Globis Erstaugustrede

Am höchsten helvetischen Feiertag öffnet der bekannteste Schweizer Vogel seinen Schnabel und äussert sich zu Fragen, die uns alle bewegen: was ist Patriotismus? Was ist Heimat? Liegt die Schweiz in Europa? War Albert Schweitzer Schweizer? Und was ist die "Kohäsionskraft der Verflechtungen"?

 

Liebe Eidgenossen, liebe Eidgenossinnen, liebe Festgemeinde!

 

Ich bin der Globi. Ich bin es wirklich. Was Sie hier sehen, ist kein Ganzkörperkostüm; das bin ich selber, in eigener Person. Ich gehöre zu einer Untergattung der Papageien, wobei ich betonen möchte, dass ich durchaus den Schnabel halten kann, wenn es drauf ankommt. Ich bin zwar Schweizer, aber kein Schwätzer. Meine Talente liegen ganz woanders. Ich bin ein wandelndes Schweizer Sackmesser. Man kennt mich als Abenteurer, Pfadfinder und Problemlöser. Als Tausendsassa. Doch mein grösstes Talent ist das Talent, ein ewiger Schweizer zu sein. Papagei heisst auf Englisch "Parrot", und das klingt fast wie "Patriot". Bin ich ein Patriot? Das Praktische an rhetorischen Fragen ist: man muss sie nicht beantworten. Man kann sie einfach in den Raum werfen und davonlaufen, und die andern sollen dann selber schauen, wie sie klug daraus werden. Hier mache ich es anders. Schliesslich ist das eine Erstaugustrede. Ich möchte bei der Sache bleiben. Bei der Sache mit dem Patriotismus. Und deshalb frage ich nochmals: bin ich ein Patriot? Oder um die Frage noch ein wenig zu präzisieren: bin ich ein Schweizer Patriot?

 

Mit vaterländischem Pathos tun wir uns bekanntlich schwer. Wenn jemand das Schweizerkreuz als Standarte vor sich herträgt und dazu auch noch die Schweizerhymne singt, sagen wir gerne: "Der kann uns mal kreuzweise." Der landesübliche Patriotismus sieht anders aus. Er hat sich zu einem winzigen, aber unzerstörbaren Kern verdichtet, der sich gerne hinter einer alpenröseligen Heimatliebe versteckt. Diese Heimatliebe ist unschuldig, weil sie sich ja nicht zwingend auf den Staat beziehen muss. Insofern lässt sie sich denn auch gut vermarkten, zum Beispiel als Heidiland. Was aber ist Heimat? Und kann es sein, dass man als Schweizer auch dann ein Patriot ist, wenn man es gar nicht merkt? Kann es sein, dass in einem Land, wo jeder, Frauen eingeschlossen, andauernd sein Wahlrecht wahrnehmen darf, der Bezug zur Heimat auf einem mentalen Kitt beruht, gegen den man auch dann nicht ankommt, wenn man auf den Nationalismus pfeift? Dieser Kitt ist uralt und prägt auch die Art, wie man ihn wahrnimmt. Und deshalb kann man ihn auch nicht objektiv wahrnehmen. So wie man auch das eigene Bewusstsein nicht objektiv wahrnehmen kann. Sobald man hinter das Bewussten zu blicken versucht, mischt sich das Bewusstsein in die Frage ein, was dahinter sei. Wenn das Bewusstsein sich selber beobachten und beschreiben soll, verknotet es sich zu einem Wirrwarr. Mit der Schweiz haben wir Schweizer ein ähnliches Problem. Es ist wie bei Eschers Händen, die sich gegenseitig zeichnen. Woran kann man eine solche Heimat festmachen? Wie kann man hinter etwas blicken, das den Blick von vornherein lenkt? Gut, man kann irgendwo ansetzen, und das muss man wohl, um überhaupt eine Antwort geben zu können. Und meistens fällt diese Antwort dann eben sehr persönlich aus. Was ist Heimat für mich? Heimat ist für mich ein Ort gestaffelter, in sich verschachtelter Kleinteiligkeit, die mein Zuhause ist. Dieser Ort kann das Quartier sein, wo ich meine Müllsäcke vor die Haustüre stelle, oder die Gemeinde, in der ich meinen Stimmzettel in die Wahlurne werfe, oder der Kanton, in dem ich nach einem Beinbruch ins Spital gehe, falls ich dann noch gehen kann, es könnte die Landschaft sein, in der ich ein Picknick mache, wenn ich keine Lust habe, weiter fortzureisen, oder die reformierte Kirche, in der ich schon lange nicht mehr gewesen bin, und letztlich kann es auch der Staat sein, die Schweiz als Ganzes, vor allem dann, wenn ich in der kanadischen Wildnis einem Schweizer begegne und es plötzlich keine Rolle mehr spielt, dass der Andere ein Walliser ist und ich kein Wort von dem verstehe, was er sagt. Wenn wir miteinander in Kontakt kommen, egal, in welcher Weltgegend, finden wir sofort diese eine grosse Gemeinsamkeit: wir sind Schweizer. Spreche ich diesen Mit-Schweizer als meinesgleichen an, hebe ich das mehrteilige Identitätsgefühl hervor, das ich selbst noch in der kanadischen Wildnis mit mir herumtrage, mein kleines, unbedeutendes Schweizersein. So bin ich, ob ich will oder nicht, ein Patriot. Ich habe eine fixe Klammer, die ich bejahe, und diese Klammer ist die Schweiz. Fragt mich jemand in der kanadischen Wildnis, ob ich etwa auch Schweizer sei, so sage ich freudig "Hejo dänk." Damit erfülle ich eigentlich schon den Tatbestand des Patriotismus. Wenn ich in der kanadischen Wildnis einem Norweger oder Portugiesen begegne, kommt kein Heimatgefühl auf, bei der unverhofften Begegnung mit einem Schweizer hingegen schon, selbst wenn er aus dem fernen Wallis stammt, einem Kanton, den ich noch nie betreten habe und dessen Menschen mir so fremd sind wie die Hopi-Indianer. Auch wenn mich der grobknochige Walliser-Schädel ein bisschen befremdet, weil ich als Mittellandschweizer und Papageienvogel eine wesentlich weichere Birne habe, so verstehen wir uns doch auf Anhieb: fast wie Winnetou und Old Shatterhand. Sobald ich einen Juchzer ausstosse, juchzt der Walliser zurück. Sobald ich "Fondue" sage oder "Halbtax" oder "Pilatus" oder "Winkelried" oder "Polo Hofer", weiss der Walliser genau, was ich im tiefsten Inneren empfinde. Wir haben eine gemeinsame Empfindungswelt, und wir verfügen über Geheimwörter, die nur ein Schweizer versteht. Wir fühlen uns zusammengehörig. Wir sind Schweizer, auch wenn wir aus verschiedenen Kantonen stammen, verschiedene Dialekte sprechen, wenn nicht sogar verschiedene Sprachen, und kulturell und biologisch nur wenig gemeinsam haben. Der Volksstamm der Walser, dem der Walliser entstammt, und der Volksstamm der Papageien, dem ich selbst entstamme, haben sich über Jahrtausende hinweg nirgends berührt. Hier, in der kanadischen Wildnis, wo es zwischen den beiden Volksstämmen zu einer erstmaligen Begegnung kommt, geschieht nun ein patriotisches Wunder. Obwohl wir uns fremd sind, merken wir, dass wir etwas Wichtiges gemeinsam haben. Wir sind Schweizer - und damit auch so etwas wie Blutsbrüder. Wir haben eine fixe Klammer, die uns vereint. Und diese fixe Klammer lässt sich nicht so ohne weiteres auf den Kontinent übertragen. Es gibt kein gesamteuropäisches Identitätsmerkmal, abgesehen vielleicht von einem lose geschnürten Bündel an aufklärerischen und christlich-humanistischen Werten, die sehr vage sind und sich nur schwer auf einen geografischen Raum einschränken lassen. Der Bezug zur Schweiz und ihrer schneckenhausartig gewundenen Identität ist etwas völlig anderes, obwohl es ja auch nichts Natürliches ist. Die Anti-Patrioten und Blocherkritiker haben völlig recht, wenn sie den folkloristisch aufgepeppten Heimatbezug als Konstrukt bezeichnen. La suisse n'exist pas. Und doch ist die Schweiz vielleicht das Einzige, was von Europa in hundert Jahren politisch noch existieren wird, neben Grossbritannien natürlich. Wie die Europäische Union ist auch die Schweiz ein Konstrukt, aber damit hört die Gemeinsamkeit auch schon auf. Die Schweiz ist in sich austariert wie ein Uhrwerk, das nach fünfhundert Jahren höchstens eine Sekunde nachgeht. Im Gegensatz dazu lottert und wackelt die Europäische Union wie ein IKEA-Schrank, den man mit grossem Aufwand zusammengebaut hat, nur um zu merken, dass die entscheidende Schraube fehlt, die alles zusammenhält. Die Frage ist also nicht, ob natürlich oder konstruiert, denn weder die Schweiz noch die Europäische Union beruhen auf irgendwelchen natürlichen Grundlagen.

 

Worin liegt denn aber der alles entscheidende Unterschied? Weshalb erzeugt die Schweiz ein Heimatgefühl und die Europäische Union nicht? Und auch Europa nicht? Eine Einheit in der Vielfalt ist Europa nicht. Europa ist eine Vielfalt ohne Einheit. Daran haben auch die Lissaboner Verträge nichts geändert. Was nicht zusammengehört, wird niemals zusammenwachsen, sondern bestenfalls gedeihlich miteinander auskommen. In der europäischen Völkergemeinschaft gibt es schlicht nichts Verbindendes - mal abgesehen von der Eurovisionshymne, die ein Franzose - und nicht etwa ein Europäer! - komponiert hat. Und wie verhält es sich mit der offiziellen Hymne der Europäischen Gemeinschaft, dem vierten Satz aus der "Ode an die Freude" von Beethoven? Die hat Beethoven dem preussischen König gewidmet, und bis heute kann, wenn überhaupt jemand, nur ein Deutscher irgendeinen Sinn in den sprühenden "Götterfunken" und der "Tochter aus Elysium" erkennen. Die Franzosen und Spanier lachen sich krank, wenn sie den Text übersetzen. Vielleicht hätte man besser den Flohwalzer genommen. So schnell werden wir unsere Extrawürste und Sonderbegabungen nicht los. Um das verstehen zu können, müssen wir die Geschichte verstehen. Die Globalisierung ist nichts Neues, wie auch ein vernetztes Europa nichts Neues ist. Das alles hat es schon im Mittelalter gegeben. Die Una sancta catholica! Nur die Geschichtsblinden denken, dass wir heute in einer "noch nie dagewesenen vernetzten Welt" leben, in der der Nationalismus keinen Platz mehr hat. Vernetzt ist die Welt schon immer gewesen, und Grossmächte sind ja auch nichts Neues. Und schon immer sind Grossmächte von Zerfall und Zersplitterung bedroht gewesen. Es liegt in der Logik der Sache, dass die Europäische Union mit ihrem Grossmachtsstreben genauso scheitert, wie damals die katholische Kirche gescheitert ist, als sich Martin Luther und der scheidungswillige Heinrich der Achte nicht mehr an die Spielregeln gehalten haben. Und auch wir Schweizer haben uns abgesondert, haben einen eigenen Club gegründet. Einen ziemlich fortschrittlichen Club. Die rückständigen Nationalisten gegen die fortschrittlichen Internationalisten. Wenn es nur so einfach wäre! Die Geschichte belehrt uns eines Besseren.

 

Woher aber kommt das Verbindende in der Schweiz, die sich aus lauter zank- und autonomiesüchtigen Mini-Staaten zusammensetzt und kreuz und quer von Rösti- und Raclette-Gräben durchzogen ist? Wieso hat man diese historische Spottgeburt nicht schon längst beerdigt? Wie kann ein Land mit vier Sprachen und 2255 selbständig vor sich hinwurstelnden Gemeinden existieren, ohne dass es auseinanderfällt - oder die Bürger übereinander herfallen? Was hat die Schweiz allen anderen Ländern voraus? Nach jeder Staatskrise, nach jeder Anfechtung von innen oder aussen, leuchtet das Schweizerkreuz wie frisch aus der Waschmaschine. Weltkriegswurstelei, Armeeabschaffungsinitiative, Fichenaffäre, Grounding oder EU-Knatsch: nichts konnte uns den Rest geben. Stattdessen sind wir in aller Diskretion selbstbewusster und stärker geworden. Und überall stehen wir auf Platz eins: die sauberste Luft, die nettesten Menschen, die niedrigste Kriminalität, die höchste Bildung, der grösste Wohlstand und das Famoseste überhaupt: die schönsten Modelleisenbahnen. Ja, wir Schweizer sind die Glücklichsten, Schlausten, Begabtesten und Stärksten unter Gottes Sonne, damit das auch einmal gesagt ist. In aller Bescheidenheit. Wobei man unsere Stärke nicht mit Härte verwechseln darf. Unsere Stärke ist so löcherig und gummig wie ein Emmentaler Käse. Ein Politologe würde wahrscheinlich auf die "Kohäsionskraft der Verflechtungen" verweisen. Sie ist es, was uns zusammenhält und was der eigentlich starren Verwaltungseinheit der Confoederation Helvetica ein unverwüstliches Leben einhaucht. Die "Kohäsionskraft der Verflechtungen" ist die unter Politologen übliche Erklärung für das, was die Schweiz am Leben erhält, ohne dass diese Erklärung ihrerseits einer Erklärung bedarf. Fragen Sie mich also nicht, was das ist. Es ist halt, was es ist, und die Hauptsache ist ja, dass es funktioniert. Dass es uns und die Schweiz mit Blut und Sauerstoff versorgt. Was immer dieses "Es" auch ist. Und dass wir alle glücklich sind damit. Solange das Auto ohne zu stottern fährt, muss man nicht unbedingt wissen, wie es funktioniert. Solange es ohne zu stottern fährt, kann man sich voll und ganz auf das Fahren konzentrieren - und ungeniert auf die Tube drücken. Meine persönliche Antwort auf die Frage, was die Schweiz denn eigentlich ausmacht, ist vielleicht etwas schweizerischer, als sie sein dürfte. Und weil ich das Herz nicht auf der Zunge trage - ich bin zwar Schweizer, aber kein Schwätzer, um hier meinen Lieblingsspruch einzufügen, auf den ich das Eidgenössische Patent habe - lasse ich die Poesie für mich sprechen. Ich zitiere aus dem 1939 erschienenen Septemberheft der Globi-Zeitschrift. Darin spreche ich folgenden unsterblichen Vers: "Schart euch, Schweizer, zu den Fahnen, Stolz und tapfer wie die Ahnen! Eilt zum Heer von Berg und Tal, denn es ruft der General!"

 

Dass General Guisan am liebsten nach Berlin gereist wäre, um Adolf Hitler mit einer Schachtel Schweizer Schokolade zu beschwichtigen, und dass die historische Persönlichkeit, auf die die heutigen Schweizer am stolzesten sind, Albert Einstein heisst, der gar kein Schweizer war, ist in diesem Zusammenhang völlig unwichtig. Wie auch die Tatsache, dass der Mythos vom Apfelschuss aus Skandinavien stammt. Und vom deutschesten aller deutschen Dichter, nämlich Friedrich Schiller, mit viel Erfindungskraft zu dem gemacht wurde, was wir heute als unsere historische Gründungsgeschichte betrachten. Und was kümmert es uns, dass Johanna Spyri das berühmte Heidi beim nicht sehr bekannten deutschen Dichter Hermann Adam von Kamp abgekupfert hat? Und dass nicht etwa Henry Dunant, sondern der Elsässer Albert Schweitzer in den USA als der vorbildlichste Schweizer gilt? Nur ein Schweizer namens Schweitzer kann auf die wunderbar verschrobene Idee kommen, im Afrikanischen Dschungel eine Kirchenorgel zu installieren. Für so etwas können sich die Amis begeistern. Die Amis lieben uns, weil sie Albert Schweitzer lieben, den sie für einen Schweizer halten. Aber das kennen wir ja. In der Weltgemeinschaft sind wir hoch angesehen, wenn auch nur deshalb, weil wir am Laufmeter mit den Schweden, den Elsässern, den Schwaben, den Bayern, den Tirolern oder den Allgäuern verwechselt werden. Im Laurel-und-Hardy-Film "Swiss Miss", der in der Innerschweiz spielt, treten die Schauspieler in Tirolertrachten auf, was man in der deutschen Synchronfassung zu korrigieren versucht hat, indem man den Film umbenannte in "Dick und Doof als Salontiroler". Und auch im Asterix-Band "Asterix bei den Schweizern" sieht man eine Menge Tiroler, aber keine Schweizer. Wenn uns ein ausländischer Minister besuchen kommt, muss er gut instruiert sein, damit er weiss, was das für ein Land ist. Damit er weiss, dass das überhaupt ein Land ist - und nicht bloss eine Schokoladenmarke mit einem spitzigen Berg als Logo. Daran sind wir gewöhnt. Wir sind bescheiden. Schmücken uns aber auch gerne mit fremden Federn: klauen das Fondue bei den Franzosen, die Schokolade bei den Italienern, die Uhren bei den Deutschen und die Verfassung bei den Amis. Und nicht einmal das Matterhorn gehört uns. Mindestens die Hälfte davon steht auf italienischem Boden. Und wo steht der höchste Alpenberg? Richtig: zwischen Italien und Frankreich. Immer sind wir neidisch, vor allem auf die andern. Am meisten beneiden wir die andern um das viele Wasser, auf das sie hinausblicken können. Auch deshalb betrachten wir Albert Schweitzer als einen von uns, als Reserve-Schweizer sozusagen. Schon immer hätten wir gerne eine Kolonie gehabt, und am liebsten natürlich eine Kolonie, in der wir im Dschungel jodeln dürften - so wie Albert Schweitzer im Dschungel Kirchenorgel gespielt hat. Albert Schweitzers Einbürgerungsverfahren wäre überhaupt keine Sache. Er würde den Schweizertest ohne weiteres bestehen. Der Schweizertest ist nämlich sehr flexibel. Was immer mit der Schweiz zu tun hat oder mit der Schweiz in Verbindung gebracht wird, verleiben wir uns automatisch ein. Das Schweizerische ist in der Schweiz allgegenwärtig. Es färbt unsere Alltagskultur bis in den abwegigsten Winkel hinein. Es hat das Fassungsvermögen eines Kuhmagens. Es ist eine Kraft, die alles Mögliche und Unmögliche in sich aufnimmt und an sich bindet. Diese Kraft ist zum Beispiel dafür verantwortlich, dass sich die Kinder und Kindeskinder der Eingewanderten - der Gastarbeiter und Kriegsgeflüchteten - im Grossen und Ganzen schweizerischer verhalten als die ureingeborenen Schweizer. Auffällig viele Secondos begeistern sich für die traditionellen Werte patriotischer Rechtschaffenheit und wählen die SVP, und das ist gar nicht so unlogisch. Um eine Heimat wertschätzen zu können, muss man zuerst einmal eine Heimat verloren haben.

 

Das Schweizerische begleitet uns über Generationen hinweg. Wie der Globi, möchte ich sagen, um nun endlich meine Wenigkeit einzubringen. Denn das Thema und ich, wir sind aufeinander bezogen wie Kuh und Milch, wie Himmel und Blau, wie Berg und Tal, wie Tunnel und Loch. Bei allem, was in der Schweiz je passiert ist, bin ich dabeigewesen. Ich bin der helvetische Kilroy. Immer und überall bin ich dabeigewesen. Nicht nur als Augenzeuge, sondern auch als Handlanger, Aufwiegler, Berater, Mitläufer, Anführer, Bundesgenosse und Kompagnon. Immer bin ich da, wo in der Schweiz etwas passiert. Und so bin ich selber ein Stück Schweiz geworden. Dieses Dabeisein ist vielleicht das, was uns ausmacht. Was die Schweiz ausmacht. Es gibt keine grosse Idee, die uns zusammenführt und etwas aus uns macht. Wenn wir Schweizer - in diesem plumpen, dorfvereinsmässig anbiedernden Wir, das ich hier bewusst und mit gutem Gewissen einsetze, weil es in keiner Erstaugustrede fehlen darf - etwas aus uns machen wollen, sind wir immer auf uns selbst gestellt. Wir selber sind es, die etwas aus uns machen. In einer Endlosschleife der Selbstidentifizierung erschaffen wir uns immer wieder neu. Auch ich muss immer wieder meine Globi-Erlebnisse durchleben, die mein Globi-Sein konturieren und herausstellen, damit ich Globi bleiben kann. Nicht irgendein Globi, sondern der Globi. Der eine, unverwechselbare Globi. Der Globi bleibt immer der Globi. Er wird niemals alt, und er wechselt niemals seine karierten Hosen. Aber seine Erlebnisse und Beschäftigungen sind äusserst vielfältig. Es gibt nichts, das der Globi National, als der ich heute zu Ihnen spreche, im Rahmen seines Schweizerseins nicht schon getan oder erlebt hätte. In jedem Globi-Buch mache ich wieder etwas anderes. Aber jedes Mal ist es etwas Schweizerisches. Jedes Mal erlebe ich den Fortgang einer Selbstidentifizierung, durch die ich werden kann, was ich bin. Durch die ich sein kann, was in mir, dem Globi National, immerzu im Werden begriffen ist, in einem ständigen Wandel, der eigentlich ein Beharren ist. Ein Beharren im Wandel. Das ist es, was mich ausmacht. Was uns ausmacht. Was Sie ausmacht, liebe Mitschweizerinnen, liebe Mitschweizer, liebe Bratwurstgemeinde! Durch das Beharren im Wandel erzeugen wir in uns eine lebendige, wandelbare Manifestation des Schweizerischen. Jedes Mal, wenn wir etwas erleben, konstituiert sich das Schweizerische neu, um jetzt endlich das Fremdwort zu gebrauchen, das neben der Kohäsionskraft am meisten über die Schweiz aussagt. Irgendwie komisch, dass wir Schweizer, wenn wir das Schweizerische definieren wollen, immer ein Fremdwort brauchen. Die Schweiz ist bekanntlich eine Konstitution. Als die Schweiz am heiligen Vierwaldstättersee erstmalig konstituiert wurde, war ich selbstverständlich dabei und habe eifrig mitkonstituiert. Und als es dann losging mit uns Eidgenossen, war ich natürlich immer gleich im grössten Gewühl. Mit einem Dreschflegel und anderen guten Argumenten habe ich wacker für die Eidgenossenschaft gekämpft. Das waren noch strube Zeiten! Vor der Schlacht am Morgarten habe ich das Sturmglöggli geläutet. Nach der Schlacht von Marignano habe ich mit Zwingli zusammen die Neutralität ausgeknobelt. Beim Rühren in der Kappeler Milchsuppe habe ich ein Brotbröckli der Gegenpartei herausgefischt, worauf man mir alle Schlötterlig angehängt hat. Mit Schleuchzer zusammen habe ich den Pilatus bestiegen. Mit Whymper das Matterhorn. Auf dem Grossen Sankt Bernhard hat mich der Rettungshund Barry aus einer Lawine ausgebuddelt und mit Schnaps versorgt. Mit General Suworow bin ich über den Gotthard marschiert, und beim Gottharddurchstich bin ich derjenige gewesen, der die letzten Meter weggesprengt hat. Während des Landesstreiks von 1918 habe ich an den sogenannten Hungerkrawallen teilgenommen, und in Bellinzona habe ich zum Sturm auf die Milchzentrale aufgerufen. Ich war auch beim Rütli-Rapport dabei und bin dann doch im Keller der Schweizer Staatsschützer auf meine eigene Fiche gestossen. Im Forschungslabor der ETH Zürich hat man mich auf Fingerhutgrösse geschrumpft, damit ich bei der Eröffnung des Freizeitparks "Swissminiatur" die Touristen empfangen konnte. Ich bin mit der Rettungsflugwacht mitgeflogen, und bei einem SVP-Buurezmorge habe ich während der Festansprache heimlich das Büffet geplündert, und nachher hat man es natürlich den Asylanten und all den anderen Sozialschmarotzern in die Schuhe geschoben. So fülle ich meine Globi-Existenz mit einem Inhalt, der nie vorgegeben und immer wieder neu ist. So füllen wir Schweizer unsere Schweizer-Existenz mit einem Inhalt, der nie vorgegeben und immer wieder neu ist. Und so erschaffen wir uns eine gemeinsame Identität, die durch alle Zeiten und Wechselfälle hindurch an uns haften bleibt.

 

Ganz anders sieht es bei der Europäischen Union aus. Sie ist eine Organisation, aber keine Heimat. Sie ist eine Adresse, aber kein Wohnort. Sie ist ein Büro, aber keine Stube. Sie umfasst einen Kontinent, auf dem sich Weltgeschichte abgespielt hat, aber den Raum für gemeinsame Geschichten, den wir zum Beispiel in der Schweiz haben, bietet sie nicht. Europa ist immer "irgendwo dort draussen", wir besuchen es beruflich oder als Touristen, und selten ist uns bewusst, dass wir ja mittendrin stehen. Das typisch Europäische kann man nicht fassen. Es lässt sich nicht erzählen, nimmt keine konkrete Gestalt an. Wo ist der europäische Globi? Sogar Tim und Struppi, die im Gegensatz zu mir eine weltweite Fangemeinde haben, bleiben letztlich Belgier. Sie nähren das belgische und nicht das europäische Selbstbewusstsein. Soweit haben wir es in Europa also gebracht. Noch immer sind wir Belgier, Franzosen, Schweden, Schweizer und Deutsche. Und dabei bleibt es. Ich hoffe trotzdem, meine Erstaugustrede nimmt Ihnen nicht den Mut. Eigentlich sollte ich zum Abschluss noch etwas Ermutigendes sagen. Etwas Optimistisches. Einen Satz für die Zukunft. Freude herrscht. Oder: Ich bin ein überzeugter Europäer. Ja, das klingt nicht schlecht. Ich bin ein überzeugter Europäer. Das macht sich gut in einer Erstaugustrede. Weltoffenheit markieren! Die Brust mal so richtig rausdrücken und sagen: "Eigentlich bin ich gar nicht so schlimm. Ich bin keiner von denen, die sich abschotten wollen. Ich bin ein überzeugter Europäer." Wenn ich es mir genau überlege, stimmt es sogar. Ich bin ein überzeugter Europäer. Deshalb wiederhole ich es an dieser Stelle mit allem Nachdruck, gleichsam mit einem dröhnenden Tusch, damit Ihnen auch wirklich klar wird, dass ich es ernst meine. Ich bin ein überzeugter Europäer.

 

Und das nicht erst seit heute. Schon vor Jahrzehnten bin ich ein überzeugter Europäer gewesen. Trotz der Stimmungslage des Kalten Krieges, trotz der verhassten deutschen Mauer und trotz der Tatsache, dass damals die Zöllner an fast jeder Landesgrenze jedes Gepäckstück auseinandergenommen haben, um an den Socken zu schnüffeln, bin ich auf den Geschmack gekommen. Ich meine auf den Geschmack des europäischen Geistes. Ich kann mich noch gut an die billig gedruckten Bändchen des Leipziger Reclam Verlages erinnern, die im Buchhandel als geistige Spitzenprodukte angeboten wurden. Sie waren sehr begehrt, im Westen wie auch im Osten, einer der wenigen Exportschlager der DDR. Bis heute verkörpern sie für mich das gute Europa, das andere Europa. Der Bücherschrank mit seiner Lingua Franka der höheren Bildung kann eine Heimat bieten, die über alle Grenzen hinausgeht. Auch über die Grenzen der Europäischen Union. Als linker Universalist, der ich tatsächlich bin, könnte ich mich für diese Entgrenzung stark machen. Ich müsste dabei aber konsequent sein und die Europäische Union genauso ablehnen wie die enge, bünzlige Schweiz oder meine eigene Haustüre, die meine Privatsphäre schützt. Als linker Universalist bin ich natürlich ein verlogenes und inkonsequentes Arschloch. Weil ich mir besser vorkomme, als ich bin. Weil ich trotz meiner Weltoffenheit und meiner ganzen edelmütigen Solidaritätshaltung zeternd und heulend auf den Polizeiposten renne, wenn jemand bei mir eingebrochen und meine Sachen durchwühlt hat.

 

Die Schweiz mag noch so eng und bünzlig sein: in die Quere kommt sie mir nicht. Sie bindet mich nicht fest. Und mein Herz schlägt dann doch eher rechts. Trotz all meiner Bildung werde ich sentimental, wenn ich einen schönen Kuhpflätter sehe. Und obwohl ich die höhere Algebra beherrsche, gebrauche ich zum Zählen immer noch die Finger. Ich mache das wie der Bauer auf dem Viehmarkt. Eine universale Geisteshaltung, die den Patriotismus oder die Begeisterung für den lokalen Sportverein abwertet, wäre doch eigentlich beschränkt - und eben genau das nicht, was sie zu sein vorgibt: nämlich universal. Das eine schliesst das andere nicht aus. Wieso aber geht dieses Heimatgefühl, das im Lokalen wurzelt und nur beschränkt erweiterungsfähig ist, nie über den Nationalstaat hinaus? Ist das eine Indoktrination von rechts? Werden wir von Rechtspopulisten unterwandert? Bin ich am Ende selber einer? Diese rhetorische Frage muss ich nun leider unkommentiert lassen. Ich werfe sie in den Raum und laufe davon. Aber zuvor muss ich noch meine Erstaugustrede abschliessen. Die Sache mit dem Patriotismus, für die ich hier und heute meinen Schnabel aufgerissen habe, ist nichts, das ich leichtfertig im Raum stehen lassen möchte. Sie können ja denken, was Sie wollen. Vielleicht hat mir Christoph Blocher heimlich ein Tausendernötli zugesteckt, damit ich Ihnen, liebe Eidgenossen, liebe Eidgenossinnen, mal so richtig einheize. Damit ich Ihnen den Patriotismus mit dem allergrössten Lebertranlöffel verabreiche.

 

Höchste Zeit, dass ich zum letzten Satz komme. Freude herrscht. Nein, den andern Satz natürlich. Wie ging er doch gleich?

 

Ich bin ein überzeugter Europäer.

 

2018