Besuch im Armenhaus

Im letzten Frühjahr besuchte ich mit der Hilfsorganisation Nikodemus das “Armenhaus Europas”. Die Rede ist von Rumänien, einem Land, das einem osterweiterten Turbokapitalismus frönt, aber in gewissen ländlichen Gegenden noch Zustände kennt, die man als Schweizer Wohlstandsbürger kaum für möglich hält. Es fehlt vielfach am Nötigsten, und das WC befindet sich bei den meisten Häusern hinter dem Stall: ein von Fliegen wimmelndes “Scheissloch” im Boden.

 

Seit dem Zusammenbruch des Ceausescu-Regimes sammelt der in Sissach ansässige Verein "Nikodemus Rumänienhilfe" mittels Spendenaufruf Bedarfs- und Haushaltsartikel wie Kleider, Schuhe, Velos, Haushaltsgeräte, Spielzeug etc. Zweimal jährlich bringt man die Hilfsgüter mit Sattelschleppern in abgelegene rumänische Dörfer: ein Prozedere, das immer etwa gleich abläuft. Die Hilfsgüter werden in Rumänien zentral eingelagert, und pro Saison beliefert man zwei Dörfer, in denen man eine koordinierte Verteilung durchführt. Der Verein ist auf freiwillige und unbezahlte Mitarbeiter angewiesen. Man kann dort also mitmachen, wenn man Lust dazu hat, sollte aber keine Ferienreise erwarten. Man ist sehr lange unterwegs, und nicht immer läuft alles nach Plan. Bei unserer Ankunft meldete sich der Winter mit heftigem Schneefall zurück. Wir waren in Radautz stationiert, einem kleinen Städtchen im Nordosten des Landes, nahe der ukrainischen Grenze. In der angemieteten Lagerhalle standen die Hilfsgüter in Säcken und Schachteln verpackt bereit. Der Schnee lag bereits meterhoch. Unmöglich konnten die Sattelschlepper an die Laderampe fahren, geschweige denn in das Dorf hinaus, das die erste Hilfslieferung erhalten sollte. Die Schneeräumung kam nur schleppend voran. Um uns das Warten zu verkürzen, beschlossen wir, eine nicht allzu beschwerliche, aber interessante und "sachdienliche" Besichtigung zu unternehmen. 2007 hatte sich in der Nähe von Radautz die österreichische Holzverarbeitungsfabrik Schweighofer niedergelassen. Im gleichen Jahr war Rumänien der EU beigetreten. Ganz offensichtlich hing das eine mit dem andern zusammen. Die EU hat für den rumänischen Wirtschaftsraum ganz neue Rahmenbedingungen geschaffen. Auf Anfrage gewährte uns die Betriebsleitung eine Führung durch die etwa 50 Hektaren grosse Anlage. In den lärmerfüllten Hallen, in denen das Rundholz zersägt, kleingehächselt und zu Spanpressplatten verarbeitet wurde, war niemand an den Maschinen zu sehen. Alles lief vollautomatisch. In einem Kontrollraum voller Monitore und blinkender Armaturen sassen drei bis vier blau bekittelte Spezialisten gelangweilt auf ihren Drehstühlen und nippten an Kaffeebechern. Es sah aus wie in der Steuerungszentrale eines AKWs. Jeder Arbeitsvorgang war programmiert. Nur hie und da musste einer der Spezialisten irgendetwas umstellen: dann drehte er mit den Fingerspitzen an einem Knopf herum und blickte dabei auf einen Monitor, auf dem man sehen konnte, wie eine Spanpressplatte bewegt wurde. Nach der Besichtigung stand uns einer dieser Spezialisten Red und Antwort. Er war Rumäne, konnte aber sehr gut Deutsch, weil er lange in Österreich gearbeitet hatte. Die Firma vertrat er mit der ehrlichen Begeisterung, die man von ihm erwarten durfte. Das Salär war stattlich, was er nicht direkt zugab, aber doch verschämt andeutete. Neben ihm waren vielleicht noch fünf oder sechs andere Rumänen hier beschäftigt. Die Glücklichen! Die Holzverarbeitungsfirma präsentierte sich als Wohltäterin. Für die Steuerverwaltung von Radautz und die Handvoll Rumänen, die hier ihr Brot verdienten, war sie das zweifellos. Auf die etwas naive Frage, ob die Fabrik denn nicht Arbeitsplätze vernichtet habe, verwies der Spezialist auf die Gesetze transnationaler Ökonomie - und drückte zugleich sein Bedauern aus. Natürlich seien die meisten einheimischen Holzsägereien - ausnahmslos Familienbetriebe - von der Bildfläche verschwunden.  Er wusste sehr wohl, dass es hier nichts zu beschönigen oder zu verschweigen gab. Die Folgen des europäischen Binnenmarkts sind in Rumänien überall zu sehen. Die Kluft zwischen den boomenden Städten und den stagnierenden Landregionen wächst zusehends an. Wie auch die Kluft zwischen Arm und Reich, Vorteilsbeschaffungsspezialisten und Abgehängten, Profiteuren und Verlierern. Ganze Bevölkerungsschichten wandern aus, gewisse Regionen wirken schon regelrecht entvölkert. Ein Exodus mit unabsehbaren Folgen. Wer fortgehen kann und muss, geht fort. Am bereitwilligsten exilieren Fachkräfte, also Leute, die ein Land wie Rumänien eigentlich dringend braucht. Klar, da fehlt es überall an guten Jobs. Aber wie soll sich ein Entwicklungsland entwickeln, wenn keine Leute da sind, die die Bildung und das Know-how haben, um eine Entwicklung anzustossen? Viele der Auswanderer kommen zu uns (oder nach Deutschland, Österreich oder England) und arbeiten dank der EU-weiten Personenfreizügigkeit unter ihrem Ausbildungsniveau. Gut für uns, denn so bekommen wir billige Arbeitskräfte. Schlecht für Rumänien, denn die Abwanderung ist ein gewaltiger Braindrain. Wer über eine gute Qualifikation verfügt, etwa einen Hochschulabschluss, sieht seine Chance überall, nur nicht in Rumänien. Aber eigentlich genügt schon eine Matur, um dem Land den Rücken zu kehren. Vor allem die Jungen suchen so schnell wie möglich den Anschluss an West- und Mitteleuropa. Und nicht wenige wandern sogar nach Amerika aus. Klar, der Drang nach Westen ist verständlich. Wer will schon sein “Humankapital” einem Land zur Verfügung stellen, das in Cliquenwirtschaft und Korruption versinkt? Das von einer Bürokraten-Mafia beherrscht wird, die sich schamlos an EU-Geldern bereichert und mit dem Segen aus Brüssel das eigene Volk an der Nase herumführt?

  

Die EU ist in Rumänien allgegenwärtig. Jede Strasse, die sie finanziert hat, bekommt ein Schild, auf dem man lesen kann, dass diese Strasse von der EU finanziert worden sei. Unübersehbar schwebt über dem ganzen Land eine mildtätige Bürokratenhand. Unübersehbar sind auch die klaffenden Gegensätze. Blitzblank gepützelte McDonalds-Filialen neben Müllhalden, auf denen Roma-Kinder nach verwertbaren Abfällen suchen. Und ein paar Kilometer weiter ein verhutzeltes, altes Bäuerchen, das sein Feld noch mühsam mit Handpflug und Pferd bestellt. Die Multis erwirtschaften fette Profite, während die einfache Bevölkerung teils an den Rand gedrängt, teils via Personenfreizügigkeit ausser Landes geschafft wird. Wenn im rumänischen Alltag überhaupt etwas floriert, dann ist es der oligarchische Bürokratenfilz: eine Hinterlassenschaft des Ceausescu-Regimes. EU-Verordnungen haben diesen Filz quasi unter Schutz gestellt. Ob Feudalkommunismus, Turbokapitalismus oder EU-Bürokratie, die Mentalität ist die gleiche geblieben. Ex-Geheimdienstleute der Securitate und viele ehemalige Parteibonzen besetzen nach wie vor gesellschaftliche Schlüsselstellen. Für sie ist das System der Europäischen Union ein alter Hut. EU-Abgeordnete aus Rumänien bekommen das 20-fache des rumänischen Durchschnittsgehalts. Bei vielen Rumänen weckt das ungute Erinnerungen an die Zeiten des blutsaugerischen Feudalkommunismus. Natürlich war damals alles viel schlimmer. Waisenhäuser mit halb verhungerten Kindern gibt es nicht mehr. Die Lebensverhältnisse haben sich insgesamt verbessert, dem Kapitalismus sei Dank. Rumänien ist nicht mehr das hinterwäldlerische Land von "Graf Ceausescu Dracula". Kurz nach dem Sturz des Regimes war es für die Hilfsorganisation nicht ganz ungefährlich, auf den schlechten Strassen, die sich bei Regenwetter oft in Bäche verwandelten, in die ländlichen Gegenden vorzudringen. Heute sind auch die kleinsten Dörfer relativ gut erschlossen. Dass aber dieselbe Hilsorganisation im Jahr 2013 noch immer in Rumänien unterwegs ist, zeigt dann eben doch, dass es weder dem Kapitalismus noch der Segenshand der EU gelungen ist, die Armut restlos zu beseitigen.

 

Im Jahr 2011, als ich zum ersten Mal einen Hilfsgüterkonvoi begleiten durfte, erlebte ich den Auftritt eines kommunistischen Bürgermeisters. Der war geradezu die Karikatur eines Ostblock-Funktionärs: ein pummeliger, kugelköpfiger Herr mit Hut, Trenchcoat und Hornbrille. Als in seinem Dorf die Hilfsgüterverteilung anlief, warf er sich gehörig in Positur und stolzierte herum wie ein König. Nachdem er sämtliche Hilfsgüter inspiziert hatte, nahm er unsern Chef beiseite und steckte ihm einen kleinen, zweifach gefalteten Zettel zu. Darauf eine hingesudelte Notiz. Unser Chef konnte sie knapp entziffern. Es war nichts anderes als eine private Wunschliste. Unter anderem wünschte sich der Herr Bürgermeister ein paar Velos für seinen Privatgebrauch. Natürlich ging unser Chef nicht darauf ein. Er hatte dergleichen schon oft erlebt. Er entschloss sich, sämtliche Velos zurückzubehalten und sie irgendwann später in einem Kinderheim abzugeben. Niemand sollte bevorzugt oder benachteiligt werden, also war es besser, die Velos wieder mitzunehmen. Spätabends, als die Hilfsgüterverteilung beendet war, folgte ein üppiges Nachtessen im Stübchen einer gastfreundlichen Bauernfamilie. Der Bürgermeister hatte sich beleidigt zurückgezogen. Auf der Rückfahrt dann die böse Überraschung. Ein kurzes Stückweit ausserhalb des Dorfs fuhr der Konvoi in eine Strassensperre. Schnell wurde uns klar, dass es sich hier um eine gezielte Nacht-und-Nebel-Aktion handelte. Unser Chef wusste aus Erfahrung, was dahintersteckte. Während wir beim Nachtessen gewesen waren, hatte der Bürgermeister die örtliche Polizei verständigt, die uns nun aufhielt und ausfragte. Unter irgendeinem Vorwand (Zollformalitäten aufgrund der Grenznähe) beschlagnahmte sie die Velos, auf die der Herr Bürgermeister keineswegs zu verzichten gedachte. Mit Hilfe der Polizei stahl er uns die Velos buchstäblich unter der Nase weg. In Rumänien nichts Ungewöhnliches. Eine Hilfsorganisation braucht dort gute Kontakte, ganz allgemein - und besonders zur einheimischen Mafia. 

  

Mit Zuschüssen aus der EU-Kasse hat man in Rumänien ein dichtes Strassennetz gebaut. An sich ja eine gute Sache. Wäre da nicht diese merkwürdige Autobahn, die wie von einem Kuchenmesser abgeschnitten aufhört, weil das Geld aus unerfindlichen Gründen versickert ist. Ja, und wäre da nicht die Tatsache, dass die perfekten Strassen im dünn besiedelten Nordosten entlang der ukrainischen Grenze kaum benutzt werden und trotzdem unterhalten werden müssen. Ja, und wäre da nicht die Tatsache, dass die daheimgebliebene Landbevölkerung fast nur noch aus Kindern und alten Leuten besteht, die gar nicht Auto fahren können oder dürfen (wenn sie sich denn überhaupt Autos leisten können) und sich vorwiegend mit Hilfe kleiner Einspänner fortbewegen. Ich weiss nicht genau, was sich die EU-Bürokraten in ihrem Subventionseifer überlegt haben. Mit dem ganzen Geld, das hier infrastrukturell verlocht wurde, hätte man eine Brücke zum Mond bauen oder den Wahnsinnspalast von Ceausescu um 100 überflüssige Stockwerke erweitern können. Das wäre sinnvoller gewesen. 

 

November 2013