Der Fall Hirschhorn

 

Ein Thesenpapier

 

Gottfried Benn hat schon in den Zwanziger Jahren darauf hingewiesen, dass in einer Gesellschaft, in der Kunst nicht mehr essentiell genug ist, um die Menschen packen zu können, der Staat durch Einsatz von Subventionsmitteln die Betriebsamkeit von Kultur aufrecht erhält, um den Schein zu wahren. Wo Kunst überflüssig ist, wird sie gefördert. Was Kunstförderung weder fördern noch garantieren kann, ist die künstlerische Relevanz. Die Notwendigkeit, Kunst zu machen.

 

Ein übertriebener Kultursubventionismus führt dazu, dass die Inhalte der Kunst beschnitten werden. Man fördert das, was als förderungswürdig erkannt wird: eine bedenkliche Tautologie. Wenn gesellschaftliche Funktionsträger in Institutionen und politischen Gremien darüber entscheiden, was künstlerisch relevant sein soll und was nicht, ist das ungefähr so, als wollte man darüber abstimmen, ob Wasser aufwärts oder abwärts fliessen soll. Man befindet über etwas, das niemals und unter keinen Umständen irgendeiner Entscheidung unterliegt. Ausserdem erzeugt der künstliche (nicht künstlerische!) Selektionsdruck eine falsche Selbstgewissheit. Wer einen förderungswürdigen Status erlangt hat, sieht sich als Künstler bestätigt und legitimiert. Ich bin Künstler, weil man mich finanziell unterstützt. Auch das ist ein Zirkelschluss, ein Denkfehler. Auf gesellschaftlicher Ebene sowieso. Dass der Staat Geld locker macht für etwas, das eigentlich unnötig ist, sollte nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden. Geschweige denn als Legitimationsgrundlage. Kunst ist zwecklos. Daraus bezieht sie ihren besonderen Status. Aber gerade das ist es, was viele heutige Künstler dazu verleitet, sich selbst und den Wirkungsgrad von Kunst zu überschätzen. Mit dem Ergebnis, dass sie sich nicht durch den inneren Anspruch der Kunst legitimiert sehen, sondern durch die Wertschätzung von aussen.

 

Thomas Hirschhorn ist kein Hätschelkind der Kunstförderung. Er ist ein Selfmade-Man, der jahrelang auf dem Boden geschlafen hat, weil er sich kein Bett leisten konnte. Ohne Stipendien, ohne IAAB, ohne Pro Helvetia hat er sich zielstrebig nach oben gearbeitet. Aufgrund seines Werdegangs kann ihm die staatliche Budgetkürzung ziemlich egal sein. Es sind die falschen Künstler, die ihn jetzt zum Aushängeschild ihrer Subventionsforderungen machen. 

  

Man kann sich zu Hirschhorn stellen, wie man will: ein Hochstapler ist er nicht. Andererseits sollte man ihn auch nicht glorifizieren. Er ist kein Agent provocateur - und kann es auch gar nicht sein. Sein Schaffen ist wohl gesellschaftskritisch, aber nicht subversiv. Da Kunst heutzutage in einem hermetisch definierten Kontext erzeugt und gezeigt wird, ist es unmöglich, sie als subversiv zu verstehen, egal, was sie anstellt. Künstlerische Provokationen verpuffen, sobald sie als Kunst erkennbar sind. Dass Hirschhorn jetzt plötzlich als Nestbeschmutzer dasteht, liegt nicht so sehr an seiner Kunst, die vielleicht andernorts überhaupt keinen Staub aufgewirbelt hätte, sondern vielmehr an der spezifischen Ausstellungssituation. Ein namhafter Künstler tritt mit finanzieller Unterstützung der Pro Helvetia im Ausland als Repräsentant der Schweizer Kultur auf. Ich sage sehr bewusst: Repräsentant. Der Rahmen dieser Ausstellung und der Hintergrund ihrer Finanzierung hat die offizielle Repräsentation und ihre Konsequenzen sozusagen zementiert. Es handelt sich um eine simple Interessenskollision. Mit Kunst hat das nur zufällig zu tun. Ausserdem ist mit diesem Fall eine grossangelegte Medieninszenierung verbunden. Der “Skandalkünstler Hirschhorn” ist ein Medienprodukt - und eigentlich gar kein so schlechtes. Hirschhorn wird mit seinen Arbeiten phantastische Preise erzielen. "Skandalkunst": da schlägt des Sammlers Herz höher!

 

Die meisten Parlamentarier in Bern machen sich nicht sonderlich viel aus Kunst. Sie haben andere Sorgen. Und insofern repräsentieren sie die gesellschaftliche Realität. Die Mehrheit der Bevölkerung braucht keine Kunst. Bei den Künstlern ist das anders. Sie brauchen die Kunst. Weil sie Künstler sind. Logisch. Sie leben von der Kunst. Und der Staat fördert sie nach dem Giesskannen-Prinzip. Ihre Freiheit ist eine Freiheit auf Staatskosten. Und wenn dieser Staat nun einwandfrei legal beschliesst, das Budget von Pro Helvetia ein bisschen zu kürzen, so schreien sie unisono: „Tyrannei! Die künstlerische Freiheit steht auf dem Spiel.“

 

Als ob künstlerische Freiheit käuflich und organisierbar wäre! Der allgemeine Aufschrei in der Kunstszene verrät einen empfindlichen Mangel an Selbstreflexion.

 

Heinrich Böll: “Was sie (die Kunst) braucht, einzig und allein braucht, ist Material - Freiheit braucht sie nicht, sie ist Freiheit; es kann ihr einer die Freiheit nehmen, sich zu zeigen - Freiheit geben kann ihr keiner; kein Staat, keine Stadt, keine Gesellschaft kann sich etwas darauf einbilden, ihr das zu geben oder gegeben zu haben, was sie von Natur ist: frei.” (“Die Freiheit der Kunst”, Dritte Wuppertaler Rede am 24.9. 1966)

 

Bölls Aussage lässt den Umkehrschluss zu, dass die Kunst die Verantwortung für ihre Freiheit nicht von sich abwälzen kann. Sie ist an sich frei. Verliert sie ihre Freiheit, so ist sie selberschuld. Es gibt keine politischen oder institutionellen Instanzen, die ermächtigt wären, künstlerische Freiheit zu bewilligen oder zu gewährleisten. In Verkennung dieser Tatsache wird oft so getan, als wäre Kunst eine Angelegenheit, die der unablässigen Betreuung bedarf. Zahllose Kommissionen und Organisationen stellen mittels Abstimmungen, Beschlüssen, Diskussionsforen und Budgetplänen Rahmenbedingungen her, die es der Kunst angeblich erlauben, sich mit der grösstmöglichen Autonomie frei zu entfalten. Doch was geschieht hier wirklich? Das Feld der künstlerischen Freiheit wird ausgemessen und abgesteckt, und die Künstler dürfen es dann im Vollgefühl ihrer offiziell verbrieften und besiegelten Freiheitsrechte beackern. Offen gesagt: eine Kunst, die unter solchen Rahmenbedingungen entsteht, ist von Grund auf unfrei. Viele Kunstfunktionäre und Subventionskünstler empfinden künstlerische Freiheit jenseits ihres Systems als Zumutung. Deshalb deklarieren sie ihre Unfreiheit als Freiheit und dramatisieren eine vielleicht gar nicht so unnötige Budgetkürzung als böswilligen Angriff auf die Freiheit der Kunst.

 

Man kann diesen politischen Schachzug kritisieren. Aber bitte: mit den richtigen Argumenten, mit dem richtigen Gegenzug. Die Freiheit der Kunst steht definitiv nicht auf dem Spiel.

 

Pseudoavantgardistische Selbstbeweihräucherungen im Stil von „Die Kunst ist Störung, die Kunst ist unbequem!“ sind derzeit oft zu hören. Solche Floskeln gehen an der Realität vorbei. Die Künstler müssten sich ihre Niederlage eingestehen. Kunst stört schon längst niemanden mehr. Man kann froh sein, wenn sie nicht langweilt. Den subversiven Impetus hat sie sich selber ausgetrieben - eben dadurch, dass sie ihn zur Kunst erklärt hat, zum Courant normale, der zu schützen und zu bewahren sei. Und der von sehr viel Geld abhängt. Die heutigen Künstler sind so subversiv wie eine Geisterbahn. Es ist alles nur aus Pappe. Und man bezahlt schön brav Eintritt. Ich weiss, Denken ist nicht ihre Stärke. Trotzdem sollten sich die Künstler vielleicht hie und da Gedanken machen über die institutionellen und finanziellen Bedingtheiten ihrer Kunst. Sie agieren nicht unabhängig, und wenn sie sich als kritische Geister aufspielen, so tun sie das nicht als Spielverderber, sondern als Günstlinge eines ausgefeilten Kunstförderungssystems.

 

Unsere Künstler wissen gar nicht, wie verwöhnt sie sind. Manchmal machen sie ein bisschen auf halbstark. Aber sobald ihnen die Mutter das Butterbrot wegnimmt, fangen sie an zu quengeln. Das Dumme an unserer Demokratie ist eben, dass sie funktioniert. Die Mehrheit bestimmt. Ich sage nicht, dass die Mehrheit immer recht hat. Demokratische Beschlüsse sind strittig, um sie soll gestritten werden, Opposition wird ja zugelassen, und eigentlich spricht es für unsere Demokratie, dass die Kunstförderung auch mal sabotiert werden kann. 

 

Ist das tragisch? Nein, ist es nicht. Das ewige Hin und Her gehört zur Politik. Macht ist keine feststehende Grösse, sondern ein Kräftespiel mit Turbulenzen und Unwägbarkeiten. Blocher, der notorische Unruhestifter, ist für die Demokratie eine Chance, seine Wahl in den Bundesrat ein Glücksfall. Endlich ein Unbequemer an oberster Stelle. Hirschhorns Anti-Blocher-Reflex hat viel mit Neid zu tun. Da kann einer viel lauter herumstänkern als er, ein Politiker, der in der Politik das vollbringt, was die meisten Künstler nicht mehr zustande bringen: Unruhe zu stiften. Das Selbstbild des sozial denkenden, antikapitalistischen, kritisch-autonomen Kreativen ist schon längst zur Attitüde verkommen. Das Problem liegt darin, dass die Linke ihren "Geist des unabhängigen Einspruchs" in dem Masse verspielt hat, wie sie ihre Anteile am Kapitalismus sichern und ausbauen konnte. Da wird jeder Protest zur Farce, zum Gequengel eines beleidigten Kindes, das ein zu kleines Kuchenstück abbekommt. Im besten Fall ist das einfach nur peinlich. Nicht die Linken, sondern die Rechten hauen heute auf den Putz. Sie sind die eigentliche Avantgarde. Ihnen gehört die politische Zukunft. Das gefällt Hirschhorn nicht, es stellt sein Weltbild auf den Kopf.

 

Immerhin arbeitet Hirschhorn aus einem politischen Bewusstsein heraus, das in sich stimmig und konsequent ist. Er hat eine klare Linie. Das müssen ihm auch jene zugute halten, die ihm einen marxistischen Gesinnungskrampf unterstellen. Die meisten Künstler interessieren sich erst dann für Politik, wenn Subventionskürzungen anstehen. Auf einmal werden sie politisch und stimmen das übliche Anti-Blocher-Wehgeschrei an. Es ist jedoch eine objektiv feststellbare Tatsache, dass die Künstler von heute das Martyrium recht gut vermeiden können. Auf die Kunstförderung können sie sich verlassen, solange sie sich dem gut ausgebauten Kunstverwaltungssystem unterwerfen, den zahllosen Funktionären und Experten, die ihnen sagen, was Kunst ist und was nicht. Die Definitionshoheit ist streng geregelt, und die Künstler fügen sich in ihrem eigenen Interesse. Was für die Kunst nicht ohne Folgen bleibt. Ihre angebliche Autonomie ist ein Budenzauber, an den nur noch die Naiven glauben. Kunst als das Ergebnis von Planung, Verwaltung, Selektion und Schulung zu sehen, führt dazu, dass man - bildhaft gesprochen - nur noch Landwirtschaftsprodukte aus dem Gewächshaus zulässt: die normierte Tomate, die normierte Gurke. Aus dem Perpetuieren "herbeigeredeter" Kunstmuster entsteht wohl so etwas wie soziale Erwärmung, aber sicher nicht automatisch und zwangsläufig Kunst. 

 

 

2005