristische Schaulust ist ja schnell gestillt. Bei Konrad Rich ist das anders. Sein Rausch ist nicht oberflächlich, es sind nicht die einmaligen Erlebnisse, was ihn so begeistert, ihn begeistert das, woran er sich immer wieder erfreuen kann. Hier ist das Wienerische Lebensgefühl ganz nah: Leben heisst Karussellfahren, Riesenradfahren, das Immergleiche genussvoll zelebrieren. Man dreht sich im Kreis, bis einem schwindelig wird. Das Prinzip der Wiederholung. Es ist das Essentielle an diesem Lebensgefühl. Rundherum und in sich geschlossen. In Wien findet man das in vielen ortstypischen Facetten: vom Walzertanz bis zum Apfelstrudel, von den geschwungenen Motiven des Jugendstils bis zu Schnitzlers “Reigen”. Zum Eindruck der zentrierten kreisförmigen Bewegung trägt auch das Wiener Stadtbild bei. Die berühmte Ringstrasse! Ihrem Bogen entlang öffnet sich das ganze kulturelle Panoptikum, in das mich Konrad Rich hineinführt, indem er Photographien kommentiert, Bildbände aufschlägt, Ausstellungsprospekte auffaltet. Das meiste, was im Bannkreis der Ringstrasse Touristen anlockt, ist kaum fünfzehn Minuten von der Pension Mozart entfernt: die Albertina, das Burgtheater, die Staatsoper, das Kunstmuseum, die Secession... Selbst jemand, der an die Baslerische Museumsdichte gewöhnt ist, geht vor dieser Kunstfülle in die Knie. Konrad Rich siebt, wählt aus. Überanstrengen möchte er sich nicht. Er nimmt sich jedesmal eine Ausstellung vor, eine einzige genügt ihm, und ich teile seine Meinung sofort: Ausstellungen sind strapaziös, das Anstrengendste überhaupt. Nach eineinhalb Stunden Bilderangucken bekommt man den Höhenkoller. Es ist, als hätte man den Mount Everest bestiegen. Danach ist man erledigt. Man ist froh, wenn man von weiteren Ausstellungen verschont bleibt. Konrad Rich lacht über die Touristen, die von einer Ausstellung zur nächsten hetzen, diese wild umherglotzenden, kulturinteressierten Marathonläufer. "Eine richtige Heuschreckenplage!" Die selbstauferlegte Mässigung bewahrt ihn vor Überdruss. Qualität kommt für ihn vor Quantität. Er liebt Kokoschka und Munch, bewundert den Beethovenfries von Klimt. Und wiederum kein einziges Wort über grosse Konzerte, die Wiener Philharmoniker, die Wiener Sängerknaben, die Staatsoper. Das alles lässt er links liegen. Stattdessen berichtet er über kleinere Theatervorstellungen, begeistert sich für Schwänke und Possen. Titel wie “Katzenzunge” oder “Dinner für Spinner” lassen Banales erwarten. Doch Vorsicht! In Wien hat der Schwank eine altehrwürdige Tradition. 

"Wo willst du, kühner Fremdling, hin? Was suchst du hier im Heiligtum?" (Auftritt des Priesters im ersten Akt der "Zauberflöte") 

Zu jedem Wienbesuch gehört natürlich die “Zauberflöte” im Marionettentheater Schloss Schönbrunn. Über die Faszination des Marionettenspiels hat Konrad Rich schon gesprochen. Was die Musik angeht, so hält er sich bedeckt. Über Musik zu sprechen, fällt ihm schwer. Musik ist etwas, das man fern jeder Reflexion geniesst, wennmöglich schweigend. Und so geht es ihm auch mit der “Zauberflöte”, seinem persönlichen Mozart-Highlight. Sie ist ihm heilig. Sie ist sein sein intimstes Kulturerlebnis. Für so etwas Worte zu finden, ist schwierig. Verständlicherweise hält er sich zurück. Nicht nur, weil ihm diese Musik so nahe geht. Eine intime Beziehung mit einer Berühmtheit ist ja an sich schon schwierig. Wer kennt die “Zauberflöte” nicht? Oder besser gesagt: jeder meint sie zu kennen. Sie ist ein Gemeinplatz wie die Mona Lisa, und wie die Mona Lisa ist sie nicht nur unergründlich, sondern auch plakativ. Wer nach ihrer tieferen Bedeutung forscht, drückt sich entweder die Nase platt, ohne etwas zu sehen, oder sucht mit der Taschenlampe nach dem Sonnenlicht. Was lässt sich da nicht alles hineingeheimnissen! Ingmar Bergmanns Verfilmung unterscheidet sich denn auch fundamental von der Romanadaption einer Marion Zimmer Bradley. Beide haben die “Zauberflöte” als Projektionsfläche benutzt. Vielleicht ist es das, was Konrad Rich zurückhält, vielleicht scheut er das Herumstochern in Interpretationen, die ja immer auf Vereinnahmung zielen, auf eine Kulturbeflissenheit, die das persönliche Erleben zurückstellt. Mit einem Kunstwerk intim zu sein, bedeutet eben auch: mit ihm allein zu sein. Die gängigen und jederzeit mitteilbaren Schablonen ausser Betracht zu lassen. Es nicht festnageln, nicht "erklären" zu wollen. Erst recht, wenn es sich um die "Zauberflöte" handelt, eine der populärsten Opern überhaupt. Der grosse Publikumsrenner seit 1791. Und eine Fundgrube für Kulturforscher, Jungianer, Esoteriker, Phantasten und Okkultisten. Was steckt da nicht alles drin! Was kann man da nicht alles herauslesen! Die “Zauberflöte” stellt so etwas wie die Summe aller Kultur dar. Intellektuell ist sie eine Überforderung. Aber andererseits auch nicht. Jedes Kind kann die “Zauberflöte” begreifen und fiebert mit, wenn Tamino seine Prüfungen ablegt, amüsiert sich, wenn Papageno mit zugeheftetem Mund zu singen versucht. Ich denke, Mozart und Schikaneder haben das auch so gesehen. 

Womit wir wieder bei Mozart wären. “Auf Mozarts Spuren” wandelt Konrad Rich nicht nur in Richtung Friedhof. Immerhin hat Mozart 35 Jahre lang gelebt, die letzten 10 Jahre in Wien. Ein kurzes Leben muss nicht unbedingt kurz sein. Wenn in knapper Zeit viel passiert, ist das für den Betroffenen eine faktische Lebensverlängerung. Und in Mozarts Leben ist bekanntlich sehr viel passiert. In den 10 Jahren, die er höchst umtriebig in Wien verlebt hat, hat er dreizehnmal die Wohnung gewechselt. Für den Wiener Tourismus ein Segen. An jeder Strassenecke kann der Fremdenführer darauf hinweisen, dass hier Mozart gewohnt habe. Allerdings ist nur ein einziges Mozart-Haus mit dem alten Grundriss erhalten geblieben. Daran stört sich niemand, auch Konrad Rich macht sich wenig daraus, dass in Wien kaum noch ein Stein dort steht, wo er zu Mozarts Lebzeiten gestanden hat. Der unverfälschte Blick auf die Häuser und Strassen des 18. Jahrhunderts ist nur noch im Traum möglich. Oder in der Abstraktion. In dem mit Postern, Photos und Affichen vollgepinnten Mozart-Kabinett hängt auch ein Stadtplan von Wien. Ich betrachte die Karte verwundert, zuerst denke ich, es sei die Luftangriffskarte der Alliierten. Konrad Rich deutet auf die Strassenzüge. Die Standorte aller Wiener Wohnstätten Mozarts und Beethovens sind generalstabsmässig mit farbigen Punkten markiert. Typisch für Konrad Rich: die Systematik steht im Vordergrund. Anhand dieser Karte können die Altstadtrundgänge so geplant werden, dass man keinen Schritt zuviel macht. Es fällt auf, dass Beethoven viel mehr Punkte hat als Mozart. Schätzungsweise siebzigmal ist er in Wien umgezogen. Wie kommt das? Gut, Beethoven war Junggeselle. Und er wurde 57 Jahre alt. Ein gewaltiger Vorsprung. Aber es könnte ja sein, dass er einfach nur besonders vorausschauend war. Vielleicht dachte er bereits an den heutigen Kulturtourismus und den Konkurrenzkampf mit Mozart und setzte sich zum Ziel, möglichst viele Spuren zu hinterlassen. Hin und wieder werde so eine Wohnung renoviert, erklärt Konrad Rich, dann werde die betreffende Etage zurückgebaut, auf historisch gemacht. Man stelle alte Möbel hinein, Imitate natürlich, und richte das Interieur so her, als sei der Komponist noch am Leben und nur eben schnell in ein Beisl gegangen... Das Wiener Beisl ist eine bodenständige Institution für Herz und Magen. Konrad Rich ist kein Kostverächter, und das Bodenständige liegt ihm durchaus. Das beste Wiener Schnitzel sei das Wiener Schnitzel vom Figlmüller, erklärt er mit Kennermiene. Es sei riesig, in der Länge mehr als dreissig Zentimeter, zugleich aber hauchdünn... Von Mozart und Beethoven direkt zum Wiener Schnitzel. Auch daran muss man sich bei Konrad Rich gewöhnen. Er bringt Dinge zusammen, die man sonst sehr weit auseinanderhält. Den bodenständigen Genüssen war Mozart übrigens keineswegs abgeneigt. Sein Lieblingsessen war Sauerkraut mit Knödeln. 

“Der Wiener Hauptfriedhof ist nur etwa halb so gross wie Zürich. Dafür aber doppelt so lustig.” (Wiener Volksmund) 

Kaum vorstellbar, dass Konrad Rich nicht hin und wieder auf Gleichgesinnte trifft. Mozart-Fans gibt es viele. Nur die Beatles haben eine grössere Fangemeinde. Doch hier laufe ich ins Leere. Was sein Verhältnis zu anderen “Mozart-Spinnern” betrifft, hält er sich bedeckt. Vielleicht verständlich: wer weitherum als der grösste Fan gilt, ist nicht unbedingt erpicht darauf, sich diesen Ruf streitig machen zu lassen. Wie in der Liebe ist auch hier die Konkurrenz allgegenwärtig. Andererseits findet Konrad Rich sehr wohl einen Draht zu Leuten, die man als exzentrische Kulturliebhaber bezeichnen könnte. In diesem Zusammenhang zeigt er mir die Photographie eines älteren, sehr ordentlich aussehenden Herrn. Das sei Heinz Riedel, sagt Konrad Rich. Ein Wiener. Seit bald dreizehn Jahren leite er das Wiener Bestattungsmuseum. Als “Bestattungsreferent” (so sein offizieller Titel) führe er regelmässig Touristen auf den Wiener Friedhöfen herum. Auf so einer Führung hätten sie sich kennengelernt, und bald darauf hätten sie eine wichtige Übereinkunft getroffen. “Bei jedem meiner Wienbesuche führt er mich auf den Friedhöfen herum. Er macht das ganz privat und nur für mich. Dafür bekommt er auch etwas. Er sammelt nämlich Briefmarken....” Konrad Rich zeigt mir die “Lupe”, eine Zeitschrift für Briefmarkensammler. “Da sind immer die neusten Briefmarken drin, gewisse Ersttagsmarken. Wir haben abgemacht, dass ich sein Engagement mit Briefmarken vergüte. Im Gegenzug nimmt er sich Zeit für mich und führt mich zu den Toten.” Eine Privatführung mit dem Bestattungsreferenten Heinz Riedel beansprucht jeweils einen ganzen Tag. Ein einziger Friedhof, was sei das schon! lacht Konrad Rich. In Wien gebe es 46 Friedhöfe! "Und allein auf dem Wiener Zentralfriedhof gibt es doppelt so viele Gräber, wie Wien Einwohner hat," beschreibt er das Zahlenverhältnis von Leben und Tod. Auch hier wieder benennt er Relationen, jongliert mit Fakten, die sich beziffern lassen. Die Mathematik der letzten Dinge. Friedhöfe interessieren ihn auch deshalb, weil sie begehbare Koordinatensysteme sind. Um auf einem Friedhof den kürzesten Weg von A nach B zu finden, braucht man nicht nur eine gute Übersicht, sondern auch mathematischen Sachverstand. Grabparzellen und Wege bilden ein Muster, das zwar dem Ordnungssinn schmeichelt, ihn aber auch verwirren kann. Das Labyrinth verwirrt nicht, weil es chaotisch wäre, sondern weil es einer strengen Logik gehorcht. Jandls Verwechslungsspiel mit “Rinks” und “Lechts” könnte auf Wiens Nekropolen gemünzt sein. Besser als auf einem Friedhof kann man sich nirgends verlaufen, nirgends liegen "Rinks" und "Lechts" so nah beieinander. Mit diesem Problem hat sich der Hobby-Mathematiker Konrad Rich eingehend beschäftigt. Vor Jahren hat er einen kleinen Friedhofsführer veröffentlicht, eine kartographische Gebrauchsanweisung für den St. Marxer Friedhof. Die Arbeit daran sei sehr umfangreich gewesen, erzählt er. Er habe den Plan zu Hause auf dem Reissbrett gezeichnet, nachdem er alles eigenhändig ausgemessen habe, die ganze Friedhofsanlage. Etwa 50 Arbeitsstunden habe er aufgewendet. Und er habe damit Erfolg gehabt. Die Sache sei dann gedruckt worden. Das sei ihm Lohn genug gewesen. Zum Dank für seinen unentgeltlichen Einsatz habe ihn der Herr Hofrat Paul Schiller, Direktor des Wiener Stadtgartenamtes, zum Nachtessen eingeladen. Eine grosse Ehre. Denn der Herr Hofrat Paul Schiller - der oberste Friedhofsverwalter Wiens - sei in gewisser Weise Mozarts Vorgesetzter. 

“Wenn die Engel vor Gott spielen, so spielen sie Bach, wenn sie aber unter sich sind, so spielen sie Mozart.” (Karl Barth, zitiert von Konrad Rich) 

Es sei übrigens sein Traum, auf dem "Friedhof der Namenlosen" bestattet zu werden, verrät mir Konrad Rich. Er tut dies mit einer Beiläufigkeit, als spräche er über den Berner Zwiebelmarkt. Jawohl, inmitten der unbeschrifteten Gräber, direkt an der Donau, das sei sein Traum. Früher, als die Donau noch nicht begradigt gewesen sei, seien hier viele Selbstmörder an Land gespült worden, wo man sie dann auch gleich unter die Erde gebracht habe. Viele der Wasserleichen habe man nicht mehr identifizieren können, deshalb die Anonymität. Für manchen Besucher eine unangenehme Sache. Aber ihm sei das nie unangenehm gewesen. Friedhöfe seien ihm generell nie unangenehm gewesen. Mit 14 habe er keine Eltern mehr gehabt, und mit 16 habe er auch keine Grosseltern mehr gehabt. Seit seiner Kindheit sei ihm der Tod sehr vertraut... 

Dann geht er zum CD-Player und legt das Nannerl-Septett ein, KV 251. Daraus hören wir das Andantino. “Das ist mein Schlüsselerlebnis gewesen,” beginnt er. Dann folgt ein längeres Schweigen. Wir lauschen der Musik. “Also, meine Kindheit...” fährt er fort und muss sich einen Schubs geben, damit er wieder denken und sprechen kann. “Das ist so gewesen. Ich bin am 1. März 1932 zur Welt gekommen. Meinen Vater habe ich nie gekannt, der ist an Lungenentzündung gestorben, als ich ein Jahr alt war. Materiell waren wir nicht gut gestellt, wir waren arm, und als ich in die Schule kam, tobte bereits der Zweite Weltkrieg. Trotzdem ist meine Kindheit sehr glücklich gewesen, das kann ich sagen. Ich hatte einen 4 Jahre älteren Bruder und eine 10 Jahre ältere Schwester, beide sind inzwischen gestorben. Wie wir Kinder von unserer Mutter, ihren Schwestern und den Grosseltern behandelt wurden, das war sehr liebevoll. Obwohl wir arm waren, fehlte es nicht an menschlicher Wärme. Meine Mutter war Schneiderin. Ich habe die Kleider, die sie genäht hat, den Kundinnen gebracht. Dafür habe ich immer Trinkgeld bekommen. Wenn ich dann nach Hause gekommen bin, ist mein Trinkgeld nicht einfach im Hosensack geblieben, ich habe es in ein Kässeli getan. Und Ende Jahr gingen wir mit der Mutter auf die Bank, um dort das Kässeli zu leeren. Von uns Kindern hatte jedes ein Bankbüchli. So war das damals. Man hatte ein Kässeli und ein Bankbüchli. Na ja, wenn man das mit heute vergleicht... So um 1941 muss das gewesen, da hat meine Mutter gesagt: Kinder, wollen wir uns nicht ein Radio anschaffen? Wir Kinder waren natürlich begeistert. Die Mutter aber sagte: jedes von euch muss aus seinem Kässeli etwas drangeben. Wir Kinder erklärten uns damit einverstanden. Und dann haben wir unser erstes Radiogerät gekauft. Eine Sensation! Manchmal hörten wir Kriegsnachrichten. Ich und mein Bruder - die Schwester war ja ein bisschen älter - durften das Radiogerät nicht ohne Erlaubnis der Mutter anstellen. Und natürlich haben wir uns nicht immer daran gehalten. Wir waren ganz normale Lausbuben. Einmal, als ich allein zu Hause war, habe ich ohne Erlaubnis das Radio angestellt. Und plötzlich ist da diese wunderbare Musik über den Äther gekommen. Eine unbeschreiblich schöne Musik. Es war das Nannerl-Septett! Das hat mich so eingehüllt, das hat mich so... Ich habe mich wie im Himmel gefühlt! Am Schluss wurde dann gesagt, wer und was das gewesen ist. Einen Namen habe ich gehört: Mozart. Da war es um mich geschehen. Von da an wollte ich nur noch Mozart hören...” 

“Als ich nach der Primarschulzeit an die Kantonsschule kam, fragte ich den Abwart vom Solothurner Konzertsaal, ob er einen Platzanweiser gebrauche könne. So wurde ich Platzanweiser im städtischen Konzertsaal und konnte bei jedem Konzert dabei sein. Das war etwas! Ich bekam nichts dafür. Der Lohn war das Mithören bei den Konzerten. Ja, dort habe ich vieles gehört. Solothurn hat immer gute Musiker gehabt, gute Organisten, gute Dirigenten. Und so bin ich weiterhin in den Genuss dieser Musik gekommen. Erst später, ich war noch in der Kantonsschule, ich war 18 oder 19, ging ich in den Ferien Geld verdienen: bei der Scintilla AG. Diese Fabrik gibt es heute nicht mehr. Die haben Stichsägen produziert, Zündanlagen, übrigens auch Bestandteile für Lindberghs Flugzeugmotor. Ich musste überprüfen, ob ein bestimmtes Schräubchen in eine bestimmte Mutter passte, und das stundenlang. Der Lohn war mies. Aber immerhin konnte ich mir mit dem Geld meine erste Mozart-Platte leisten....” 

Vor dem Fenster des Mozart-Kabinetts ist es inzwischen dunkel geworden. Wir kehren in die Stube zurück. Der Solothurner Weisswein soll nun seiner Bestimmung zugeführt werden. Irgendein Gebäck kommt auf den Tisch, und so beginnt der gemütliche Teil des Abends: wir sprechen über Konrad Richs Freundschaft mit Peter Bichsel. Und natürlich auch über den FC-Solothurn, bei dem man immer das Gefühl hat, jeder Spieler sei ein Literat (Franz Hohler im Mittelfeld, Peter Bichsel links aussen) und spiele wohl deshalb mit zwei linken Füssen. Insgeheim bin ich erleichtert. Die Jupiter-Symphonie habe ich mit keinem Wort erwähnen müssen. Konrad Rich hat mich nicht dazu gezwungen, Farbe zu bekennen. Vielleicht ist das eine Chance, denn so kann ich mein ganz persönliches Mozartwerk noch suchen und entdecken, mich noch intensiver in Mozarts Welt einhören. Obwohl ich Schubert, Schumann und Beethoven immer interessanter gefunden habe als Mozart, weil sie als Menschen greifbarer und kantiger, als Künstler irdischer, leiblicher, mehr in die eigene Existenz verstrickt sind als der über allen Wolken schwebende Mozart, hat mich Konrad Rich mit seiner rückhaltlosen Begeisterung doch dazu gebracht, das Phänomen Mozart für mich selbst neu zu bewerten. Und das muss ich wirklich selber tun, mein Besuch bei Konrad Rich hat mich nicht zum Wissenden gemacht. Der Mozart-Kenner hat mir kein Rezept mitgegeben, kein Vademekum für ein besseres Verständnis klassischer Musik. Das Phänomen Mozart zu erklären, es durchsichtig und diskutierbar zu machen: das überlässt er den Kulturredaktoren von DRS 2. Konrad Richs Liebe zu Mozart ist nicht der weihevollen Sensibilisierung verpflichtet, setzt nicht auf Differenzierung, Kritik und Dialog. In ihrer Versponnenheit hat sie etwas Monologisches. Sie fädelt keine Überzeugungsarbeit ein, belehrt niemanden. Dafür ist sie viel zu ausgefallen. Sie ist im besten Sinne taktlos. Der “Mozart-Spinner” inszeniert seine Liebe zu Mozart als Spinnerei, als gelebte Eigenwilligkeit und närrisches Bei-sich-sein, was mit Mozart vielleicht nur indirekt zu tun hat. Geht es hier am Ende gar nicht um Mozart? Nein, das stimmt nun auch wieder nicht. Dass sich Konrad Rich auf Mozart eingeschworen hat - und nicht auf Beethoven oder Haydn, die beiden andern Exponenten der Hochklassik - ist kein Zufall. Es ist eine Form von sympathetischer Magie: in Mozart hat Konrad Rich seinen idealisierten Doppelgänger gefunden. Und tatsächlich, das ist mir schon aufgefallen, als ich Konrad Rich im “Bären” zum ersten Mal getroffen habe. Für einen Exzentriker, der mit bildungsbürgerlichen Konventionen sein lausbübisches Spiel treibt, gibt Mozart die ideale Identifikationsfigur ab. Was an Mozart schillert, schillert auch an Konrad Rich. Eine Seelenverwandtschaft möchte ich den beiden jedenfalls nicht absprechen. So diffus die auch ist, man spürt sie sofort: Konrad Rich geht fast in Mozart auf, und das heisst eben auch, dass er nie von sich selbst abrückt. Dadurch stellt er sich quer zur Mozart-Rezeption. Musiker, Kenner, Vermittler und Wissenschaftler im Bereich der klassischen Musik vermeiden es tunlichst, mit den grossen Komponisten per Du zu sein. Mangelnde Objektivität setzt man dort mit Dilettantismus gleich. Dilettantismus - im Jazz eine Tugend, in der Rockmusik sogar ein Muss - ist in der klassischen Musik gegen den Standard gerichtet und deshalb verpönt. Und das, obwohl der Dilettant ein Naturtalent sein kann. Da die klassische Musik - wie Mathematik - eine extrem selbstbezügliche Notation und Theorie hat, ist der Klassik- Interpret, will er ein professionelles Niveau erreichen, auf eine akademische Ausbildung angewiesen. Kein Konzertpianist oder Philharmonie-Dirigent hat sich je als Autodidakt nach oben gearbeitet. Die Pflicht zum akademischen Drill wirkt auch aufs Umfeld ein, den ganzen Vermittlungsapparat, und erstreckt sich unterschwellig sogar auf die Hörer und Konsumenten. Wir Laien im Publikum schämen uns immer ein bisschen, weil wir die Partituren nicht lesen können. Darin unterscheidet sich klassische Musik von jeder anderen Musiksparte. Ist das für Konrad Rich ein Handicap? Ich glaube nicht. Seine Absichten sind nicht die eines Vermittlers oder Wissenschaftlers. Er ist Connaisseur, Enthusiast, Sentimentalist, und so stellt er sich auch dar. In seinem Wissen über Mozart - das zweifellos sehr breit ist - pulsiert das eigene Erleben. Nicht um sich als “Klassik-Ass” zu profilieren, verehrt er Mozart, sondern um sich im Namen Mozarts einem schöngeistigen Ideal gelebter Individualität zu widmen, einem umfassenden Savoir Vivre. Mozart ist sozusagen das Trapez, auf dem Konrad Rich seine Persönlichkeit zur Entfaltung bringt. Manchmal wirkt das ein bisschen egomanisch, ist es aber nicht. Der Kristallisationspunkt dessen, was Konrad Rich mit Mozart verbindet, ist die Musik. Ihr Geheimnis, das uns alle berührt. 

2010