Im Baumgärtli

Als meine Eltern mit mir, der ich schon gehen konnte, und meiner Schwester, die im Handgepäck transportiert wurde, in das Doppelhaus 6a/6b einzogen, stand die Wohnung nebenan noch leer. Man war dort in einen Rückstand geraten, und die Innenarbeiten waren noch in vollem Gang. Es werden wohl die üblichen, der Schlüsselübergabe unmittelbar vorangehenden Verputz-, Anstreich- und Verkabelungsarbeiten gewesen sein. Eine bewusste Erinnerung daran habe ich nicht. Aber man erzählte mir später oft, ich sei bei jeder Gelegenheit entwischt, um den Handwerkern Gesellschaft zu leisten, die sich einen Spass daraus machten, mir einen Helm aufzusetzen, unter dem ich fast verschwand. In die fertige Wohnung zog schliesslich ein älteres Paar ein, wobei wir immer nur die Frau zu Gesicht bekamen, eine zierliche Dame mit Trockenhaubenfrisur und einem weissen Pudel, mit dem sie mehrmals täglich aus der Haustüre trat. Wenn jemand von uns im Vorgarten war, grüsste sie freundlich und schimpfte mit dem Pudel, weil er an der Leine zog. Er wollte uns beschnuppern, sich von uns streicheln lassen. Hier setzen die ersten Erinnerungen ein. Frau Graf, so hiess unsere erste Nachbarin im gleichen Haus, sehe ich noch deutlich vor mir. Und auch ihren Pudel, den ich als schneeweissen Pudel vor mir sehe, obwohl ihn meine Eltern später immer als grau oder grauschwarz beschrieben haben, was vermutlich daran liegt, dass die Nachbarn auf der andern Seite, die Ruppens, ebenfalls einen Pudel gehabt haben, keinen weissen, wie ihn meine Eltern später beschrieben haben, sondern einen grauen oder grauschwarzen. Hier steht Aussage gegen Aussage, und ich lasse das wohlweislich unentschieden. Man weiss ja, wie unzuverlässig das Gedächtnis arbeitet, vor allem das Langzeitgedächtnis. Was wir im Langzeitgedächtnis mit uns herumtragen, ist kein Sammelsurium von Tatsachen. Es ist ein Märchenbuch. Es war einmal... Es war einmal ein Pudel. Der war schwarz. Oder vielleicht doch eher weiss? Oder grauschwarz? Der Pudel-Fall ist bis heute ungelöst. Wenn ich an die frühe Baumgärtli-Zeit zurückdenke, erinnere ich mich vor allem an die Bauarbeiten - und an das Ewig-Dauernde dieser Bauarbeiten. Kaum waren die Arbeiten im Haus beendet, wurde auf der Strasse weitergearbeitet. Es wurde gegraben, gebaggert, gewühlt, zugeschüttet und planiert. Und kaum war das getan, begann man wieder von vorn, nur ein bisschen woanders, ein paar Schritte weiter vorn oder hinten. Sobald ein Strassenabschnitt für die Teer- oder Asphaltdecke hergerichtet war, wurde er aufgegraben, weil eine Röhre ausgewechselt werden musste. Und kaum war die Röhre ausgewechselt, die Grabungsstelle zugeschüttet und die Oberfläche erneut flachgeklopft, musste auch die Anschlussröhre ausgewechselt werden, und so wurde gleich nebenan ein neues Loch gegraben, mit einem neuen Erdhaufen, der dann auch wieder schrumpfte, wenn das Loch zugefüllt werden musste. Weiter hinten, beim letzten Haus, wo die Wiese anfing, lief womöglich immer noch ein Zementmischer. Womöglich war das Haus dort immer noch eine Baustelle, überragt von einem Kran und voller Bauleute. So genau weiss ich das nicht mehr, aber ich weiss noch, dass ich einen Erdhaufen bestaunte, der neben unserer Eingangstreppe aufgeschüttet worden war. Er war einer von vielen, aber den einzigen, den ich bestaunte. Zu ihm hatte ich ein besonderes Verhältnis, zu den andern Erdhaufen nicht. Er war weder viel grösser noch kleiner als die andern, seine Grösse war durchschnittlich, und auch seine Form war wie eine Zusammenfassung aller andern Erdhaufen. Er war exemplarisch, nicht einzigartig, nichts an ihm war auffallend oder herausragend. Er war lediglich allgemeingültig, also ziemlich gewöhnlich. Bis auf den Punkt, dass dieser Erdhaufen mein Erdhaufen war. Ich hatte ihn zu meinem Erdhaufen erkoren, und das machte ihn dann doch irgendwie einzigartig. Täglich fesselte er meine Aufmerksamkeit. Ich blieb stehen, um ihn anzuschauen, und am folgenden Tag war ich wieder da, und er war auch da, und ich schaute ihn an, und es war noch der gleiche Erdhaufen wie gestern und vorgestern, und ich gewöhnte mich an ihn. Es spielte sich da etwas ein. Ich hatte jetzt einen Erdhaufen, der meiner war. Das wurde zur Normalität. Ich kam aus der Haustür heraus, im Regenmäntelchen, im Wollmäntelchen, im Ringelpulli oder in Latzhosen, keine Ahnung, was ich damals anhatte, und etwas vom Ersten, was ich sah, war dieser Erdhaufen. Schon nach kurzer Zeit muss er mir sehr vertraut gewesen sein. Er rückte nicht von der Stelle; da oben, rechts neben der Eingangstreppe, fügte er sich als etwas Selbstverständliches in die Umgebung ein. Er war etwas, das ich kannte und täglich wiedererkannte. Und es war meiner. Und ja, irgendwann verschwand er, er war nicht für die Ewigkeit gemacht gewesen, man hatte ihn hingeschaufelt und nach relativ kurzer Zeit (einer Wochen vielleicht) wieder weggeschaufelt, die Arbeit musste vorangehen, die Erde wurde gebraucht, und irgendwo in der Nähe entstand ein neuer Erdhaufen. Wie auf einem Geysirfeld schien der Boden lebendig zu sein und sich ständig zu verändern. Mal wuchs etwas in die Höhe, mal senkte sich etwas ab. Die Strasse war noch im Rohzustand, im Sommer staubig, im Winter matschig. Und es lagen Bretter herum, auch Sachen wie Plastikfolien, Kabelrollen und Styroporteile. 

Die Bilder aus dieser Zeit sind undeutlich, polaroidmässig verwaschen, und vieles überlagert sich mit Fotos und Super8- Aufnahmen, auf denen noch viel von der anfänglichen Baustelle zu sehen ist: kahle Gärten und frisch verputzte Häuser, Barackenstimmung. Vor meinem Zimmer eine Kraterlandschaft, in der sich eine ruckelnde Baggerschaufel ins Erdreich wühlt. Die Kargheit des Anfangs. An das alles erinnere mich nur noch vage. Deutlich erinnere ich mich aber noch an die Sache mit den Haselnüssen. Arbeiter hackten und schaufelten in einer knietiefen Grube, nicht weit von unserm Vorgarten entfernt. Einer von ihnen, schmutzig, hager und braungebrannt, Südländer, vermutlich Spanier, schlug mit einem Hammer Haselnüsse auf. Er sass auf einem Zementsack neben der Baustelle. Die Nüsse hatte er auf einem Holzblock zurechtgelegt. Mit dem Hammer bearbeitete er sie ohne besondere Kraftanstrengung, aber sehr konzentriert, als wäre das Nüsseaufschlagen seine einzige Aufgabe. Ich stand daneben und schaute zu. Als er ein paar Nusskerne herausgeschlagen hatte, trennte er sie säuberlich von den zersplitterten Schalen. Er sagte etwas, das ich nicht verstand, und legte die Nüsse in meine Hand, bevor er ein paar neue aufschlug. Zu diesem Zeitpunkt, ich war drei oder vier Jahre alt, lernte ich eben die neue Umgebung kennen, die langsam ihre spätere Gestalt annahm. Das Wichtigste war die Strasse zum Spielen. Bald darauf war meine Schwester alt genug, um mitzuspielen und dabei zu sein, auch wenn sie anfangs noch etwas stummelbeinig unterwegs war. Wenn ich ein Zwerg war, so war sie ein Zwerglein. 

Bald war die Strasse auch wirklich eine Strasse zum Spielen. Sie wurde uns übergeben. Das Baumgärtli war jetzt unsere Strasse. Genaugenommen war es nur der hintere Strassenabschnitt, der neu war. Mit ihm hatte man die drei neu gebauten Häuser (zwei Doppelhäuser und das Haus der Aenishänslins) an das schon bestehende Baumgärtli angestückt. Eine Vervollständigung, die dann doch irgendwie in der Luft hängen blieb. Wirklich vollständig war das nicht. Eine unfertige Strasse, vage auslaufend, als hätten die Strassenarbeiter während einer Znüni- oder Mittagspause die Lust am Weiterarbeiten verloren und nach einer kurzen Beratung beschlossen, sämtliche Arbeiten einzustellen, um etwas Gescheiteres zu machen. Vielleicht hatten sie eingesehen, dass es vergebliche Mühe war, die Strasse fortzuführen, es gab hier nichts, wohin man sie hätte führen können, es war nur eine Nebenstrasse, keine Haupt- oder Verbindungsstrasse. Und so führte die Strasse einzig und allein dorthin, wo man umkehren musste. Sie endete quasi an einem Schild mit abwärts gebogenem Pfeil. Als Fussgänger konnte man immerhin auf einen halbprivaten Verbindungsweg ausweichen. Zwischen den äussersten beiden Häusern gab es eine schmale Treppe, über die man, wenn man einigermassen trittsicher und schwindelfrei war, bequem ins Dorf hinabkam. Doch für Fahrzeuge war hier Endstation. Mit den Trottis und Velos fuhren wir ostwärts bis zum Haus der Aenishänslins, und manchmal holperten wir noch ein paar Meter weiter. Das Mountainbike, eine Erfindung aus dem Jahr 1973, war damals noch völlig unbekannt, die Amerikaner kurvten mit einem Jeep auf dem Mond herum, aber geländegängige Velos gab es noch nicht, jedenfalls nicht bei uns, und selbst mit einem geländegängigen Velo wäre es schwierig gewesen, gegen die Hangschräge und das zum Teil recht hohe Gras anzukommen. Hier war die Fahrt zu Ende, und was für unsere Trottis und Velos galt, galt mehr noch für die vierrädrigen Fahrzeuge, für die Autos von Anwohnern und Besuchern, für den Müllwagen, den Postwagen, den Tanklastwagen, den Milchwagen, den roten Mini-Transporter des Kaminfegers und die Firmen- oder Betriebswagen der Handwerker, die immer wieder mal im hinteren Baumgärtli zu tun hatten. Vom Heizungsmonteurswagen bis zum Plättlilegerwagen, alle diese Fahrzeuge mussten, wenn sie nicht schon vorher umkehrten, spätestens hier kehrt machen und rückwärts rausfahren. Oder ein Stückweit zurücksetzen und auf dem Garagenvorplatz der Dills möglichst diskret wenden. Wenn man Glück hatte, war die Kette nicht vorgehängt, mit der der alte Dill seinen Platz vor spielenden Kindern und wendenden Autos schützte. Nach dem Hinausfahren vergass er sie oft wieder einzuhängen oder liess es aus Bequemlichkeit bleiben, und wer sich an dieser Aufhängung nicht eigenmächtig zu schaffen machen wollte und auch keine Lust hatte, in den Rückwärtsgang zu schalten, war dankbar dafür. Wo der Asphalt aufhörte, gab es nur noch etwas Lehm und Geröll und dahinter die Landschaftskulisse von Ormalingen mit den vielen Obstbäumen und dem frühen Licht der aufgehenden Sonne. 

So schön das auch war, es lag keine Absicht darin, die Weiträumigkeit hatte sich eher zufällig ergeben. Das Baumgärtli war ziemlich dumm in die Landschaft hineingewalzt worden, direkt über der Bahnlinie und an einem Steilhang, den man wohl nur deshalb eingezont hatte, weil man ihn landwirtschaftlich nicht gut nutzen konnte. Der Baumgarten, der dem Baumgärtli den Namen gegeben hatte, war zwar verschwunden, aber der Baumbestand hatte sich keineswegs verringert. Selbst vom Bahnhof aus sah man (und sieht man bis heute) hinter der Staffelenbrücke eine Menge Bäume am Hang, eine ungewöhnliche Baumanhäufung. Östlich vom Baumgärtli gab es durchaus noch Obstbäume, wenn auch keine eigentliche Obstbaumkultur oder Gartenanlage. Wo die Siedlungszone aufhörte, nahm der Baumbestand merklich ab. Man kam aufs offene Land hinaus. Rings um die dortigen Obstbäume wuchs üppiges Gras, das immer wieder gemäht werden musste, an dieser Steillage mühsam mit einer Sense oder einem kleinen Motormäher, was keinen Gewinn abwarf, aber trotzdem wichtig war, weil man das Obstland ja nicht verwildern lassen konnte. Und es fehlte jede logische Fortführung. Nicht nur für das Baumgärtli, sondern auch für die Parallelstrasse, das obere Baumgärtli, das ebenfalls eine Sackgasse war. (Oder Kackgasse, wie meine Schwester sagte, als sie noch Windeln trug). Das eingeplante Bauland blieb zum grössten Teil unerschlossen, nicht für immer, wie ich heute weiss, aber doch für eine sehr lange Zeit. Fast meine ganze Kindheit hindurch war jede Quartierserweiterung auf Eis gelegt. Alles blieb, wie es war: im Wartezustand. Am östlichen Strassenende war man mit einem Schritt im Landwirtschaftsgelände. Grasbüschel und immer mehr Grasbüschel. Maulwurfshaufen. Und hie und da ein Obstbaum mit einer auffliegenden Krähe. Misteln in den Baumkronen, die kaum gepflegt wurden, das Obst verfaulend am Boden. Weiter oben, gegen den Farnsbergweg und die Allersegg-Höfe zu, ein paar Äcker und ein Scheinweglein für den Traktor, die Pflugmaschine und den Güllenwagen. Unterhalb des Wegs, der bis zu den obersten Häusern Farnsbergweg hiess und ab dort als namenloser Wanderweg dem Wald zustrebte, erstreckte sich ein Gebiet mit unklaren Zuteilungen und Wegverläufen. Ging man vom Baumgärtli aus dem Berg entlang weiter, wurde die Orientierung zunehmend schwieriger. Hier begann der wilde Osten, eine Gegend, die uns vorkam wie die Innere Mongolei. Zerfallene Scheunen, wenige Kuhweiden, etliche Obstbauversuche und seltsam brachliegende Felder, bei denen nicht so klar war, ob noch etwas mit ihnen gemacht wurde oder ob man sie aufgegeben hatte, um das Dorf mit neuen Strassen zu erweitern, für die man erst noch einen Namen finden musste, und neuen Häusern, die aussahen wie aus dem Versandkatalog von Möbel Pfister. Geplant war ja vieles. In jedem Kaff, auch in Ormalingen, enstanden neue Wohnquartiere, sogenannte Neubauquartiere, die Landflucht war in vollem Gang. Noch gab es genügend Land, auf das man fliehen konnte, eigentlich fast zu viel, man konnte es freizügig verteilen. Wer sich ein Häuschen "im Grünen" bauen wollte, hatte die grösstmögliche Auswahl. Man tippte blind auf eine Landkarte, und dort stand dann das Häuschen. Und das war auch richtig so! Von dem vielen Grün bekam man fast den Koller. Es gab hier einfach zu viel Land, zu viel Natur, zu viel Fallobst, zu viel Geschmeiss, zu viel Dreck, zu viel Gras. Richtung Ormalingen, als würde das niemals mehr aufhören, ein Wiesenabhang nach dem andern, mit vereinzelten Höfen (Homberger Hof, Gaishof, Rötlerhof, Stellihof), und das alles zog sich bis nach Hemmiken und zum Junkerschloss, wo man ins Fricktal hinabkam, das nicht mehr zum Baselbiet gehörte, was man schon an den Ortsnamen merkte, die wie Hals-, Nasen- oder Ohrenkrankheiten klangen: Gipf, Frick, Zuzgen, Mumpf, Obermumpf, Bözen, Schupfart etc. etc. Östlich vom Junkerschloss begann ein anderer Kanton, und lange Zeit glaubte ich allen Ernstes, das Junkerschloss sei ein Ritterschloss mit Zugbrücke, Halsgraben, Türmen und Schiessscharten. Eine Art Grenzbefestigung. In Wirklichkeit steht dort lediglich ein Bauernhof, und als ich das herausfand, war ich gelinde gesagt etwas enttäuscht. Der Osten war für mich vor allem eine Enttäuschung. Östlich von Ormalingen ging die Sonne auf. Ansonsten war dort kaum etwas los, die Landschaft schien in einem ewigen Schlummer zu liegen. Ab und zu ein Rotmilan, im Wind schaukelnd wie ein Papierdrache, und nachts eine tiefseeartige Dunkelheit, in der allenfalls noch Katzen und Marder unterwegs waren, aber sicher keine Menschen. Menschen müssen die Nacht zum Tag machen, wenn sie nicht mit der Sonne ins Bett gehen wollen. Tiere haben es da leichter, viele von ihnen sind nachtaktiv. Sie mögen es dunkel und heimlich. Hie und da kam ein Fuchs vom Farnsberg herab, wahrscheinlich mit Tollwut. Auch das gehörte zur Natur. Und hie und da ein Reh oder Rehkitz, das sich im hohen Gras versteckte. Wie in Felix Saltens "Bambi", jener rührenden, aber nicht rührseligen Tiergeschichte, aus der uns Mutter vor dem Einschlafen manchmal vorlas, gab es hier eine Welt neben der Menschenwelt. Wälder und Wiesen, soweit das Auge reichte. Und in jedem Wald- und Wiesenwinkel, auf jeder Lichtung und in jedem Dickicht das heimliche Leben der Tiere, die sich von uns nicht stören lassen wollten. Und gerade deshalb war diese Gegend auch ein bisschen trostlos. Gut, für uns Kinder mag das ein Paradies gewesen sein. Täglich durften wir auf der Wiese herumtollen. Das war uns selbstverständlich erlaubt. Wir wurden nicht in Käfigen gehalten wie die Stadtkinder. Bei uns galt die Ausgelassenheit des Rennens und Jagens - das Herumtollen im Freien - als etwas Natürliches, nicht als Hyperaktivität. Wir hatten immer genügend Auslauf. Dennoch blieben wir in erreichbarer Nähe. Niemals wären wir wie Tom Sawyer und Hucklebberry Finn auf die Idee gekommen, das Bündelchen zu packen und ins Unbekannte loszuziehen. Dafür war die östliche Gegend viel zu unbestimmt und auch nicht interessant genug, es war ja keine Wildnis mit Indianern und Sümpfen. Der Osten war öd und etwas verschnarcht, keine Gegend für Entdeckungsreisen. Es fehlte ihm jeder exotische Reiz, jedes abenteuerliche Flair, auch wenn wir die Ormalinger, unsere östlichen Dorfnachbarn, als Olmeken und die Rothenflüher, die das übernächste, von hier aus schon nicht mehr sichtbare Dorf im hintersten Talwinkel bewohnten, als Rothäute bezeichneten. Der Osten war eine Gegend, die uns verschlossen blieb, anders als der Westen, wo es nach Sissach, Liestal und Basel ging, ins Offene und in die Welt hinaus. Ostwärts überschritten wir die Dorfgrenze nur selten. Bis zum Markstein auf dem Abhang schräg gegenüber der Pneufabrik Maloja gehörte noch alles irgendwie zum Baumgärtli. Für uns war das weit genug. Hier ging jede Abenteuerfahrt zu Ende, und das ganze Gebiet weiter östlich mit den Feldern bis zum Junkerschloss hinauf und der mehr oder weniger freien Sicht auf den Wischberg und die Rote Fluh war eine tolle Kulisse für jedes gespielte Abenteuer, aber nicht das Abenteuer selbst. 

Das Haus, für das meine Eltern eine Hypothek aufgenommen hatten, war eigentlich nur die Hälfte eines Hauses, eine von zwei Wohneinheiten im selben Haus, das in zwei identischen Ausführungen errichtet worden war, als zwei Doppelhäuser, die ein Doppelreihenhaus ergaben. Doch die einfache und einfach zu duplizierende Architektur täuschte. Wird aus einer Wohnung, mal zwei genommen, ein Doppelhaus und aus einem Doppelhaus, ebenfalls mal zwei genommen, ein Doppelreihenhaus, so verdoppeln sich jeweils auch die Fehler. Beim Rückblick auf den Hausbau sagte Vater manchmal, der Architekt habe seiner Intelligenz freien Lauf gelassen. Kurz vor der Aufrichte stellte sich heraus, dass das Doppelreihenhaus zu hoch, bzw. das Dach zu steil geraten war. Die Nachbarn auf der andern Strassenseite (vermutlich die Dills) sahen sich auf einmal ohne Aussicht. Und ihr Sonnenanteil hatte sich dramatisch verringert. Der zu hoch gebaute Dachstuhl wurde lautstark beanstandet. Er verstiess gegen die Auflagen, und sämtliche Wohneigentümer und Baulandverkäufer, die in dieser Sache auch nur im entferntesten mitzureden hatten, liefen Sturm. Die Aussicht war das entscheidende Kriterium für den Marktwert. Und der Sonnenanteil (Südsicht!) war ein nicht zu vernachlässigendes Extra. Es gab sehr viel böses Blut, es gab Einsprachen, Expertisen, Beratungen, Stellungnahmen, eine rechtskräftige Entscheidung wurde gefällt, es gab unwillige Bauleute, ein Architekt, der sich wie ein Architekt verhielt, ein Bauleiter, der sich wie ein Bauleiter verhielt, der eine Pfusch kam zum andern hinzu, fachbedingte Blindheit paarte sich mit Schludrigkeit und Engstirnigkeit, die Beratungen nahmen kein Ende, jeder, der mit der Planung und Ausführung beschäftigt gewesen war, wollte das Problem schon frühzeitig erkannt haben, der eine brachte dies vor, der andere das, man schob sich gegenseitig die Verantwortung zu, man verlor wertvolle Zeit, man vergeudete Geld, die Bank wollte wissen, was da im Rahmen der Eigenheimfinanzierung eigentlich lief, der Architekt verschob seine Flitterwochen, der Bauleiter verkürzte seinen Urlaub, man raufte sich zusammen, alles musste nochmals aufgerollt und überdacht werden, überdacht im doppelten Wortsinn, das Dach musste neu entworfen werden, mitsamt dem ganzen obersten Stockwerk, das alles dauerte an, wurde immer ärgerlicher, der Bauleiter holte seinen Urlaub nach, der Architekt seine Flitterwochen, die Sache blieb bis auf weiteres liegen, der Winter brach an, ungünstig für den Dachbau, und endlich tat sich wieder etwas, wenn auch stockend, es war der Wurm drin, es harzte an allen Ecken und Enden, keiner traute dem andern über den Weg, es gab wütende Nachbarn, pingelige Beamte, überforderte Handwerker, - und mittendrin meine Eltern, beide noch jung, beide strebsam, mit knospenden Zukunftshoffnungen, mit einer geschulterten Hypothek, mit einem Kind und in Erwartung eines zweiten, und vor allem mit dem Gedanken: das fängt ja schon gut an... Die versehentlich entstandene Höhe musste zurückgebaut werden, der Bau wurde zum Rückbau, ein ganzes Stockwerk schrumpfte weg, Balken für Balken, wie in einem rückwärts laufenden Film. Unter der Leitung des Architekten, der auf der Baustelle mit seinem neuen Plan herumstapfte und alles noch komplizierter machte, als es ohnehin schon war, wurde der Dachfirst etwas tiefer gesetzt, der spitze Winkel wurde stumpf, und der Estrich wurde zu einem fensterlosen, muffigen Kämmerchen, in dem man den Kopf einziehen und geduckt oder kriechend den Lichtschalter suchen musste. Niemand hatte diesen Estrich beabsichtigt, so wie auch in Berlin niemand beabsichtigt hatte, eine Mauer zu bauen, es aber notfallmässig dann doch getan hat. Der Estrich war da, und jetzt musste man ihn einer praktischen Verwendung zuführen. Man konnte darin das Schuhschränkli, die Wintersachen, die Schlafsäcke und die Gepäckstücke unterbringen, man konnte alles Mögliche darin unterbringen, vor allem ausrangierte oder selten benutzte Sachen. Der ideale Abstellraum für Sachen, die man nicht gleich fortwerfen wollte, die man provisorisch versorgte und dem seligen Vergessen überliess, bis man sie eines Tages auf der Suche nach irgendetwas anderem wiederfand. Und das war dann meistens der Zeitpunkt, wo man sich definitiv davon trennte, weil das Wiedergefundene eigentlich in den Abfall gehörte. In den Abfall gehörte auch der Estrich, der ganze Raum war ein Abfallprodukt. Er war für Lurche gemacht, nicht für Menschen. Anfänglich, als ich noch klein war, fiel mir das gar nicht so auf. Später betrat ich den Estrich nur noch, wenn ich unbedingt musste. Ab einer Körpergrösse von 1.50 m schlug man den Kopf an, holte sich beim Bücken eine Zerrung und tastete weit unten nach dem Lichtschalter, fluchend, weil das Licht ja erst anging, wenn man ihn gefunden hatte. Wir trugen es mit Würde. Dieser unselige Estrich war nun mal da, nach objektiven Massstäben eine Baukorrektur, nach subjektiven Massstäben wohl eher eine Verschlimmbesserung, ein Mahnmal grundmenschlicher Inkompetenz. Wir lebten damit und waren sogar ein bisschen stolz darauf. Immerhin lebten wir in einem fertigen Haus. Zu guter Letzt war das Haus, wie es in einem Film von Laurel und Hardy so schön heisst, "überraschend und ohne ersichtlichen Grund fertiggebaut worden". Immer wenn ein paar Leute bei uns zu Besuch waren, stand eine Besichtigung des Estrichs auf dem Programm. Vater liebte es, Gruppenführungen zu veranstalten. Er machte auch kräftig Werbung dafür. Nach dem Essen führte er die Gäste ins obere Stockwerk hinauf. Er liess sie durch die niedrige Estrichtür vorangehen, und jedes Mal sagte er: "Vorsicht! Kopf einziehen!" Und so zwängten sich die Gäste in eine pechschwarze Dunkelheit hinein, während Vater, neben dem Türrahmen kauernd, den Lichtschalter suchte und über das Wunder dieses Raumes referierte, als befände man sich in der Sixtinischen Kappelle.

 

2019