Über Fake news

"Man sollte nicht alle Zitate glauben, die im Internet stehen."

Leonardo da Vinci

 

"Falls ich jemals etwas anderes als eine Fiktion schreiben sollte,

erschiessen Sie mich bitte."

Wolfgang Herrndorf

 

 

Sinnvoll einordnen und schlüssig erklären lässt sich so gut wie überhaupt nichts mehr. Überall geistern Fake news herum. Gefälschte Wahrheiten. Also Lügen. Wem kann man noch glauben? Und ist gut gelogen nicht auch irgendwie wahr?

 

Egal, was ich Ihnen mitzuteilen habe: glauben Sie mir kein Wort. Die Konfusion ist total. Die einen reagieren darauf mit Misstrauen. Die anderen spielen damit. Sinnvoll einordnen und schlüssig erklären lässt sich so gut wie überhaupt nichts mehr. Überall geistern Fake news herum. Gefälschte Wahrheiten. Also Lügen. Vor einigen Jahren ist die Meldung herumgegeistert, Merkel habe ihren Wahlslagon "Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben" von einem SED-Plakat übernommen. Natürlich war das eine Lüge. Aber was heisst das? Ist gut gelogen nicht auch irgendwie wahr? Ist es denn so abwegig, dass die ehemalige FDJ-Sekretärin der Versuchung erlegen sein könnte, sich beim Propaganda-Sprech der SED zu bedienen? Auch eine Merkel räumt hin und wieder den Estrich auf - oder zumindest die unterste Schreibtischschublade. Vielleicht ist ihr da ein altes Werbeplakat in die Hände gefallen: Ostalgie pur! Wäre es nicht vielleicht sogar möglich, dass sie eine Agentin des alten Regimes ist? Dass sie vom abgesetzten Erich Honecker persönlich den Auftrag erhalten hat, die Bundesrepublik auf Linie zu bringen? Damit man in Deutschland endlich wieder gut und gerne leben kann, in einem Deutschland der sozialistisch gleichgeschalteten Untertanen und einer DDR-mässig verkündeten Alternativlosigkeit? Mit diesem "Es wäre möglich" spielen Fake news oftmals virtuos. Eine Lüge ist selten völlig bei den Haaren herbeigezogen. Oft enthält sie ein Körnchen Wahrheit. Oft greift sie etwas auf, das wahr sein könnte. Wenn sie nicht sogar ins Schwarze trifft. Eine gut gemachte Lüge ist nicht das Gegenteil von Wahrheit. Eine gut gemachte Lüge tastet sich an die Wahrheit heran, und zwar bis zu dem Punkt, wo sich aus dem irisierenden Unterschied zwischen Fakten und Behauptung eine glaubhafte alternative Wahrheit herausdestillieren lässt. Doch das sind Finessen. Umgangssprachlich kann man Fake news durchaus als Lügen bezeichnen. Wer Fake news erfindet oder verbreitet, hat ein Interesse daran, die Wahrheit zu verdrehen. Und eine verdrehte Wahrheit ist die Unwahrheit. Oder nicht? Fake news, alternative Wahrheiten und das ganze Gerede von einem "postfaktischen Zeitalter" verweisen auf eine Schein-Wirklichkeit, deren Scheinhaftigkeit indirekt legitimiert wird. Eine alternative Wahrheit ist letztlich auch eine Wahrheit. Oder nicht? Ja, was nun? Die Konfusion ist total. Inwiefern kann eine Wahrheit "alternativ" sein? Inwiefern kann sie gefälscht sein? Ist das nicht die Quadratur des Zirkels? Und was ist überhaupt dran an diesem Gerede, das ja selber eine Behauptung aufstellt, die man durchaus anzweifeln kann? Die Behauptung, dass wir von Täuschungen und Lügen umzingelt sind, kann nicht unreflektiert hingenommen werden, zumal sie ja mit dem Appell verknüpft ist, Fake news und alternative Wahrheiten zu durchschauen.

 

Aber gehen wir mal vom Vordergründigen und Selbstverständlichen aus. Die meisten (wenn auch nicht alle) Fake news sind Lügengeschichten, nicht bloss veröffentlichte Irrtümer. Es sind bewusste und gezielte Desinformationen. Oft steckt die Absicht dahinter, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Doch die Grenzen zu Halbwahrheiten, spekulativen Sichtweisen und subjektiven Interpretationen sind fliessend. Ein Stück Treibholz, das mit einem Ast aus dem Wasser ragt, kann im Sinne eines "forschenden Interesses" als Seemonster interpretiert werden. Behaupten darf man ja alles. Die ungewöhnliche Sichtung kann aber auch instrumentalisiert werden. Sie kann dazu verhelfen, den schottischen Tourismus anzukurbeln. Wenn das geschieht, schlägt die Behauptung oder Hypothese in den Versuch um, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Was genaugenommen etwas ist, das Fake news in die Nähe von Werbung, Campaigning und Public Relation rückt. Wie auch in die Nähe von Märchen und Legenden, von Mythen und Klatsch. Um jährlich Tausende Touristen an einen nicht besonders schönen, arschkalten schottischen See zu locken, genügt ein Mythos. Das Monster von Loch Ness muss nicht einmal simuliert werden. Dass es so gut wie nie auftaucht, wenn gerade jemand zugegen ist, macht den Reiz nur noch grösser. Die mysteriöse Aura, die Fama, das nicht Eindeutige und nicht Nachgewiesene: das alles macht das Ungetüm von Loch Ness - diesen sagenhaften Plesiosaurus oder Riesenaal - zu einer touristischen Attraktion, die dem Eiffelturm etwas Entscheidendes voraus hat: niemand - oder fast niemand - bekommt sie jemals zu Gesicht. Wem es gelingt, Orte, Begebenheiten, Gegenstände oder Persönlichkeiten zu dramatisieren, d.h. mit Spannung und Bedeutung aufzuladen, kann Eindruck schinden und Interesse wecken. Dies umso erfolgreicher, je weniger man dabei auf Konkretes, auf Fakten abhebt. Die Phantasie zu locken und zu reizen, bedeutet, dass man sie nicht befriedigt. Dass man gewisse Dinge offen lässt. Oder sie bewusst so zeichnet, dass man möglichst viel in sie hineinprojizieren kann. Die besten Geschichten sind diejenigen, die nicht aufgelöst werden. Ein Ramschobjekt verkauft sich besser, wenn man eine gute Story dazu erfindet. Und "gut" heisst eben auch: es könnte was dran sein. Könnte! Vielleicht und eventuell. Die Wirkung einer gut erzählten Unklarheit ist extrem suggestiv. Das Bedürfnis, eine unklare oder unvollständige Geschichte aus der eigenen Phantasie heraus zu vervollständigen, ist so allgemeinmenschlich wie zwanghaft. Ein Briefbeschwerer aus der Gerümpelkiste verkauft sich wahrscheinlich nicht halb so gut wie ein fluchbeladener Talisman, an dem angeblich das Blut unzähliger Käufer klebt. Angeblich! Was soll ich davon halten? Ist da was dran? Und wenn ja, was genau? Weil mir das absolut nicht klar ist, muss ich das Ding unbedingt kaufen, auch auf die Gefahr hin, dass mich der Fluch trifft. Wenn nicht sogar deswegen! Eine unklare, unvollständige, verschwommen romantisierende Erzählung entwickelt ihre eigene Dynamik, bindet Gerüchte und Spekulationen an sich. Dank einer solchen Erzählung kann ein Ramschobjekt zum Kultobjekt werden, so wie ein Urinal zum Kunstwerk des Jahrhunderts werden konnte. Gemeint ist natürlich "Fountain" von Marcel Duchamp, der bei seinem ersten Ready-made nicht mal die Absicht gehabt hat, Kunst zu machen, sondern den Kunstexperten lediglich einen Streich spielen wollte. Seine Erzählung ("Ich spiele diesen Typen mal einen Streich") hat sich dann allerdings verselbständigt. Die Frage "Was soll das?" wurde zur Kunstfrage schlechthin. Die Kunstexperten sind auf Duchamps Provokation eingestiegen und haben den Spiess umgedreht. Sie haben den Provokateur heilig gesprochen und sein Ready-made geadelt.

 

Solche Mechanismen sind universal. Früher gab es den Reliquienkult, und heute gibt es die Kunst. Wobei man das auch in den Niederungen des Alltags antrifft, und zwar buchstäblich überall. Die Werbebranche hat uns diesbezüglich fest im Griff. Als lifestylebewusster Mensch kauft man nicht das Produkt, man kauft die Marke - und ihre jeweilige Erzählung. Diejenigen, die ein Produkt lancieren, pushen es hoch, indem sie es auratisch aufladen. Die Aura ist es, worauf es hier ankommt. Auratisch ist nicht nur ein Kunstwerk oder die Rolex von James Bond; nahezu alles kann auratisch werden, wenn es durch eine Erzählung geadelt wird. Ein gewöhnlicher Kugelschreiber ist eben kein gewöhnlicher Kugelschreiber mehr, wenn Reagan und Gorbatschow mit ihm den Abrüstungsvertrag von Reykjavik unterschrieben haben. Dieser Kugelschreiber gehört - natürlich mit einem seriösen Echtheitszertifikat - ins Museum. Versteht sich von selbst, dass ein Echtheitszertifikat auch unecht sein kann. Wo etwas auratisiert und entsprechend hoch gehandelt wird, lauert die Möglichkeit der Hochstapelei, mit allen Gefahren der Desillusionierung und Entwertung. Wertsteigerung und Wertverlust des Auratischen beschränken sich nicht auf das Finanzielle. Der freizügige Umgang mit der Wahrheit ist ein kommunikatives Allzweckmittel, ein Schlüssel zur öffentlichen Aufmerksamkeit und Meinungsbildung. Deshalb ist die Fähigkeit, zu lügen, nicht von der Sprache zu trennen - und auch nicht von der Intelligenz. Kinder lügen, bluffen und schwindeln, sobald sie auch nur die ersten paar Worte sprechen können. Menschen, die frühzeitig lernen, anderen Menschen etwas vorzumachen, haben gute Aussichten auf eine steile Karriere. Denn die narrative Spotlampe dient nicht nur dem Heiratsschwindler, Kunsthändler, Kunstexperten und Jahrmarktsbetrüger. Auch in seriösen Berufen kann man von ihr Gebrauch machen. Sie dient zum Beispiel auch dem Reporter. Ob erfunden oder nicht: gut erzählt ist immer gut. Die Welt wäre um einiges langweiliger, gäbe es nicht den Drang zur Veranschaulichung, zur Verdichtung. Für den guten Reporter ist es Ehrensache, seine Erzählung (seine "Story") auf harten Fakten aufzubauen. Aber der gute Reporter zeichnet sich auch dadurch aus, dass er aus einem Maulwurfshügel einen Berg macht. Er dramatisiert, rahmt ein und verdichtet. Das nennt man "Framing": der Erzähler stimmt seine Erzählung auf einen Effekt ab, den er mit ihr zu erreichen wünscht. Er möchte Mitleid erregen, Abscheu wecken, Begeisterung entfachen, zum Nachdenken anregen, mit einer unerwarteten Erkenntnis überraschen etc. Im Idealfall veröffentlicht er nicht das ungeschnittene Film- oder Tonmaterial, sondern eine dramaturgisch gestaltete Umsetzung. Und hier gibt es zwangsläufig eine Differenz zu dem, was "wirklich" gewesen ist, so wie ein Maler keineswegs eine fotografisch genaue Wiedergabe produziert, wenn er mit seinem individuellen Pinselstrich und Gestaltungswillen etwas abmalt. Wobei auch schon die Fotografie kein wirklichkeitsgetreues Abbild erzeugt. Jedes Abbild stellt eine Differenz zur Wirklichkeit dar, sonst wäre es kein Abbild, kein Signifikant, sondern ein Signifikat.

 

Fake news, die eine gewisse Wirkung entfalten, haben eine unbestreitbare Qualität. Man könnte auch sagen: sie lügen mit Vorbedacht und auf hohem Niveau, während wahrheitsgetreue Berichte eher schlecht lügen. Fake news abstrahieren von dem, was ist, indem sie es mit einer Aura aufladen. Und je besser sie das bewerkstelligen, desto nebulöser wird der Bezug zur Realität. Das ist eine Sache, die man bedenken sollte, bevor man Fake news verdammt. Irgendwie halten sie uns einen Spiegel vor. Ein bisschen Schwindelei ist fast überall dabei. Wahrheit kann nie adäquat abgebildet werden. Und oft ist das gar nicht erstrebenswert. Je besser ein Tatsachenbericht zu lesen ist, je grösser seine Zugänglichkeit, desto eher kann man davon ausgehen, dass die Tatsachen in der Beschreibung manipuliert worden sind. Eine Manipulation im Sinne des "flotten Erzählens" ist zwar nicht das Gleiche wie Lügen, aber der begabte Lügner ist hier sicher im Vorteil. Keiner hat den Wilden Westen so packend beschrieben wie Karl May, der als notorischer Lügner und Betrüger eine Zeitlang im Gefängnis sass. Auch wenn seine Romane keine Reiseführer sind, erwecken sie doch den Eindruck grosser dokumentarischer Dichte. Der gefakte Realismus tut seine Wirkung. Was im umgekehrten Fall zweifellos ein Problem darstellt. Aus meiner buchhändlerischen Erfahrung weiss ich, dass Reiseführer oft nicht halten, was sie versprechen. Das Dokumentarische ist nicht identisch mit der Realität. Es beleuchtet sie, aber bildet sie nicht ab. Dass ein Sachverhalt eventuell schon nicht mehr aktuell ist, wenn er beschrieben wird, ist dabei nur ein Nebenaspekt. Durch Priorisierung, Auslese, Wahl der Mittel, Wahl der Perspektive, Gliederung, Erzählweise etc. ergibt sich zwangsläufig eine Abweichung von dem, "was ist". Eine vermittelte Realität ist nie das Gleiche wie Realität. Und trotzdem liegt in der Vermittlung und ihren unumgänglichen Unschärfen, Fehlern und Verfälschungen der einzige Schlüssel zu einer objektiven Sichtweise, zu einer Darstellung, die man teilen und der man gegebenenfalls auch widersprechen kann. Eine Mitteilung ohne Form lässt sich unmöglich mitteilen - und dementsprechend auch unmöglich verstehen. Jede Darstellung oder Beschreibung unterliegt einem "Framing". Einem bewussten oder unbewussten, einem gekonnten oder weniger gekonnten. In jedem Fall handelt es sich um etwas Zubereitetes, einen genutzten Spielraum. Dass dieser Spielraum nicht immer in Anspruch genommen wird, um ein wertneutrales Verständnis zu erzielen, bedeutet nicht, dass ihm keine objektive Wahrheit zugrunde liegt. Ein Lexikon beschreibt ein Putzmittel anders als der Putzmittel-Verkäufer. Wahr oder falsch können beide Beschreibungen sein. Sowohl die Art und Weise, wie eine Aussage "justiert", das heisst in einen Kontext eingerückt wird, als auch das "Framing", das eine Aussage bestimmten Zwecken unterordnet, verweisen auf eine objektive Wahrheit - und wären ohne sie gar nicht möglich, so wie auch ein Rahmen erst durch das Bild zum Rahmen wird. Ob der Satz "Letzten Sonntag war ich in Italien" stimmt oder nicht, ist leicht zu entscheiden. Entweder bin ich im genannten Zeitraum in Italien gewesen oder nicht. Beim Satz "Letzten Sonntag habe ich Mickey Mouse gesehen" wird die Sache dann schon ein wenig komplizierter. Hier fehlt der Kontext. Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, müsste man die Aussage zuerst justieren: sie richtig "ausrichten". "Letzten Sonntag habe ich Mickey Mouse gesehen" kann sich auf einen Besuch im Disneyland beziehen. Oder auf einen Disney-Film, den ich am Sonntag angeschaut habe. Oder meine ich gar den "echten" Mickey Mouse? Dann bin ich höchstwahrscheinlich verrückt. Oder habe irgendein Halluzinogen genommen, eine Mickey Mouse-Droge. Aber auch das ist eine objektive Wahrheit - und kann dementsprechend rezipiert werden. Wenn jemand unter Drogeneinfluss Bekanntschaft mit dem "echten" Mickey Mouse geschlossen hat, so ist das eine Erfahrung, die durch ihre Kontextualisierung auf eine objektive Wahrheit verweist. Objektiv heisst: es stimmt oder stimmt nicht. Was noch lange nicht bedeutet, dass man es nicht noch besser verstehen könnte. Durch Objektivität bekommt man etwas in den Sucher oder in den Blick, das man verstehen kann. Doch wie bei einem Kameraobjektiv kann auch hier das "Erkannte" noch präziser erfasst werden. Das Kameraobjektiv ist verstellbar, damit das Wichtige vom Unwichtigen getrennt werden kann, etwa durch den gezielten Gebrauch von Schärfe und Unschärfe in der verstellbaren Brenn- oder Objektivweite. Objektivität hat immer eine gewisse Relativierung zur Folge: einen Ausschluss von Annahmen, die nicht stimmen können oder unwahrscheinlich sind. Eine Aussage zu relativieren, bedeutet, sie zu präzisieren - und gleichzeitig neue Verständnisräume zu öffnen. "Nein, er hat sich die Sache mit Mickey Mouse nur eingebildet. Er spinnt. Er deliriert, weil er zuviel säuft. Das hat man davon."

 

Mit solchen Ungenauigkeiten schlagen wir uns fast überall herum, wo wir mit Gedanken und Aussagen konfrontiert sind. Die Behauptung, dass ich Mickey Mouse gesehen habe, kann nicht absolut wahr sein, selbst wenn ich Mickey Mouse tatsächlich gesehen habe. Der Satz kann und muss relativiert werden. Wenn ein Lügendetektor-Test garantieren würde, dass dieser Satz richtig ist, würde man trotzdem den Kopf schütteln. Der Satz ist unverständlich. Es fehlt das richtige Verständnis, das man erst dadurch gewinnt, dass man die Wahrheit des Satzes relativiert, ihn teilweise als unwahr begreift. So könnte sich herausstellen, dass derjenige, der diese Aussage macht, nicht direkt die Trickfilmfigur, sondern einen Kürbis meint, aus dem jemand den Kopf von Mickey Mouse herausgeschnitzt hat. Es könnte sich herausstellen, dass es die Kunst der Kürbisschnitzerei ist, wovon diese Aussage handelt, und dass der Kürbisschnitzer auch irgendein anderes Motiv hätte wählen können. Und so käme man dem Faktum Schritt für Schritt näher. Ein Faktum ist das, was man als wahr erkennen kann. Etwas, das man herausschält oder ertastet. Oder um im Bild zu bleiben: eine Skulptur, die man in den Blick bekommt, während man sie noch bearbeitet, um sie in eine fassbare Form zu bringen. Diese Form ist nicht endgültig. Man kann sie hinterfragen und weiter bearbeiten. Was beim Erkenntnisprozess herausschaut, ist eine objektive Wahrheit, keine absolute Wahrheit. Dieser Unterschied ist elementar. Eine Aussage stimmt nie hundertprozentig. Sie ist immer ungenau. Sie bildet nicht ab. Sie repräsentiert. Wittgenstein: "Sachlagen kann man beschreiben, nicht benennen." Diese "Unbenennbarkeit" ist keine Abweichung von der Wahrheit, sondern deren Zurichtung und Einrahmung. Sie ist das, was interpretiert werden muss, damit man kapiert, worum es geht. Sinn und Zweck einer Aussage ("Justierung" und "Framing") lenken also nicht von der Wahrheit ab, sondern helfen sie zu entschlüsseln. Dabei hat der Vorgang der Wahrheitsermittlung ein doppeltes Gesicht. Einerseits bewegt sich eine Aussage zwischen richtig und falsch, auf der Linie einer objektiven Wahrheit. Hier erweist sich eine Aussage als richtig oder falsch. Andererseits gibt es Aussagen, die den unmittelbaren Zugriff auf diese Linie verwehren, weil sie unklar sind. Hier stellt sich die Frage nach dem Sinn, respektive dem Sinngefüge, in das eine Aussage eingerückt werden muss, damit sie überhaupt als richtig oder falsch erkannt werden kann. Im Lateinischen wie auch im philosophischen Diskurs steht "Sinn" (Lat. "sensus") für "Richtung" oder "Denkrichtung". Am Sinn, das heisst an der Ausrichtung, lässt sich der Gehalt einer Aussage festmachen. Worauf zielt die Aussage ab? In welchem Kontext ist sie zu verstehen? Es ist nur logisch und natürlich, dass es keine neutrale ("richtungslose") Wahrheit gibt. Was aber nicht heisst, dass es keine objektive Wahrheit gibt, wie der radikale Konstruktivismus behauptet. Der radikale Konstruktivismus definiert Wahrheit wie auch Wirklichkeit als etwas, das vom Kontext her relativierbar ist: ein Trugschluss mit weitreichenden Konsequenzen.

 

Zur Wahrheit findet man zwar oftmals über den "richtigen" Kontext, aber die Grundannahme, dass etwas wahr ist, kann nicht einfach nur auf die Kontextualität reduziert werden. Wenn ich sage, das Wetter sei schön, beziehe ich mich auf eine Realität ausserhalb jeder Kontextualität. Was ich subjektiv oder aufgrund meiner kulturellen Prägung unter "schönem Wetter" verstehe und ob dieses Wetter für einen Freizeitangler genauso schön ist wie für einen Landschaftsfotografen, wäre abzuklären. Am Wetter, auf das sich meine Aussage bezieht, ändert das nichts. Ich kann es nicht schönreden. Der Verständnisraum mag diffus sein, wie es etwa der Fall ist, wenn Menschen unterschiedlicher Sprachen miteinander kommunizieren oder generell bei Übertragungen zwischen verschiedenen Zeichensystemen: die Realität existiert trotzdem. Die Realität existiert, bevor wir auf sie zugreifen und sie uns aneignen, und sie ist allgemein erkennbar, sonst wäre jede Kommunikation zum Scheitern verurteilt. Dass Kommunikation funktioniert - manchmal besser, manchmal schlechter - ist der Beweis dafür, dass es eine objektive Wahrheit gibt. Dass man diese Wahrheit verfehlen kann, heisst nicht, dass es sie nicht gibt. Wenn ich dem Feinkost-Verkäufer sage, dass ich gerne eine Tomate hätte, bekomme ich in der Regel keine Grapefruit. Was im wesentlichen damit zu tun hat, dass eine Grapefruit etwas anderes ist als eine Tomate. Die Realität, über die wir reden, ist immer schon vordefiniert. In der Welt der Konstruktivisten ist das aber keineswegs so klar. Wenn der konstruktivistische Verkäufer merkt, dass sich die Tomaten schlecht verkaufen, ändert er einfach die Deklarierung und gibt die Tomaten als Grapefruits oder Bananen aus. In seiner Welt funktioniert das. In der Welt der Konstruktivisten ist alles Erkennbare und Wissbare nur insoweit wahr, als es mit einer diskursiven Setzung übereinstimmt, die man entsprechend seinem Wunschdenken mehr oder weniger beliebig abändern kann. So bescheuert das klingt, so hat es doch sehr handfeste Konsequenzen, vor allem in ethischer Hinsicht. Konstruktivistisch gesehen gibt es so etwas wie "sexuelle Belästigung" erst, seitdem man eine Meinung darüber hat und die entsprechende Begrifflichkeit verwendet. Vorher gab es diese Realität oder Wirklichkeit nicht. Der Konstruktivismus - ein echter Zauberkünstler - kann Wirklichkeiten nicht nur herbeizaubern, sondern auch zum Verschwinden bringen: etwa das biologische Geschlecht. Durch die Gender-Debatte hat der Konstruktivismus einen Einfluss gewonnen, der weit über die spezialisierten Hochschulbereiche hinausreicht. Nach konstruktivistischer Lesart sind "Mann" und "Frau" soziale Konstruktionen, die man beliebig dekonstruieren und neu zusammensetzen kann; mit unzähligen Variationen, aus denen sich neue, nicht-biologische Geschlechter ergeben. Weil das Geschlecht aber eine biologische Realitätsbeschreibung ist, setzt der Konstruktivismus dort an, wo die Realität aufhört, und düpiert damit nicht nur die Naturwissenschaft, sondern auch den gesunden Menschenverstand. Während neu konstruierte Geschlechtsidentitäten und die entsprechenden Regelungen mit allerlei politischen und rechtlichen Mitteln durchgesetzt werden, widerlegen Hirnforscher und Evolutionsbiologen den Genderismus nach Strich und Faden und stellen ihn sogar komplett auf den Kopf. Zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern ist ein Konflikt entbrannt, der zunehmend auf die Gesellschaft überspringt. Dabei steht nicht nur Inhaltliches zur Debatte. Der Streitpunkt betrifft vor allem auch die Frage, was Wissenschaft von Pseudo-Wissenschaft unterscheidet. Akademische Bereiche, die einen soziopolitischen Aktivismus propagieren, lassen es häufig an wissenschaftlicher Objektivität fehlen. Tatsächlich hält die sogenannte Gender-Forschung keinen ernsthaften wissenschaftlichen Kriterien stand. Instinktgeleitete Verhaltensweisen als etwas Aufoktroyiertes zu definieren, ist wissenschaftlicher Blödsinn - oder eben eine Glaubensfrage, eine Ideologie, die man den Leuten eintrichtert, DAMIT sie daran glauben. Einen objektiven Wahrheitsgehalt hat das nicht. Den kann nur echte, das heisst evidenzbasierte und ergebnisoffene Wissenschaft erbringen. Unwissenschaftlich ist der Genderismus deshalb, weil  er eine implizite (und manchmal auch explizite) moralische Wertung vertritt. Was ihn zu einer Ideologie macht - und eben nicht zu einer Wissenschaft. Echte Wissenschaft wertet nicht, sie hat keinen vorgeschalteten Fokus, der ein korrektes Menschenbild in die Köpfe einpflanzen will, sondern operiert ergebnisoffen. Was selbstredend nicht immer zum gewünschten Resultat führt. Ein selig machendes Wunschdenken gibt es in der echten Wissenschaft nicht. So kann der Wissenschaftler - der echte Wissenschaftler - entgegen jedem Wunschdenken zum Befund kommen, dass der Mensch nur bedingt erziehbar ist und eine naturgegebene Ausstattung hat, die man allenfalls in Schach halten, aber nicht überwinden kann. Dass zum Beispiel Grausamkeit und Kriege nicht anerzogen oder kulturabhängig sind, sondern schlicht zur menschlichen Natur gehören. Mit dieser Natur müsste sich auch der Genderismus befassen, was er aber nicht tut. Oder nur mit Scheuklappen und rosaroten Brillengläsern. Nach dem Evolutionsbiologen Harald Euler ist das Patriarchat evolutionär und biologisch bedingt, ein Steinzeiterbe, das sich auch dann noch behauptet, wenn das strukturelle Patriarchat beseitigt ist. Auch Mediziner stellen den Genderismus häufig in Frage. Etwa dort, wo man in Verkennung der biologischen Realität eine Gleichbehandlung von Mann und Frau fordert. In der Medizin kann das fatale Konsequenzen haben. Spätestens bei der Prostata-Untersuchung oder der postnatalen Medikamentation ist Schluss mit der Gleichbehandlung. Nicht zuletzt deshalb gibt es die sogenannte Gender-Medizin, die die biologischen Unterschiede sogar explizit herausstellt. Ein verdächtiger Widerspruch. Denn auf Gender berufen sich auch die Gleichstellungsbeauftragten. Was gilt nun? Die beiden Prinzipien schliessen sich gegenseitig aus, laufen aber beide unter dem Label "Gender". Die Konfusion ist total. Frauen sollen Quoten bekommen, aber Geschlechtsunterschiede existieren nur in der Einbildung. Frauen und Männer sollen gleich behandelt werden, aber wehe, man behandelt Frauen nicht wie Frauen. Konventionelle Frauenrollen sollen bekämpft und abgeschafft werden, aber der Mann soll dann weiterhin derjenige sein, der Minen entschärft, auf Baustellen schuftet, Kanalisationen reinigt und Unterhaltszahlungen leistet. Bezeichnenderweise gibt es Frauenquoten nur oben, nicht unten. Mit solchen Denkfehlern und Widersprüchen verkennt das Gender-Mainstreaming die Realität (die wirtschaftliche wie auch die biologische) und zaubert eine eigene, "stimmige" Realität herbei. Was man allzu häufig - und keineswegs immer zu Unrecht -Verschwörungstheoretikern und Rechtspopulisten unterstellt, hat im akademischen Diskurs schon lange Einzug gehalten: die Produktion alternativer Wahrheiten. Es gibt 60 Geschlechter. Und wer, aus welchen subjektiven Gründen auch immer, die eigene Geschlechtszugehörigkeit ablehnt, kann sich im Sinne der nichtbinären Geschlechtsidentität als "genderfluid" oder "agender" deklarieren und die geschlechtsspezifische Anrede zurückweisen. Damit lässt man die wissenschaftlich verifizierbare Realität definitiv hinter sich. Indem man einen Diskurs eröffnet, der die Definition von Wirklichkeit im Subjekt verankert, stellt man sämtlichen alternativen Wahrheiten einen Freifahrschein aus. Und so braucht man sich auch nicht darüber zu wundern, dass sich allerlei Wirrköpfe dazu ermuntert fühlen, jedes beliebige Reizthema - wie zum Beispiel 9/11 - mit einer alternativen Wahrheit auszustatten. Seriöse Fakultäten sind ja mit gutem Beispiel vorangegangen! Wer Propagandisten verurteilt, die Fake news verbreiten, sollte am besten bei den Gender-Fakultäten und den diversen Fachstellen von "Gender und Diversität" anfangen: dort fälscht man Wirklichkeit auf hohem Niveau und demonstriert damit gleichsam, wie Ideologie entsteht. Und wie man Ideologie als Wissenschaft verkauft. Der Genderismus ist diesbezüglich ein Paradebeispiel, weswegen er sich sehr leicht zerpflücken lässt. Die Gegenströmung ist gross, kritische Stimmen - auch von Frauen - werden immer lauter. Im deutschen Sprachraum ist es vor allem Birgit Kelle ("GenderGaga", adeo-verlag), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, alle Aspekte des "höheren Unsinns" dieser Ideologie auszuleuchten und der methodischen Unvernunft eine methodische Vernunft entgegenzusetzen. Worin besteht denn diese Unvernunft? Anstatt den Wirklichkeitscheck zu machen und die eigenen Voraussetzungen kritisch zu hinterfragen, leugnet der Genderismus alles, was nicht in sein Schema passt, verweigert jede wissenschaftliche Falsifikation und wirft (ausgerechnet!) den streng methodisch mit Verifikation, Falsifikation, Analyse und Messbarkeit arbeitenden Naturwissenschaftlern ideologische Voreingenommenheit vor. Eine Reaktionsweise, die stark an den verletzten Narzissmus religiöser Fanatiker erinnert, die immer noch gegen den Darwinismus anrennen, ohne ihn auch nur im geringsten widerlegen zu können. Der Mensch - das aufrecht gehende Tier aus der Verwandtschaftsgruppe der patriarchalen Trockennasenprimaten - hat nun mal die Gabe, ein bestimmtes Selbstbild zu konstruieren. Ob dieses Selbstbild mit der Wirklichkeit übereinstimmt, ist eine Frage, die die Naturwissenschaft ziemlich verlässlich beantworten kann. Eine Ideologie oder Religion ist jedoch ausserstande, diese Frage zu beantworten. Im Gegenteil. Religionen und Ideologien setzen alles daran, die Frage nach der Wirklichkeit zu verschleiern. Hier gilt die Wirklichkeit als etwas Geoffenbartes (Religion) oder als etwas Konstruiertes (Ideologie). Man bemächtigt sich der Wirklichkeit, indem man sie von vornherein in den Dienst einer bestimmten Sichtweise und Wertung stellt. Das haben Ideologien und Religionen gemeinsam, und hier dockt auch der ethische Konstruktivismus an. Der konstruktivistische Subjektivitätskult, der sich mit echter Wissenschaftlichkeit schwer tut, neigt allein schon aufgrund seiner Denkmethode zu einer hermetischen Weltsicht. Diese Selbst-Ideologisierung lähmt und belastet inzwischen grosse Bereiche des Wissenschaftsbetriebs. So gibt es - nicht nur in den USA, wo das alles angefangen hat - eine mehr oder weniger wirksame akademische Selbstzensur, die mit linker Identitätspolitik einhergeht. Im "freien" geisteswissenschaftlichen Diskurs dürfen bestimmte Sachen nicht mehr angesprochen werden, weil sie als heikel gelten. Als besonders heikel gelten Tatsachen. Zum Beispiel die Tatsache, dass Männer und Frauen biologische Lebewesen sind. Oder die Tatsache, dass Zuschreibungen und Definitionen nicht die Realität erschaffen, sondern sich (allenfalls) aus der Realität ergeben oder herleiten. Durch Sprachregelungen das Bewusstsein zu ändern, ist ein erklärtes Ziel konstruktivistischer Ideologen. Doch realistisch ist das nicht. Ein Furz wird nicht zum wohlriechenden Odeur, nur weil man ihn "Parfum" nennt. Die Realität ist allgemeingültig. So wie auch das Furzen als etwas Allgemeingültiges in der intersubjektiven Realität verankert ist. Für konstruktivistische Ideologen ein rotes Tuch. Mit seiner hermetischen, teils radikal selbstbezüglichen Logik hinterfragt der Konstruktivismus jede Form von Allgemeingültigkeit, zum Beispiel auch die Universalität der Menschenrechte. Direkt oder indirekt unterstellt er, dass die Menschenrechte ein westlich-europäisches Konstrukt sind, das wir anderen Völkern und Kulturen aufzwingen. In Wahrheit wurzeln Menschenrechte in Befindlichkeiten und Bedürfnissen, die nicht kulturabhängig sind, die also sozusagen über den Kulturen und sozialen Determinanten stehen. Und genau das versucht der Konstruktivismus zu relativieren. Neben der Gender-Ideologie ist der Kulturrelativismus wahrscheinlich die einflussreichste konstruktivistische Bewegung. In der politischen, juristischen und sozialen Praxis kann er dazu führen, dass man aus Gründen der "Toleranz" und "Achtung vor fremden Kulturen" Institutionen zulässt oder sogar fördert, die die Menschenrechte ablehnen. Oder dass Ehrenmorde nicht so streng bestraft werden, weil sie in anderen Kulturen als normal gelten. Die konstruktivistische Masche ist immer etwa dieselbe: den unbequemen Universalismus umgeht man durch Relativierung, die unbequeme Objektivität umgeht man durch Subjektivität, und die unbequeme Wirklichkeit umgeht man durch ein opportunes Wirklichkeitspostulat.

 

Natürlich ist diese Darstellung etwas verkürzt, etwas "unterkomplex", und genaugenommen betrifft sie nur den radikalen Konstruktivismus. Eine ausgewogene Definition überlasse ich gerne Wikipedia. Meine Darstellung soll und darf einem persönlichen "Framing" unterliegen, einer "Ausrichtung", die weder den Anspruch auf Neutralität noch auf Ausgewogenheit erhebt. Ist sie deshalb falsch? Eine Verzerrung? Eine Lüge? Wir werden sehen. Das, worauf ich bei meinem "Framing" abziele, ist der offensichtliche Zusammenhang zwischen der wirkmächtigen Denkmethode und der Debatte um Fake news. In Bezug auf die Realität oder die Wahrheit erweist sich der Konstruktivismus (erkenntnistheoretisch gesehen) als äusserst brüchig. Nicht wenige Philosophen zweifeln ihn inzwischen an. (Während normale Menschen das eigentlich schon immer getan haben). An seinem enormen Einfluss ändert das freilich nichts. Ohne Konstruktivismus und den ihn ausdifferenzierenden Poststrukturalismus gäbe es keine Gender Studies, keine Lerntheorie, keine Soziologie, keine Kulturwissenschaften etc. etc. Dass der Konstruktivismus die Virulenz von "alternativen Fakten" möglicherweise fördert und einem selbsternannten Aufklärer wie Michael Moore das nötige Rüstzeug an die Hand gibt, um seine eigene konstruierte Wahrheit gegen die konstruierte Wahrheit des politischen Gegners auszuspielen, ist mehr als nur ein Verdacht. Spätestens seit der Wahl von Donald Trump und dem Brexit sitzt der Konstruktivismus auf der Anklagebank. Nicht ganz zu Unrecht, wie ich finde. In der politischen und medialen Praxis sind seine Methoden auf fruchtbaren Boden gefallen. Seine Munition findet man hüben wie drüben: sowohl bei Michael Moore als auch bei Steve Bannon. Immer geht es um die Frage, wer die "richtige" Wahrheit postuliert, die dann eben wahr ist, weil man sie postuliert. Für beide Seiten ist die Wahrheit etwas Gemachtes, etwas "Konstruiertes". Im Zusammenhang mit Fake news begegnet uns diese Zwiespältigkeit auf Schritt und Tritt. Michael Moore ist dafür ein Musterbeispiel. Man kann nicht gegen "alternative Fakten" kämpfen, ohne selbst eine Wahrheit zu "konstruieren" und der Logik des "falschen Scheins" zu erliegen, die im Konstruktivismus fest verankert ist. 

 

Umgangssprachlich versteht man unter alternativen Fakten Aussagen, die falsch sind. Falsch in Bezug auf Fakten. Und Fakten sind immer Fakten. Fakten sind nicht unfaktisch. Es gibt also keine alternativen Fakten. Entweder sind es Fakten oder nicht. Es gibt auch keine alternativen Elefanten: es gibt höchstens Elefanten, die man mit Photoshop verunstaltet. Das ist der Knackpunkt. Hier richtet die konstruktivistische Begrifflichkeit eine grosse Verwirrung an. Fakten sind immer richtig: man kann sie höchstens falsch darstellen. Man kann sie entstellen. Oder falsch verstehen. Und so gesehen ist der Feldzug gegen Fake news ungefähr gleichbedeutend mit einem Kampf gegen "wahre Lügen" oder "lügnerische Wahrheiten", der dann seinerseits eine alternative Wirklichkeit postuliert. Man kämpft gegen alternative Fakten, indem man die Folie austauscht, das angebliche Wirklichkeitskonstrukt. Doch das Gegenpostulat zu einer Lüge ist nicht zwangsläufig die Wahrheit, und die Wirklichkeit ist kein Arrangement von Folien, die man auswechseln kann wie die Folien auf einem Hellraumprojektor. Wenn ein Gedanke wahr ist, liegt das daran, dass er mit der Wirklichkeit übereinstimmt, und nicht daran, dass die eine Wirklichkeit richtiger ist als die andere. Man verwechselt hier ganz offensichtlich die narrative Folie mit der Wirklichkeit. Man hält die Wirklichkeit für das, was mitgeteilt wird, letztlich für ein Konstrukt. Und genau darin liegt der Irrtum. Die Konstruktion von Wirklichkeit durch ideologisches Denken, subjektive Zustände oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe spielt - anders als der Konstruktivismus behauptet - bei der Frage, ob ein Gedanke wahr ist oder nicht, überhaupt keine Rolle. Wenn Trump sagt, der Himmel über New York sei blau, hängt der Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht von Trumps Gesinnung ab, sondern vom Wetter.

 

Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir es hier mit einer Philosophie zu tun haben, die sich mit der Realität schwer tut. Oder sogar leugnet, dass es überhaupt so etwas wie Realität gibt. Als akademische Denkmethode, die die Subjektgebundenheit der Erkenntnis und die Eigengesetzlichkeit von Denksystemen herausstellt, ist der Konstruktivismus äusserst lehrreich. Wenn ich hier seine fragwürdige Seite thematisiere, heisst das nicht, dass ich ihn nicht schätze. Durch konstruktivistische Textinterpretationen habe ich zum Beispiel gelernt, dass das "Ich" in einem Text nicht identisch ist mit dem persönlichen Ich des Autors. Auch dort, wo der Autor in Ich-Form seine persönlichen Ansichten zu Papier bringt, spricht nicht er, sondern der Text. Was der Autor wirklich denkt, ob er sein Text-Ich nur fingiert oder nicht, ist für den Text und den Leser nicht von Belang. Die Autorschaft wie auch jede andere "aussertextliche Realität" kann und darf der konstruktivistische Interpret beiseite schieben. Was für ihn zählt und existiert, ist der Text und dessen inhärente Logik. Unter diesem Aspekt ist das Ich im Text immer ein rhetorisches Ich, ein Konstrukt, so wie auch der ganze Text als eine Konstruktion anzusehen ist. Das heisst: als eine Ansammlung von Zeichen, die "etwas miteinander machen". Kurzum: alles Konstruktivistische läuft auf eine gewisse Selbstbezüglichkeit hinaus. Real ist nur, was in einem System aus Zeichen oder Bedeutungen miteinander korrespondiert. Im Umgang mit Literatur, Sprache und Kunst sind solche Interpretationsmethoden äusserst ergiebig, wenn auch nicht immer klar ist, was sie bezwecken sollen. Oft entspringen sie nur der Freude an der Freude, dem nerdhaften Bedürfnis, die Selbstbezüglichkeit von Texten und Bildern auszuloten, bis man alles um 180 Grad gedreht hat und wieder von vorne anfangen kann. Der Konstruktivist liest und entschlüsselt Texte und Bilder als etwas Systemisches. Das Reale, wenn er denn überhaupt darauf Bezug nimmt, erschient ihm als Mitteilung. Real ist, was man sagt und wie man es sagt. Ihm geht es nicht um eine frei schweifende, "ganzheitliche" Kunst- und Kulturbetrachtung, wie wir sie etwa bei John Berger finden: eine Rezeption der Lebensart oder Selbstkultivierung. Hier ist die Mitteilung etwas Nachgeordnetes, ein Tasten und Abtasten, während der Konstruktivist den Beschreibungsvorgang schon für die Realität hält.

 

Aus meiner nicht sehr ausgedehnten Hochschulzeit besitze ich immer noch drei prallvolle Ordner mit tausenden sauber gelochten A4-Kopien: eine ungeordnete Sammlung aus konstruktivistischen und poststrukturalistischen Seminarlektüren und fachliterarischen Textauszügen. Diese Texte, bei denen das Textverständnis nie abgeschlossen ist, wenn es denn überhaupt irgendwo anfängt, habe ich - womit das "Ich" in diesem Text gemeint ist, nicht mein wirkliches Ich - gar nicht so ungern gelesen. Ich mag Texte, die mich überfordern. Ich mag es, wenn ein Text autistisch in sich selber kreist. Ich mag auch die Gedichte von Mallarmé, die absoluter und reiner Text sind. In einem Gedicht von Mallarmé spiegelt sich keine nicht-literarische Realität. Man kann damit unmöglich irgendetwas über die "Welt da draussen" in Erfahrung bringen. Ausserhalb der reinen Textbezogenheit gibt es an diesen Texten buchstäblich nichts, mit dem man sich befassen könnte, und mit dem Konstruktivismus verhält es sich ähnlich. Als Konstruktivist werde ich unweigerlich damit konfrontiert, dass die Realität kein Text ist. In der kommunikativen Praxis scheitert diese Denkmethode schon in der Uni-Mensa: dann nämlich, wenn ich das vegetarische Menu verlange und daraufhin auch das vegetarische Menu bekomme. Pech gehabt! Anscheinend bezieht man sich da auf die gleiche Realität - und kann sich problemlos über sie verständigen. Auch wenn ich und die Person, die mir das vegetarische Menu aushändigt, unterschiedliche Diskurse vertreten. Und auch wenn wir unterschiedliche Geschmäcker haben oder unterschiedliche Sprachen reden. Die Realität ist genausowenig konstruiert, wie es die Aussagen über sie sind. Sie können lediglich richtig oder falsch sein. Die Aussage: "In der Uni-Mensa gibt es ein vegetarisches Menu" ist richtig, weil dieses Menu in der Uni-Mensa tatsächlich angeboten wird. Gäbe es in der Uni-Mensa kein vegetarisches Menu, wäre die Aussage falsch. Das Entweder-oder von Richtig und Falsch entscheidet sich an einem objektiven Tatbestand. Einen weiteren Mitspieler gibt es nicht. Keine soziale Gruppe, kein Diskurs, kein kulturelles Muster, kein subjektives Empfindungsfeld entscheidet über den Wahrheitsgehalt einer Aussage. Der Angelpunkt liegt woanders, und hier hat man denn auch die grösstmögliche Objektivität. Allein die Tatsache, dass eine Aussage richtig oder falsch sein kann, ist der stichhaltige Beweis dafür, dass es den Angelpunkt einer objektiven Wahrheit gibt. Und dass er sich überall und jederzeit auswirkt, wo wir kommunizieren. Wobei das Verständnis nie ganz eindeutig ist. Aussagen haben - wie Türen an einer fest montierten Angel - einen gewissen Drehradius. Komme ich als Veganer, der Milchprodukte verschmäht, in der Uni-Mensa auf meine Kosten oder nicht? Das müsste man genauer abklären. Ein vegetarisches Menu kann, aber muss nicht vegan sein. Was ein Veganer essen kann und darf, das kann und darf auch ein Vegetarier essen, aber nicht umgekehrt. Hier gibt es eine gewisse Unschärfe. Ein Faktum kann unterschiedlich aufgefasst werden. Ein Faktum kann falsch verstanden werden. Oder auch nur teilweise falsch. Etwa wenn ich als Veganer das vegetarische Menu verlange und dann enttäuscht bin, weil die Kartoffeln mit Käse überbacken sind.

 

Ein Faktum ohne jeden Realitätsbezug müsste man wahrscheinlich als Nonsens einstufen. Oder deutlicher gesagt: als Blödsinn. Doch im Blödsinn gibt es keine Faktizität. Alternative Fakten existieren nicht. Wenn ich irgendetwas aus der Luft greife, verkünde ich keine alternative Wahrheit, sondern erzähle einfach nur Blödsinn. Wenn dieser Blödsinn allerdings in ein bestimmtes Sinngefüge hineinpasst, ist das, was ich sage oder erzähle, doch nicht völlig ohne objektive Wahrheit. Es ist nicht aus der Luft gegriffen. Wenn ich zum Beispiel erzähle, ich hätte Elvis angetroffen, und damit einen offensichtlichen Blödsinn zum Besten gebe, kann meine Aussage insofern richtig sein, als ich unter Halluzinationen leide. Oder vielleicht lebt Elvis ja noch, und die Hoffnung stirbt zuletzt. Oder vielleicht habe ich - was ein bisschen wahrscheinlicher ist - einen Elvis-Imitator gesehen, den ich als den echten Elvis anpreise, weil ich ein Witzbold bin. Oder vielleicht bin ich ein Naivling und halte den Elvis-Imitator allen Ernstes für den echten Elvis. Und zu guter Letzt besteht auch noch die Möglichkeit, dass ich gar nicht Elvis Presley meine, sondern Elvis Costello, was meinem Musikgeschmack ohnehin eher entsprechen würde. Der Angelpunkt ist da, sobald die Aussage einen Sinn hat, einen Verständnisraum öffnet. In diesem Verständnisraum bezieht sie sich auf ein Faktum. Allerdings kann man dieses Faktum nur in den Blick nehmen, wenn man den Sinn (die "Drehrichtung") der Aussage erfasst. Indem man zum Beispiel auch erfasst, ob ich das ironisch oder ernst meine, was ich sage. Den Unterschied zwischen Tatsachen und Mitteilungen sollte man nicht verwischen, wie das im Konstruktivismus gang und gäbe ist, der die Gebrauchsanleitung für eine Maschine gerne mit der Maschine verwechselt. Wenn die Gebrauchsanleitung falsch ist, heisst das nicht, dass die Maschine nicht funktioniert. Wenn der Meteorologe eine falsche Prognose macht, heisst das nicht, dass das Wetter fehlerhaft ist. Wenn ich ein verwackeltes Ferienfoto schiesse, heisst das nicht, dass meine Ferien verwackelt sind. Wenn jemand Blödsinn erzählt, heisst das nicht, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Oder dass sich dieser Blödsinn nicht auf eine objektive Wahrheit bezieht. Man kann also davon ausgesehen, dass die Wahrheit KEIN Konstrukt ist. Sie ist echt. Wie auch ihr Gegenteil kein Konstrukt ist. Fake news sind keine konstruierten Wahrheiten, sondern lediglich ein missbrauchter oder schlechter genutzter Verständnisraum. Und Ähnliches gilt auch für das "Framing". Wer ein Faktum erzählerisch zubereitet, richtet das Verständnis von Wahrheit nach bestimmten Kriterien aus, was eben nicht heisst, dass hier eine Wahrheit "konstruiert" wird.

 

Der Begriff "Fake news" ist irreführend, ironischerweise selber eine Art von Fehlinformation, wie der italienische Philosoph und Informationsethiker Luciano Floridi in seinen gegenwartsnahen Analysen aufzeigt. Auch der deutsche Erkenntnistheoretiker Markus Gabriel, der die philosophische Position eines pragmatischen Realismus vertritt, hinterfragt die allgemeine Fake-news-Hysterie und setzt ihren konstruktivistischen Fehlleistungen eine Denkmethode entgegen, die mit der Realität umgehen kann. Beide Philosophen stellen eine ähnliche Problematik fest: im Begriff "Fake news" steckt eine konstruktivistische Realitätsauffassung, die nicht stichhaltig ist. Der Topos "Fake news" suggeriert ein Bild, das systematisch verunsichert - und die nicht ungefährliche Fata Morgana einer "absoluten Wahrheit" mitliefert. In einer schier undurchschaubaren, von Fake news und alternativen Fakten durchgeschüttelten Informationswelt sind wir von lauter tückischen Scheinwahrheiten umgeben, die wir irgendwie reinigen oder bereinigen müssen, damit der Schein endlich verschwindet. Diese dramatische Beschreibung, die von Ad-hoc-Experten und Mainstream-Medien ziemlich unkritisch herumgereicht wird, hat einen empfindlichen Haken. Sie ist falsch. Sie ist von vorne bis hinten ein Fake. Wir leben nicht in einer Welt voller Kulissen, wo man hinter all den falschen Wahrheiten die eigentliche und richtige Wahrheit suchen muss. Die Wahrheit ist so ziemlich das Einfachste. Wie auch die Wirklichkeit. Das jahrzehntelange, kultisch angehauchte Beschwören von "virtuellen Realitäten" (Konstruktivismus!) hat die Selbstwahrnehmung im Umgang mit neuen Medien auf eine völlig schiefe Bahn gebracht. Denn ein Medium ist per definitionem kein Wirklichkeitsimitat oder Phantom, sondern eine Schnittstelle zur Wirklichkeit und an sich nicht unwirklicher als die Computer-Hardware oder ein Buch oder ein Apfel. Die Infosphäre des Internets und der ganzen übrigen Medienlandschaft ist genauso wirklich wie unser Denk- und Wahrnehmungsvermögen. Wir befinden uns nicht in einer Scheinwelt, wenn wir im Internet surfen oder Zeitungen lesen. Wenn wir fernsehen, Bilderbücher anschauen oder News-Portale aufrufen. Oder auf Youtube (versehentlich) einen Clip anklicken, in dem eine dicke russische Strumpfverkäuferin auf der Ladentheke den "Gangnam Style" tanzt. Das alles verweist auf die Wirklichkeit, so wie ein Fenster auf den Aussenraum verweist, den es in der Regel auch zeigt. Nur ist das eben eine Wirklichkeit mit vielen Facetten und Zugängen. Wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir nicht die ganze Welt und die volle Wirklichkeit. Was wir da zu sehen bekommen, ist ein Ausschnitt, den wir in ein präfiguriertes Ganzes - in unsere Weltsicht - einordnen müssen. Was uns zum eigentlichen Kern der Sache bringt. In demokratischen und säkularen Gesellschaften gibt es einen gesunden Pluralismus. Und es gibt wissenschaftliche Prinzipien, siehe Karl Popper. Im wissenschaftlichen Denken und Forschen - und ich meine damit vor allem die Naturwissenschaften - erreicht man ein Höchstmass an Genauigkeit und Verbindlichkeit. Jeder Mensch hat eine eigene Sichtweise, den eigenen Blick aus dem Fenster. Damit hat man aber noch keine intersubjektive Wahrheit erkannt. Was nicht heisst, dass man mit dieser subjektiven Wahrnehmung nicht zur Wahrheitsfindung beitragen könnte. Denn es gibt eine übergeordnete Instanz, die aus den vielen Einzelmeinungen und subjektiven Sichtweisen etwas Grösseres zusammenfügt. Etwas Verbindliches. Diese Instanz ist der Konsens einer wissensbasierten Gesellschaft. Die Wissenschaft sagt uns, was wir wissen können. Und ob  das, was wir zu wissen glauben, mit der Realität übereinstimmt. Sie steckt den objektiven Rahmen unseres Wissens ab. Und sie klärt uns darüber auf, wie wir die subjektive Wahrnehmung objektivieren können. Zum Beispiel die Wahrnehmung, dass der Horizont ein gerader Strich ist. Die Wissenschaft sagt uns, dass dies eine Täuschung ist. In Wirklichkeit ist der Horizont gekrümmt. Es gibt einen breiten Konsens darüber, dass die Welt eine Kugel und keine Scheibe ist. Allerdings ist das kein Dogma. Wer will, kann Widerspruch einlegen. Wer will, kann mit einem Schiff zum Weltenrand fahren, um die Annahme einer runden Erde zu falsifizieren. Die Existenz einer objektiven Wahrheit ist - anders als der Konstruktivismus behauptet - keine Mär. Man nimmt es als gegeben an, dass die Erde rund ist, weil sich das aus gewissen Beobachtungen und Messverfahren ableiten lässt. Und das ist denn auch der Punkt, wo Erkenntnisse anfechtbar sind. Sie können korrigiert oder ergänzt werden, wenn neue Beobachtungen und Messverfahren andere Ergebnisse erbringen. Oder philosophisch ausgedrückt: wenn etwas als wahr oder richtig erkannt werden kann, besteht zwangsläufig die Möglichkeit, dass man sich täuschen kann. Der Erkenntnisweg ist keine Einbahnstrasse. Doch was hat das nun mit Fake news zu tun? Erkenntnisse sind immer auch Erzählungen. "Die Welt ist rund. Segle ich nach Westen, komme ich aus östlicher Richtung wieder zurück. Segle ich nach Osten, komm ich aus westlicher Richtung wieder zurück." Eine erstklassige Erzählung! Eine spannende Abenteuergeschichte! Doch es kann Widerspruch geben. Jemand, der sich eine flache Erde vorstellt, mag sich genötigt sehen, eine andere Erzählung ins Spiel zu bringen. "Die Welt ist flach. Segle ich nach Westen, stürze ich früher oder später in den Abgrund. Segle ich nach Osten, passiert mir das Gleiche. Segle ich hingegen um die Weltmitte herum, komme ich zuverlässig wieder an den Ausgangspunkt zurück." Nun kann die Wissenschaft ziemlich überzeugend darlegen, dass die Erde rund ist - und dass die Flat Earth-Theorie ein logischer Murks ist. Trotzdem darf jeder behaupten, was er will, und auch eine stichhaltige wissenschaftliche Erkenntnis ist vom Prinzip her nicht unwiderlegbar. Und so läuft es, seitdem die Menschen die Möglichkeit haben, in einem aufgeklärten Rahmen - ohne religiöse oder totalitäre Gängelung - miteinander zu kommunizieren. Erzählungen, ob wahr oder erfunden, stehen immer in Konkurrenz zu anderen Erzählungen. Und jede Behauptung kann eine Gegenbehauptung herausfordern - und muss diese letztlich auch zulassen. Wir leben (Gott sei Dank) in einer pluralistischen Wissenskultur. Diese Kultur ist ein offener Tisch: jeder und jede darf mitreden, jeder und jede darf seinen oder ihren Senf dazuzugeben. Was als wahr gelten soll, wird offen verhandelt. Es wird darüber doziert, es werden Argumente ausgetauscht, es wird darum gestritten. So entstehen neue Erkenntnisse, und so lassen sich alte Erkenntnisse immer wieder auf den Prüfstand stellen. Und wo liegt nun das Problem mit Fake news? Indem man Fake news abklemmt und Verständnisräume einengt, um jeder Irreführung vorzubeugen, fügt man der Wissenskultur einen Schaden zu. Diese Kultur braucht nämlich eine prinzipielle Offenheit. Falschbehauptungen sind keine ungeladenen Gäste. In einer offenen Wissenskultur sind sie willkommen - und niemand braucht sie zu fürchten. Im Gegenteil. An ihnen schärft sich der Wahrheitssinn. Indem man sie offen und von möglichst vielen Seiten her diskutiert, unterwirft man sie einem Härtetest und kann sie letztlich beiseite schieben, weil sie keinen brauchbaren Erkenntnisgewinn bringen. Sie scheiden aus. Doch um die Erkenntnis zu gewinnen, dass eine Falschbehauptung falsch ist, muss man sie erst einmal zulassen können. Man sollte sie nicht von vornherein schon als "nicht diskussionswürdig" deklarieren. Man kann damit nämlich auch falsch liegen. Die Behauptung zum Beispiel, die Corona-Impfung beinhalte das Risiko von Impfschäden, wurde lange Zeit als bösartige Falschbehauptung diffamiert, bis die Wissenschaft dahinterkam, dass doch etwas dran ist. Das sogenannte Post-Vakzin-Syndrom wurde einwandfrei nachgewiesen und stellt bis heute einen ernstzunehmenden Forschungsgegenstand dar. Deshalb sollte man den Diskussionsraum niemals voreilig einengen. Man sollte ihn auch für unbewiesene oder gar haarsträubende Behauptungen offen halten. Das hat in der Vergangenheit schon immer gut funktioniert. Auf diesem Prinzip beruht die ganze Wissenschaft. Wieviele "schräge" Theorien sind da nicht schon verworfen, wieviele Behauptungen nicht schon widerlegt worden! Und deshalb plädiere ich in dieser Sache für mehr Gelassenheit. Entspannt euch, Leute! Man sollte sich vor Augen halten, dass die Wertung "Lüge gleich schlecht und Wahrheit gleich gut" extrem problematisch ist. Lügen ist etwas Normales, wir belügen uns ja meistens selbst, und die Wahrheit ist auch nicht immer das Beste. Wer immer nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit will, gräbt sich selber eine Grube. Wer das Prinzip von Rede und Gegenrede ausschaltet - und damit auch jedes dialektische Für und Wider - landet zwangsläufig in der Lüge. Ein Wahrheitsdiktat ist das Gegenteil von Wahrheit. Es ist eine voreilige Wahrheit, ein Pseudo-Wahrheit. Eine Wahrheit, die ihre Gegenposition auslöscht, macht es sich zu leicht. Wären alle Menschen "wahrheitsgeimpft" und auf absolute Widerspruchslosigkeit getrimmt, müsste man die Lüge geradezu erfinden, damit wieder etwas Bewegung in die Köpfe kommt. Damit ein Erkenntnisprozess in Gang gesetzt wird. 

 

Aus der Angst heraus, "Bubbles", "Bots" und "Hoaxes" könnten das öffentlich-politische Bewusstsein zu stark beeinflussen, hat sich eine moralistische Stellungnahme gegen Fake news etabliert, die beinahe schon ideologische Formen annimmt - und sich allzu oft dazu verleiten lässt, Wasser mit Wasser und Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Denn das Internet ist auch für diejenigen unentrinnbar, die seine Mechanismen kritisieren. Für Selbstgerechtigkeit ist hier kein Platz. Ob Fake news wirklich für die vielbeschworene allgemeine Verwirrung verantwortlich sind - gar für den Brexit oder die Wahl von Donald Trump, wie die hysterisierte linksliberale Presse behauptet - ist äusserst zweifelhaft. Wahrscheinlich ist es eher umgekehrt: die allgemeine Verwirrung treibt die Menschen in jene Informationsblasen, in denen sich nur noch Gleichgesinnte tummeln, die einander genau das bestätigen, was sie bestätigt haben wollen, und alles andere tun sie als Fake news ab. Wobei sie eben selber auch nicht ganz unbefleckt dastehen. Der geschlossene Informationsraum erzeugt eine eigene Realitätswahrnehmung, die jeden selbstgesetzten Anspruch auf Objektivität unterläuft und die Verbreitung von Fake news begünstigt.

 

Häufig kritisiert man in diesem Zusammenhang die algorithmische Filterung und Sortierung von Informationen. Natürlich ist diese Kritik nicht unberechtigt. Seitdem mir der Werbe-Algorithmus von Google regelmässig vorschlägt, dass mein Hund Hasenfutter fressen soll, sehe ich hier durchaus eine Gefahr, zumindest für meinen Hund. Und seit ich die Adresse meines Zahnarztes gegoogelt habe, bekomme ich regelmässig Werbeanzeigen für Zahnprothesen. Doch irgendwie ist das auch beruhigend. Hätte die Stasi so schlampig gearbeitet wie das Spionage-Tool von Google, wäre die DDR schon viel früher untergegangen. Ein Algorithmus, der solche Verknüpfungen herstellt, kann niemals allwissend sein. Er kann mich zwar ausspähen, begreift aber nicht, wer ich bin und was ich mache. Andererseits ist er gerade deswegen nicht ungefährlich. Wenn zukünftig Menschenleben von solchen Systemen abhängen, sind Katastrophen buchstäblich vorprogrammiert. Das Wirkungsprinzip von künstlicher Intelligenz und algorithmischer Datenverarbeitung geht von der konstruktivistischen Fehlannahme aus, dass die ganze Realität ein System sei, das man abbilden und rekonstruieren könne. Darauf beruht übrigens auch der Behaviorismus, die Lehre der Konditionierung, die trotz ihrer Fragwürdigkeit überall eingesickert ist, unter anderem auch in die Programmierungstechnik. Der Versuch, uns mit Algorithmen zu manipulieren, steht auf einer extrem wackligen Grundlage. Datensysteme sind eben gerade nicht in der Lage, mit dem analogen Leben angemessen zu interagieren. Sie pressen alles in ein beschränktes Schema hinein - und scheitern letztlich an der analogen Komplexität. Google-Street-View kann nur Sachen erfassen, die im Blickfeld der Kameras liegen. Wo keine Strasse durchführt, wo eine Mauer die Sicht versperrt, da gibt es auch keine Sicht. Ähnlichen Beschränkungen unterliegen auch Algorithmen. Sie können nur Sachen erfassen, die man eintippt. Was man nicht eintippt, ist quasi inexistent. Und was man eintippt, wird nur interpretiert. Es wird nicht entschlüsselt. Die Motive erfasst das System nicht. Es kann sie höchsten durch Datenverknüpfungen zu konstruieren versuchen. Mein Alter plus Online-Bestellung einer Zuger Kirschtorte plus Google-Suche nach Zahnarzt gleich schadhafte Zähne gleich Zahnprothese. So schlussfolgert der Algorithmus. In Wirklichkeit habe ich aber kerngesunde Zähne, mein Zahnarzt hat nur etwas Zahnstein entfernen müssen, und die Zuger Kirschtorte habe ich nicht selber gegessen, sie war für meinen Hund. Der Algorithmus könnte nicht weiter daneben liegen. Er hat alles falsch interpretiert. Er hat die Realität (meine Realität) in sein eigenes, beschränktes Schema übersetzt - und ist daran gescheitert. Der Mensch ist kein offenes Buch, und er ist auch kein Pawlowscher Hund, der schön brav Speichel produziert, wenn die Glocke läutet. (Mein Hund produziert Speichel, wenn er eine Zuger Kirschtorte sieht, aber ein Hund ist eben ein Hund und kein Mensch). Künstliche Intelligenz durchschaut uns nicht. Das erkennt man nicht nur an den schrägen Werbebannern, die man täglich wegklicken muss. Man erkennt es auch daran, dass neuerdings so viele Wahlprognosen (Beispiel Donald Trump) peinlich weit daneben liegen. Menschliches Verhalten auf der Grundlage algorithmischer Auswertungen zu prognostizieren, ist der sicherste Weg, sich lächerlich zu machen.

 

Google und Co. stanzen für uns ein mehr oder weniger massgeschneidertes Wirklichkeitsbild aus. Trotzdem ist es falsch, für die geschlossenen Informationsräume die Algorithmen verantwortlich zu machen, die ja nur ein Mittel zum Zweck sind. Zweifellos verstärken Algorithmen durch ihre Feedbackwirkung Differenzen und schaukeln Konflikte hoch. Doch diese Differenzen und Konflikte sind schon da, bevor sie durchs Internet rauschen. Algorithmen können nur Differenzen und Konflikte akut machen, die schon wirksam sind. Die breit anschwellende Klage über den "Internetdschungel" und die Manipulation durch Filterblasen halte ich für heillos überzogen. Und ehrlich gesagt: für ziemlich naiv. Die Technik hat hier lediglich etwas "optimiert", das immer schon dagegewesen ist. Standesunterschiede, Klassenkämpfe, soziale Verwerfungen und vor allem auch die entsprechenden Feedbackmechanismen sind in unserer globalisierten und vernetzten Welt so wirksam wie eh und je. Der Eindruck, dass wir in einer besonders konfliktträchtigen Zeit leben, täuscht. Im Jahr 1968 - nach der Ermordung Martin Luther Kings - hat halb Amerika gebrannt, und in Europa sind die Studenten auf die Barrikaden gegangen. Überall herrschte Ausnahmezustand. Verglichen mit damals leben wir in einer verhältnismässig ruhigen und beschaulichen Zeit. Nur haben wir eben heute das Internet, und im Internet herrscht permanent irgendein Aufruhr. Da befeinden sich Parteien, Meinungsmacher und Communities, bis die Fetzen fliegen. Als ob das neu wäre! Ist es aber nicht. Die heutige Zersplitterung in Communities ist nichts Neues. Wie es auch nichts Neues ist, dass Lebensrealitäten, Ideologien, Meinungen und Ansichten schroff aufeinander prallen. Hass im Internet? Ja und? Was sich hier abspielt, ist ungefähr das, was sich schon immer abgespielt hat. Es nennt sich Geschichte. In der Datenflut der weltweiten Kommunikationsvernetzung ist die geschichtliche Dynamik keineswegs zum Stillstand gekommen. Es knallt und kracht und knirscht wie eh und je. Daran ändert die neue Technologie oder Kommunikationsform namens Internet überhaupt nichts. Das Internet wendet nichts zum Guten, und es ist auch nicht böse. Es ist immer nur so unruhig wie die Menschen, die von ihm Gebrauch machen, und natürlich verstärkt es diese Unruhe - oder macht sie zumindest fühlbarer. Es wird zum sozialen und politischen Schallkörper, zum Schauplatz historischer Umbrüche und Konflikte. Insofern ist die Idee eines Internets der humanistischen Liberalisierung, wo sich alle Menschen auf Augenhöhe austauschen, eine rührende Illusion. Das Internet ist kein Garant für sozialen Fortschritt; es bietet keinen Ersatz für gute Schulen und intakte Gemeinschaften. Keinen Ersatz für Bildung, Humanität und Sozialität. Durch E-Schooling und E-Learning wird kein Schüler jemals schlauer. Es sei denn, er kann nicht physisch zur Schule gehen, weil er in einer eingeschneiten kanadischen Blockhütte festsitzt. Und soziale Kompetenz eignet man sich vor dem Bildschirm oder dem Smartphone genauso wenig an, wie das Kleinkind in der Wiege laufen lernt. Die überall propagierte und vorangetriebene Digitalisierung ist eine gigantische Falle. Besonders für Leute wie mich, die dazu neigen, ihre Passwörter zu vergessen. Und die dann auch noch die vielen Notizzettel nicht mehr finden, auf denen sie die vielen Passwörter festgehalten haben. Das Wesentliche - zumindest in meinem Fall - sind halt nicht die passwortgeschützten Portale und Foren, in die ich mich einloggen könnte, wenn ich die Passwörter noch wüsste, sondern die Notizzettel, eine probate Gedächtnisstütze, die schon unsere Grossväter benutzt haben. Allerdings waren unsere Grossväter noch nicht pausenlos abgelenkt durch irgendwelche Twitter-Nachrichten, weshalb sie ihre Notizzettel besser unter Kontrolle hatten. Die Digitalisierung läuft auf den totalen Reinfall hinaus, wenn man sie mit der Absicht verknüpft, alles Analoge zurückzudrängen und auszuschliessen. Das Wesentliche liegt nämlich immer ausserhalb des Digitalen. Damit ein Computer überhaupt anspringt, braucht er Strom. Und Strom entsteht nicht im Internet. Und damit man überhaupt fähig ist, einen Computer zu bedienen, braucht man Nahrung. Und Nahrung entsteht nicht im Internet. Und was mich persönlich betrifft: ich brauche meine Notizzettel. Computer und Internet gaukeln uns eine Wichtigkeit vor, die sie nicht haben. Und je wichtiger wir sie nehmen, desto trügerischer wird die Fortschrittlichkeit, die wir uns von ihnen versprechen. Die neo-ökonomische  Atomisierung der Gesellschaft und die daraus resultierende Vereinzelung und Vereinsamung können durch Livechat, Livestreaming, Videokonferenzen und andere Formen weltumspannender Echtzeitkommunikation weder kaschiert noch kompensiert werden. Und Gruppenidentitäten, die seit Generationen bestehen, lösen sich nicht einfach auf, nur weil man auf Facebook mit einem Ureinwohner aus Papua Neuguinea oder einem Voralberger befreundet sein kann. Und das müssten wir uns vielleicht eingestehen: wir sind auf dem harten Boden der Realität gelandet. Der Mensch lebt nicht in seinen Utopien. Er lebt in einer Realität, die keineswegs ideal ist - und es noch nie gewesen ist. Das Internet erschafft keine neue oder andere Gesellschaft. Es verwandelt höchstens Gold in noch mehr Gold und Pech in noch mehr Pech. Zusammen mit der Digitalisierung vergrössert es die sozialen und ökonomischen Gräben. Es multipliziert, was schon da ist, aber die Geschichte umschreiben kann es nicht. Es beschert uns keine neue Hölle und kein neues Paradies. Es beschert uns nichts, das nicht schon da wäre, und die Bedürfnisse, die es befriedigt, wurden auch schon befriedigt, als es noch kein Internet gab. Menschen wie ich, die in den Siebzigern und Achtzigern ausgewachsen sind, wissen das genau. Kein Internet, kein Smartphone, keine totale Kommunikation: und trotzdem wurde eifrig kommuniziert. Und in gewisser Weise einfallsreicher als heute. Und ich bin mir sicher, dass mir jeder Historiker beipflichtet, wenn ich behaupte, dass die wichtigste Erfindung des 20. Jahrhunderts nicht das Internet gewesen sei, sondern das Penicillin, ohne das die meisten von uns gar nicht leben würden. Aber ohne Internet? Wir wären alle gleichwohl am Leben. Und es ginge uns weder besser noch schlechter. Vielleicht sogar eher besser als schlechter. Denn die Big-Data-Technologie schafft eine neue und fatale Machtkonzentration. Sie konzentriert das Kapital auf den Online-Bereich, wo immer mehr Geld immer weniger Menschen zufliesst. Was zu einer neuen Massenarmut führt. In einer digitalisierten und KI-gesteuerten Welt wird menschliche Arbeit prekär, weil sie sich nicht mehr rechnet. (Das vielzitierte "Prinzip der Nullgrenz-Kosten" von Albert Wenger). Mit der digitalen Machtkonzentration verbindet sich überdies die beunruhigende Aussicht, dass sich die Gesellschaft einer totalitären Selbstkontrolle überantworten könnte. Wenn das geschieht, endet die individuelle Freiheit im Gehege einer technokratischen Batteriehuhnhaltung. Insofern kann uns das Internet tatsächlich einen neue Hölle bescheren. Wenn auch keine, die durch "Hatespeech" oder durch Rechtspopulisten und ihre Filterblasen entsteht. Da wird vieles verwischt und verwechselt. Und da gilt es denn auch genau zu unterscheiden: zwischen realen ökonomischen und technologischen Gefahren und einem moralistischen Medienhype, der das "freie" Internet verteufelt, weil es den angestammten Medien die Definitionshoheit entreisst.

 

Die Gefahren durch Big-Data-Technologien sind nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite haben wir eine soziale Zerklüftung, für die man das Internet oft zu Unrecht verantwortlich macht. Wenn die Gesellschaft zersplittert, wenn alles nur noch auf Konfrontation und Polarisierung hinausläuft, dann gibt es dafür sehr viele ökonomische und soziale Gründe, die ausserhalb des Internets liegen. Die vielgescholtenen Social Media sind insofern ein Fluch, als sie Unstimmigkeiten und Konflikte sichtbarer machen und zuspitzen. Womit sie den gesellschaftlichen Dissens verstärken. Doch die Ursachen der meisten dieser Unstimmigkeiten und Konflikte liegen eben NICHT im Internet. Das Auseinanderdriften gesellschaftlicher Fraktionen und das Fehlen eines einheitlichen Referenzrahmens auf die Internetkultur zu schieben, greift meiner Meinung nach zu kurz. Dass jede Community ihr eigenes Informations- und Wahrheitssüppchen kocht und die eigene Filterblase für die volle und ganze Wirklichkeit hält, ist etwas Menschliches und hat weniger mit dem Internet als mit der modernen Konsum- und Kommunikationsgesellschaft zu tun. Schon vor dem Internet-Zeitalter lebten die Menschen in unterschiedlichen Welten, selbst wenn sie Nachbarn waren oder den Küchentisch teilten. Vielleicht gab es sogar mehr Einzelwelten, Interessensgemeinschaften, Filterblasen, Sekten, Cliquen und Fraktionen als heute, wenn auch durchgehend in analoger Form. Die Möglichkeiten, Unterscheidungen zu treffen, zu wählen und sich abzugrenzen, sind schon damals immens gewesen, und schon damals hat man ständig über die allgemeine Unübersichtlichkeit gejammert. Ich kann mich noch gut an die vielen Werbeprospekte erinnern, die täglich den Briefkasten verstopften. An den Merchandising-Zirkus, dem wir schon als Kinder ausgesetzt waren. An die missionierenden Sekten. An den Kult um Sportvereine und Sporthelden, Popstars und Popgruppen. An die vielen Sticker, Buttons und Aufkleber, mit denen man sich zu irgendetwas bekannte. An die verschiedenartigen Jugend-Subkulturen von Punk bis Gothic, von Heavy Metal bis Pop. An die Markenklamotten-Manie. An das wuchernde Direktmarketing. An die vielen Sammelprämienanbieter. An das Überangebot an Zeitschriften und Illustrierten. An die Standesunterschiede, die man damals nach respektiert hat. Man war ein Büetzer, ein Hippie, ein Rocker, ein Verwaltungsrat, ein Armeeoffizier oder sonst etwas. Die Zugehörigkeit war wichtig, ja lebensbestimmend. Gerade weil alles so divers und unübersichtlich war. Man könnte sogar sagen, die Welt sei damals uneinheitlicher und unübersichtlicher gewesen als heute. Überall gab es Fangruppen und Clubs, Mitgliederorgane und Fachblätter. Und jedem Tierchen sein Pläsierchen. Der eine fuhr einen Opel Manta, der andere einen Fiat. Der eine sammelte Briefmarken, der andere Schlümpfe, Schneekugeln oder Schlüpfer. Der eine war im Schachclub, der andere im Turnverein. Der eine las die NZZ, der andere den Spiegel. Der eine war für die Armee, der andere für die Armeeabschaffung. Der eine war für Atomkraft, der andere für "Atomkraft-nein-danke". Der eine war bei der FDP, der andere bei der SP. Der eine war Fan von Borussia Dortmund, der andere von FC Bayern. Der eine hatte einen Schäferhund, der andere einen Zwergpinscher. Der eine ging in die Disco, der andere auf die Hochwildjagd. Der eine war Anhänger der Bhagwan-Sekte, der andere ging zur Freikirche. Der eine hörte AC/DC, der andere Mozart. Und ständig gab es Krach, auch unter Nachbarn und zuhause am Küchentisch, weil die Ansichten und Meinungen drastisch auseinandergingen. Und das alles ohne Internet! Den einheitlichen, grundsoliden, topseriösen und für alle Menschen verbindlichen Referenzrahmen, von dem die etablierten Medienschaffenden neuerdings so gerne schwärmen oder phantasieren, hat es nie gegeben. Vielleicht ein Stückweit im sozialistischen Osten, wo es einen Staatsfunk und gleichgeschaltete Zeitungen gab. Aber im liberalen Westen waren selbst die seriösesten Medien himmelweit von einem Einheitsverständnis, einem gesellschaftlichen Grundkonsens entfernt.

  

Schon immer hatten die Medien eine ambivalente Zielrichtung: Breitenwirkung und soziale Fokussierung. Wer auch nur ein bisschen etwas von Journalismus versteht, weiss nur zu gut, dass es keine ungefilterte Berichterstattung gibt. Es ist geradezu die Aufgabe des Journalisten, Informationen zu gewichten. Er stellt die Informationen nicht nur bereit, sondern hilft sie auch einzuordnen. Dies setzt einen gemeinsamen Bezugsrahmen voraus, ein bestimmtes Wertesystem, das der Journalist mit seinen Rezipienten teilt. Bevor ich als Leser, Zuschauer oder Hörer verstehen kann, was gemeint ist, muss eine gemeinsame Informationsbasis da sein, die ich anzapfen kann. Diese verbindet den Sender mit dem Empfänger - und den Empfänger mit einem Kollektiv, das ihn und seine Denkweise bestätigt. Hier gibt es ein Kommunikationsnetz, das von ähnlichen Meinungen durchpulst wird, und hier gilt die Devise: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Ein NZZ-Leser hat seit jeher ein anderes Weltbild als ein Spiegel-Leser - und jeder von ihnen findet das eigene Meinungsspektrum Tag für Tag oder Monat für Monat hochoffiziell bestätigt, und früher nannte man das nicht Informationsblase, sondern Abonnement. Was jemand erzählt, ist immer auf die Sichtweise und Interessenslage des jeweiligen Adressaten abgestimmt. Niemand schreibt in die blaue Luft hinein, und oft sind es Finessen, die darüber entscheiden, wo die Post hingeht. 

 

Grundsätzlich gab es sie schon immer: Communities mit eigenen Prioritäten und Bewertungssystemen. In dieser Heterogenität zeigt sich eine gewisse gesellschaftliche Zersplitterung. Andererseits muss das keineswegs negativ sein. Man könnte das auch als Meinungsvielfalt bezeichnen. Das Gegenteil wäre eine konformistische Einheitmeinung, die alles Abweichende sanktioniert. Wo die Presse ihren Auftrag ernst nimmt, vertritt sie unterschiedliche Positionen und unterscheidbare Meinungen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Zeitungen nicht einfach nur Depechenmeldungen widerkäuen, sondern etwas "hinzudichten". Dieses "Hinzudichten" ist eine Gratwanderung zwischen Statement, Analyse und Kampagne. Grundsätzlich ist es jedoch der Boden, auf dem die Meinungsvielfalt gedeiht, Ausdruck einer lebendigen Debattenkultur. Wenn der Spiegel und die NZZ berichten, dass Herrn Müllers Hund den Briefträger gebissen habe, kann es durchaus sein, dass der Spiegelbericht dem Briefträger die Schuld gibt, weil dieser, so die Begründung, das Warnschild "Vorsicht vor dem Hunde" ignoriert habe, während die NZZ zum gegenteiligen Schluss kommt: nicht der Briefträger, sondern Herr Müller sei schuld an dem Malheur, weil der Hund nicht angekettet gewesen sei und der Briefträger ja gar keine andere Wahl gehabt habe, als das Grundstück zu betreten. Sofern ich für den Hundehalter oder den Briefträger Partei ergreife, werde ich mich eventuell dazu hinreissen lassen, einen von den beiden Berichten als wahrheitswidrig abzutun, obwohl sich beide Zeitungen an die Fakten halten und in diesen Fakten weitgehend übereinstimmen: Hund beisst Briefträger. Keine der beiden Zeitungen hat gelogen oder die Fakten irgendwie verdreht. Verschieden ist nur die Bewertung, die Interpretation. Und da gibt es tatsächlich einen beträchtlichen Spielraum. Selbst wenn die Weltwoche im Nachgang zu dieser Debatte die Behauptung aufstellt, der Briefträger, schon rein berufsbedingt ein notorischer Hundehasser, sei nur deshalb gebissen worden, weil er seinerseits den Hund habe beissen wollen, was diesen zu einer leicht erklärlichen, aber leider von den linkslastigen Medien zu seinen Ungunsten interpretierten Präventivmassnahme veranlasst habe, so ist das noch lange keine Desinformation. Man weiss ja, worauf sich das bezieht. Man weiss, was zur Diskussion steht, und die Weltwoche macht eigentlich nichts anderes, als dem sich schon drehenden Kreisel einen neuen und ungewöhnlichen Spin zu versetzen. Interpretationsspielräume, Gegendarstellungen, Spekulationen und alternative Szenarien sind im Journalismus das Salz in der Suppe.

 

Dass aber in letzter Zeit so häufig von Fake news die Rede ist, hat einen ganz anderen Hintergrund. Es hat mit der abhanden gekommenen Diskurs- und Deutungshoheit der Medien zu tun. Es ist eine Verunsicherungshysterie. Diese rührt nicht nur daher, dass sich die Menschen in ihren eigenen Welten - den sogenannten Blasen - gegen den Einfluss der Mainstreammedien abschotten. Das Internet bewirkt auch das Gegenteil, was für die Medienschaffenden fast noch bedrohlicher ist. Man verfügt über unzählige Informationsquellen, und die allgemeine Verunsicherung in Bezug auf die Wahrheit kommt auch daher, dass viele Menschen den Wahrheitsgehalt und die Objektivität der von den Mainstreammedien verbreiteten Mitteilungen selbständig überprüfen können. Ob und wie kompetent sie das tun, ist wieder eine andere Frage, wobei sich hier ein ähnliches Problem abzeichnet wie bei jeder Demokratisierung. Ist die Demokratie etwas Schlechtes, nur weil sich die Mehrheit für das Falsche entscheiden könnte? Die Antwort geben wir uns bei jeder Abstimmung selbst: lieber das Falsche - das Risiko des Irrtums - als eine Bevormundung mit obrigkeitlicher Wahrheitsgarantie. Wie in jeder leidlich funktionierenden Demokratie entsteht auch im Internet ein Ausgleich. Chancen und Risiken halten sich die Waage. Nicht nur Lügen werden verbreitet, sondern auch Wahrheiten. Und beides entzieht sich einer autorisierten Kontrolle. Fehlprognosen und Abwertungskampagnen wie diejenigen im Vorfeld des Brexits oder der Wahl von Donald Trump lassen darauf schliessen, dass sich viele Linksliberale allzu selbstgewiss auf einen Erziehungsjournalismus verlassen, der in den Informationsräumen des Internets wirkungslos verhallt. Heutige Mediennutzer bilden sich ihre Meinung nicht im Frontalunterricht. Auf diese Eigenmächtigkeit reagieren gewisse Medienvertreter verständlicherweise etwas nervös. Ihr Informationsmonopol gerät ins Wanken - wie auch der professionelle Journalismus. Blogs und alternative Medien schiessen nur so ins Kraut. Sie werden zu Trendsettern, denen auch die Leitmedien nacheifern. Journalistische Kompetenz verflacht vielfach zum hektischen Bemühen, die Klickzahlen nicht abstürzen zu lassen, was der inhaltlichen Substanz nicht immer zuträglich ist. Dort, wo noch eine Substanz zustandekommt, handelt sich in der Regel um das Ressort mit der grösstmöglichen Subjektivität. Das Internet degradiert die Journalisten zu Kommentatoren und Meinungsmanipulatoren, die im wesentlichen nicht besser informiert sind als du und ich. Unter Umständen sind sie sogar eher schlechter informiert, weil sie wegen schrumpfender Werbeeinnahmen und rückläufiger Abonnementszahlen einem steigenden Effizienzdruck ausgesetzt sind. Die Konkurrenz durch die sozialen Medien erhöht den Druck zusätzlich. Bei aktuellen Ereignissen sind diese näher dran und schneller dabei. Es ist wie beim Wettlauf zwischen Hase und Igel. Der rasende Reporter hechelt den I-Phone-Knipsern nur noch hinterher, die immer schon zur Stelle sind, wenn etwas geschieht. Und nicht selten haben sie als die unmittelbar Betroffenen und Involvierten - etwa als Täter und Opfer eines Terroranschlags - die bestmöglichen Mittel in der Hand, um den jeweiligen Nachrichtenwert in die Höhe zu treiben. Mit dieser voyeuristischen Allgegenwärtigkeit können nicht einmal Feuerwehr und Polizei mithalten, geschweige denn die "Sesselfurzer" in den Redaktionsstuben. Die exponentielle Verbreitung von Informationen (oder Desinformationen) via Internet tut ein Übriges, um die herkömmlichen Medien ins Hintertreffen geraten zu lassen. Innert kürzester Zeit kann ein Lüftchen zum Orkan werden, und der einfache Blogger sticht den hoch geschulten Journalisten mit dem grössten Schwachsinn aus.

 

Die herkömmlichen Medien sind ein unsicheres Arbeitsterrain geworden. Journalisten müssen sich vorzu nach alternativen Jobmöglichkeiten umsehen, zum Beispiel in der Public Relation von Politik und Wirtschaft, weshalb es sich für einen Medienschaffenden empfiehlt, entsprechende Beziehungen zu pflegen oder sich bei den entsprechenden Lobbyverbänden einzuschleimen, was auch für die Medienhäuser insgesamt gilt, die ohne das interessengeleitete Mäzenatentum kaum noch existieren könnten. Somit geraten die etablierten Medien in eine gefährliche Nähe zu politischen und wirtschaftlichen Akteuren und zum Agreement der Eliten. Dadurch entsteht der diffuse Eindruck, die meisten grossen Fernsehsender und Pressehäuser seien irgendwie gleichgeschaltet. Qualitätsjournalismus ist zweifellos wichtig und erhaltenswert. Dennoch sollte man mit dem weitverbreiteten Irrglauben aufräumen, Qualitätsjournalismus sei prinzipiell immun gegen Fake news - oder stehe aufgrund irgendeiner höheren Begnadung ausserhalb jener Informationsblasen, in denen Algorithmen geschlossene Weltbilder erzeugen. Freilich gibt es in den grossen Medienanstalten eine professionelle Qualitätsprüfung. Man hat aus vergangenen Fehlern gelernt. Auf gefälschte Hitler-Tagebücher würde man nicht mehr so leicht hereinfallen. Andererseits ist diese Selbstkontrolle ein bisschen irreführend. Man wiegt sich in einer falschen Sicherheit. Man kann nicht nur bei Schwindel und Betrug falsch liegen kann. Man kann auch grundsätzlich falsch liegen. Auch die gewissenhafteste Qualitätsprüfung garantiert keine journalistische Ausgewogenheit, wenn man mit seinem Denken und seiner Wahrnehmung in einer ideologischen Blase steckt. Oder sich als Zuträger der Mächtigen betätigt, wodurch man das Meinungsspektrum zwangsläufig einschränkt. "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing." Selbstbestätigungsblasen finden wir nicht nur bei rechten oder linken Trollen, sondern auch im Mainstream. Denn gerade hier muss sich eine Diskurshoheit behaupten, die von verschiedenen Seiten in Frage gestellt wird. Der Mainstream steht heute stärker unter Druck als noch vor zwanzig oder dreissig Jahren. Da im Internet jede Randmeinung beliebig verbreitet werden kann, ist die Mitte nicht mehr das Selbstverständliche, sondern ein Burgfried, der verteidigt werden muss. Nicht nur gegen Extremisten, sondern ganz allgemein gegen gesellschaftliche Visionen, die das Bestehende in Frage stellen. Das Paradigma des kapitalistischen Liberalismus, das seit 1989 kein Gegengewicht oder Korrektiv mehr hat, erleidet durch die Globalisierung eine Art Überdehnung. Im berühmten, von Huntington diagnostizierten "Clash of Civilisions", aber auch im ständigen Defensivkampf gegen Rechts- und Linkspopulisten, gegen Sexismus- und Rassismusempörte, gegen selbsternannte Kunst- und Meinungszensoren, gegen Verschwörungstheoretiker und religiöse Spinner kommt der Mainstream auf schmerzhafte Weise mit seinem uneingestandenen Versagen in Berührung. Viele Menschen steigen innerlich oder äusserlich aus. Oder werden schlichtweg abgehängt. Derart in Bedrängnis geraten, fördern die Qualitätsmedien eine eigene Sorte von Fake news: nämlich eine Sichtweise, die durch Ausschluss und Fokussierung bei der Themenauswahl den herrschenden Diskurs wie auch den Diskurs der Herrschenden bestätigt und dabei wichtige Aspekte ausblendet. Man könnte das auch als "Tunnelblick" bezeichnen. Oft verwendet man in diesem Zusammenhang den Begriff "Lückenpresse", die raffinierte Abwandlung von "Lügenpresse". Während der Vorwurf der "Lügenpresse" an der Sache vorbeigeht, weil Falschdarstellungen und Fehlinformationen sehr schnell auffliegen, wenn sie von den Massenmedien breit genug gestreut werden, zielt der Begriff "Lückenpresse" doch auf einen wunden Punkt. Gemeint ist damit eine Berichterstattung, die nicht direkt lügt, sondern durch gezielte Auslassungen und manipulative Wortschöpfungen - plötzlich wird aus einem "Flüchtling" ein "Schutzsuchender" - eine systemkonforme politische Meinungsmache betreibt. Unter dem Deckmäntelchen einer objektiven Vermittlung erliegt das eigentlich ausgleichende Feld der Mitte einem Opportunismus oder Konformitätszwang, der die Mainstream-Medien zwangsläufig dem Verdacht einer ideologischen Manipulation aussetzt. Die Tendenz zur Hofberichterstattung und Meinungsmache hat tatsächlich nicht nur ökonomische Ursachen. Vielmehr beobachten wir ein ideologisches Auseinanderdriften, das in den meisten Medien nicht abgebildet wird, weil sie selber darin verstrickt sind. Das mediale Meinungsspektrum verengt sich zusehends, die Standpunkte rücken immer näher zusammen, weil man im Widerstand gegen die "Bösen" (die "Rechten", die "Populisten", die "Russen", die "Trumpisten" etc. etc.) gezwungen ist, die eigenen Reihen zu schliessen. Etwas Ähnliches geschah hierzulande in der Nachkriegszeit, als im Zuge der "geistigen Landesverteidigung" jeder noch so harmlose Sozialdemokrat als Kommunistenfreund galt und von staatstreuen Medien beargwöhnt und geächtet wurde. Heute haben wir zwar keinen Kalten Krieg - die Lage ist viel unübersichtlicher - aber eine ähnlich starre Konstellation der Meinungen. In den grossen Zeitungen und Medienhäuser dürfen nur noch einzelne "Hofnarren" (Leute wie Fleischhauer oder Broder) unter dem gut erkennbaren und marketingwirksamen Etikett der "Meinungsfreiheit" überhaupt so etwas wie eine abweichende Meinung äussern: attraktive Farbtupfer im Grauingrau einer tendenziell gleichgemachten, gleichmacherischen, weichgespülten, keimfrei gereinigten und einwandfrei unprovokativen Medienlandschaft. Angesichts dieser Entwicklung fühlen sich viele Ost-Deutsche an unrühmliche DDR-Zeiten erinnert. Es ist kein Zufall, dass der Begriff "Lückenpresse" in Ostdeutschland aufgekommen ist. Anders, als es die Westdeutschen im allgemeinen kolportieren, beruht die ostdeutsche Medienschelte nicht auf einem Defizit an Demokratieerfahrung, sondern auf einer spezifischen Sensibilität. Die Ossis kennen die Tricks der Gleichschaltung und Meinungsunterdrückung nur zu gut. Damit haben sie Erfahrung, das durchschauen sie aus dem Effeff, und deshalb reagieren sie auf derartige Tendenzen mit erhöhter Alarmbereitschaft. Andererseits stehen die Pegidisten und Legidisten - und wie sie alle heissen - auch nicht ganz so unbescholten da. Die sektiererische Wahrnehmungsverengung ideologisch abgeschotteter Gruppen oder Randgruppen korrespondiert direkt mit der Wahrnehmungsverengung einer selbstherrlichen und selbstgerechten Elite, die den Meinungskorridor überwacht und dabei immer stärker in die Defensive gerät. Der einzige relevante Unterschied liegt in der semantischen Zielrichtung: während der geschulte Journalist (im ungünstigsten Fall) den herrschenden Diskurs mit Halbwahrheiten und hingebogenen Fakten verteidigt, versucht der Internet-Troll diesen Diskurs zu unterhöhlen, indem er mit Hilfe von Halbwahrheiten und hingebogenen Fakten die Halbwahrheiten und hingebogenen Fakten der Gegenseite konterkariert und damit eine mehr oder weniger subversive, mehr oder weniger heimliche Wühlarbeit betreibt. Der Internet-Troll reagiert auf Lügen, die auf Lügen reagieren, und der geschulte Journalist straft den Lügen Lügen, indem er schon zum voraus das Gegenteil von dem behauptet, was er für gelogen hält. Das Ganze ist ein perfekter Kreislauf. Wer lügt nun wirklich? Wer hat angefangen? Es ist wie bei den brennenden Abfalleimern auf dem Pausenhof: alle sind irgendwie daran beteiligt, aber keiner will es gewesen sein. Fake news sind keine Attacken aus dem Hinterhalt. Fake news sind auch nicht ein Zeichen mangelnder Bildung oder gesellschaftlicher Abspaltung. In der öffentlichen Kommunikation sind Fake news das, was ein Placebo in der Medizin ist. Nicht auf den Inhalt, sondern auf die Wirkung kommt es an. Oder anders gesagt: was und wie kommuniziert wird, hängt im Kontext von Fake news oft vom gewünschten Resultat ab. Fehleinschätzungen, Falschinformationen, Halbwahrheiten und zusammengeschusterte Behauptungen gibt es überall, wo eine vorgefasste, antagonistisch strukturierte (das heisst: gegen das von Grund auf Falsche oder Böse gerichtete) Weltsicht oder Meinung öffentlichkeitswirksam werden soll.  Man kennt das von Trollen, Verschwörungstheoretikern und anderen "spezialisieren" Meinungsmachern, die im Internet ihr Unwesen treiben. Doch man kennt es auch von den seriösen Medien her. Den massenmedialen Tunnelblick hat man im Vorfeld des Brexits und während der jüngsten US-Präsidentschaftswahlen eindrücklich erleben dürfen. Im Schweizer Fernsehen wurde Donald Trump schon Wochen vor dem Wahlresultat zum sicheren Wahlverlierer erkoren und mit sehr viel Häme übergossen. Und wohlverstanden: nicht in einer Satire-Sendung, sondern in einem seriösen News-Format. Wenn in der Karibik ein paar schiffbrüchige Hobby-Funker auf einem improvisierten Bananen-Sender einen derartigen Unsinn verbreiten, kann man ja ein Auge zudrücken, nicht aber beim grössten Medienhaus der Deutschschweiz.

 

Fake news kommen und gehen. Aber manche verfestigen sich zu fixen Ideen, verdichten sich zu Verschwörungstheorien, die einen globalen Erzählteppich bilden, einen schillernden Zitatenschatz der Popkultur. Wer mit diesen Zitaten spielt, muss nicht unbedingt leichtgläubig sein. Dass der letzte Beweis noch fehlt, gehört zum Programm. Und nichts ist spannender, als in dunkle Ecken hineinzuleuchten. Michelle Obama ist ein Mann. Die Mondlandung wurde gefälscht. Paul McCartney ist tot. Elvis lebt. Die Queen verspeist kleine Kinder. Lady Diana wurde ermordet. Die deutsche Stadt Bielefeld existiert nur auf Landkarten und in Form aufwendig gestalteter 3D-Kulissen. John F. Kennedy wurde ermordet, weil er geheime Ufo-Unterlagen aufdecken wollte. Seine Ermordung hat John Lennon bei Mark Chapman in Auftrag gegeben. Die Twin-Towers wurden gesprengt. Die Erde ist hohl. Die Erde ist flach. Reptiloiden beherrschen die Menschheit. In der Antarktis haben die Nazis ein Refugium eingerichtet. In der Wüste von New Mexico ist ein Ufo abgestürzt. Chuck Norris kann unter Wasser grillen. Shakespeare war nicht der Autor seiner Stücke. Oder umgekehrt: Shakespeare war der Autor seiner Stücke. Der Witz an vielen Verschwörungstheorien besteht darin, dass man mit ihrer Verneinung nicht zwangsläufig richtig liegt. Unklarheiten, Koinzidenzien, Indizien, Rätsel und das Flimmern zwischen Wahr und Falsch durchkreuzen jeden Widerlegungsversuch. Eine gute Verschwörungstheorie ist derart hybrid, dass sich auch ihre Antithese als Verschwörungstheorie darstellt. Wenn man in Stratford-upon-Avon jedes Jahr einen Autor feiert, der kein einziges literarisches Schriftstück hinterlassen hat und als hoch geachteter, aber nur durchschnittlich gebildeter Geschäftsmann in der örtlichen Kirche beigesetzt wurde, ist das genauso abenteuerlich, wie wenn man die Werke Shakespeares Christopher Marlowe zuschreibt, der als Geheimagent Ihrer Majestät seinen Tod in einer dubiosen Wirtshausschlägerei nur vorgetäuscht haben soll, um sich nach Italien abzusetzen und dort unter dem Pseudonym "Shakespeare" Shakespeares Werke zu schreiben.

 

Anders verhält es sich mit jenen zähen falschen Behauptungen, die uns allen geläufig sind, weil sie Vertrautes und Alltägliches betreffen. Sie begleiten uns mit einer derartigen Selbstverständlichkeit dass es uns kaum je in den Sinn kommt, sie ernsthaft auf den Prüfstand zu stellen. Sie begleiten uns als Jägerlatein für den Hausgebrauch, als Allerweltswissen aus zweiter und dritter Hand. Elstern stibitzen glitzernde Objekte. Der Vogel Strauss steckt seinen Kopf in den Sand. Stiere reagieren aggressiv auf rote Kleidungsstücke. Die Blüten der Sonnenblumen folgen der Sonne. Mäuse fressen besonders gerne Käse. Kühe sind dumm. Hühner sind dumm. Wunden heilen am besten an der Luft. Wir nutzen nur 10 Prozent unseres Gehirns. Die linke Gehirnhälfte ist für das logische Denken zuständig, die rechte für die Phantasie. Bern ist die Hauptstadt der Schweiz. Die Weisheitszähne müssen in jedem Fall gezogen werden. Bei Nasenbluten hilft es, den Kopf nach hinten zu legen. Von Schokolade bekommt man Akne. Rohe Kartoffeln sind giftig. Blühender Bärlauch ist giftig. Olivenbäume sind Bäume. Dehnübungen vor dem Sport verhindern Muskelkater. Im Winter sind wir weiter von der Sonne entfernt als im Sommer. Lesen bei schwachem Licht schadet den Augen. Spinat ist für Kinder gesund. Frauen mit roten Haaren sind besonders reizbar. Von diesen Aussagen ist nur eine richtig. (Die letzte). Die anderen sind Fake news. Oder sagen wir: Fake news von vorgestern, die immer noch kursieren. Obwohl solche Aussagen nach Strich und Faden widerlegt werden können, haben sie sich in der kollektiven Phantasie eingenistet. Immerhin lassen sie sich leicht widerlegen. Wissenschaftlich kann man ihnen zu Leibe rücken. Was aber vielleicht allzu rigoros wäre. Manche Irrtümer haben vielleicht doch einen wahren Kern. Einen Stier zu reizen, ist auch dann keine gute Idee, wenn uns die Wissenschaft einwandfrei bestätigt, dass Stiere keine Sehzäpfchen für rote Farbe haben. Und was die rohen Kartoffeln betrifft, so mag ja deren Verzehr nicht lebensgefährlich sein, aber besonders bekömmlich ist er nun auch wieder nicht. Und bei der berüchtigten Fangfrage, ob Bern die Hauptstadt der Schweiz sei, sollten wir nicht allzu haarspalterisch sein: als Bundesstadt spielt Bern unter allen Schweizer Städten zweifellos die Hauptrolle.

 

Ich persönlich halte es mit Hebbel. "Es gibt keine reine Wahrheit, aber ebensowenig einen reinen Irrtum." Skeptizismus anstatt Wahrheitsfanatismus! Wahrheit ist wie eine Wolke: je nachdem etwas Festes oder weniger Festes. Oder auch gar nichts. Andererseits ist der Skeptizismus nur in der richtigen Dosierung hilfreich. Man kann und sollte sich darauf verlassen, dass es Wahrheit gibt: sogar objektive Wahrheit. Wahrheit ist kein Konstrukt. Wie auch eine Wolke kein Konstrukt ist, keine Einbildung und keine blosse Übereinkunft. Wolken existieren wirklich. So wie auch die Realität kein Hirngespinst ist, nur weil sie nicht immer fassbar ist. Sonst wäre jede Kommunikation sinnlos - und die Wissenschaft ein fauler Zauber. Mit dieser Ambivalenz müssen wir leben. Sie ist der Preis für unsere Wissensgesellschaft, für den Fortschritt und die geistige Freiheit, die wir nach wie vor geniessen. Und die wir unnötig aufs Spiel setzen, wenn wir "Wahrheit" mit "absoluter Gewissheit" verwechseln. Oder wenn wir "Wahrheit" für etwas Konstruiertes halten, über das wir zu verfügen meinen, sobald wir es mit dem nötigen Nachdruck für wahr erklären. Unumstösslich wahr ist nichts. Jede Wahrheit kann umgestossen werden. Wirklich und wahr ist das, worüber man sich auch täuschen kann. Im Umkehrschluss heisst das: eine Welt ohne Täuschung ist eine Welt ohne Wirklichkeit und Wahrheit. Die Verständigung darüber, was wahr und richtig ist, beinhaltet immer auch das Risiko des Irrtums. Schaltet man dieses Risiko aus, bekommt man nicht die erhoffte Wahrheit, sondern die Alternativlosigkeit einer als Wahrheit verordneten Lüge. Das macht die Sache mit den Fake news auch so kompliziert. Die Konfusion ist total. Und wer gegensteuert, macht alles noch schlimmer. Tatsächlich wäre es verheerend, den Medienschaffenden ein Wahrheitsserum zu verabreichen oder ein Wahrheitsministerium einzurichten, das jeden Online-Beitrag daraufhin überprüft, ob und wie weit er von den ausgewiesenen Fakten abweicht. Die Eigendynamik von Fiktionen schafft man mit Repressalien und Reglementierungen nicht aus der Welt. Im Gegenteil. Wahrheit und Fiktion sind dialektische Gegenpole. Diese spielen miteinander, und jeder Versuch, ihre Verbindung zu kappen, ruft zwangsläufig das Gegenteil auf den Plan. Eine totalitär vertretene Wahrheit wird zur Lüge. Und eine Fiktion, absolut gesetzt, kann zur Wahrheit werden. Und das nennt sich dann Wunschdenken, Literatur oder Kunst. Das Letzte, was gegen die Unwahrheit hilft, ist eine indoktrinierte Wahrheit. Gezielte Desinformationen lassen sich widerlegen, indem man bessere Informationen beschafft, Informationen, die überzeugender sind. Meistens entlarven sich Fake news von selbst. Dann nämlich, wenn die Realität eine andere Sprache spricht. Was zum Beispiel bei Trump hundertprozentig funktioniert hat. Einen notorischen Lügner mundtot zu machen oder überschreien zu wollen, bringt nichts. Man muss ihn reden lassen, bis die Realität kommt und das Gegenteil sagt. Oder bis ihm eine lange Nase wächst.

 

Bedenkenswert an Fake news ist vor allem die Tatsache, dass sie so breit und obsessiv thematisiert werden. Dass man sie überbewertet. Dabei täte man gut daran, die ökonomischen Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft nicht völlig ausser Acht zu lassen. Was wäre eine Werbung ohne Fake news? Ob das beworbene Waschmittel tatsächlich blütenweisse Wäsche erzeugt: wen interessiert's? Ob Red Bull tatsächlich Flügel verleiht: wen interessiert's? Ob das Elektroauto ("E-Power for the next Generation") tatsächlich eine grüne Zukunft einleitet: wen interessiert's? Nicht das Faktische zählt, sondern die angepriesene Wahrheit. Das Wunschbild. Jeder Werbefachmann weiss, dass "Wahrheit" letztlich das ist, was sich am besten verkauft. In diesem Sinne ist "Wahrheit" herstellbar wie ein Produkt. Und deshalb sind Fake news in einer marktorientierten Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit. Wenn nicht sogar eine Notwendigkeit. Was nicht heisst, dass man diese Mechanismen nicht kritisch sehen kann. Nur müsste man dann eben konsequent sein. Man kann die Liberalität unserer Konsumgesellschaft nicht toll finden und gleichzeitig gegen Fake news zu Felde ziehen. Das geht nicht. Der Preis für unsere Liberalität ist unter anderem auch eine gewisse Toleranz gegenüber Narrativen, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. In einer neoliberalen, rein marktorientierten Gesellschaft, in der jede mögliche Fiktion aufgeboten und aktiviert wird, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, kann man über die moralisierenden Wahrheitsfanatiker eigentlich nur schmunzeln. Klar, bei der Werbung weiss man von vornherein, dass es Werbung ist. Die meisten Falschbehauptungen tarnen sich als Faktenberichte,  die schwer zu durchschauen sind, und ihre Wirkung betrifft nur in den wenigsten Fällen das Konsumverhalten von Herrn Müller oder Frau Meier. Hier geht es um Politik, um die öffentliche Meinung, in der Regel um Themen von grosser Tragweite. Doch auch hier sollte man nicht überreagieren. Es hat keinen Zweck, päpstlicher als der Papst sein zu wollen. Die angemessen Reaktion auf Fake news, die in Umlauf gebracht werden, um Meinungen zu beeinflussen, Ängste zu schüren oder bestimmte Weltanschauungen zu propagieren, ist nicht der Ruf nach "mehr Wahrheit" oder keifend-moralisierende Rechthaberei, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den politischen Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Zerwürfnissen. 

 

Das Internet ist nur ein Katalysator, und die berüchtigten "Echokammern" oder "Informationsblasen" stehen nicht völlig unverbunden nebeneinander. Das Internet führt zu einer Zersplitterung, schafft aber auch Transparenz. Beide Kräfte sind wirksam und liegen miteinander im Clinch. Man kann sich nach wie vor über viele Dinge verständigen, auch wenn man in unterschiedlichen Höhlen haust und unterschiedliche Rauchzeichen verwendet, und es gibt sogar so etwas wie einen selbstkritischen Konsens. Überraschend viele Politologen, Historiker und Ökonomen benennen eine unheilvolle Dynamik, die unabhängig vom Internet existiert - und die nicht mit irgendwelchen Ideologien, sondern mit den materiellen Lebensgrundlagen zu tun hat. In den letzten Jahren sind unzählige Bücher erschienen - ich nenne hier nur Paul Masons "Klare, lichte Zukunft" (Suhrkamp) und Wendy Browns "Die schleichende Revolution" (Suhrkamp) - die alle einen ähnlichen Befund, eine ähnliche Analyse abliefern. Was die Gesellschaft spaltet, ist die zunehmende ökonomische Ungleichheit. Nicht die rechtspopulistischen Marktschreier oder die dummen Internet-Trolle kündigen den Gesellschaftsvertrag, sondern die bestens installierten Politiker, Banker, Regierungsbürokraten und Wirtschaftsführer, die sich zu Totengräbern der Demokratie und des allgemeinen Wohlstands machen: Euro-Rettung, horrende Kapitalakkumulationen, Negativzinsen, Ökosteuern, drohende Besteuerung des Bargelds, zunehmende politische Macht von Konzernen etc. etc. Das alles lässt sich auf einen altbekannten Begriff bringen: Neoliberalismus. Beim Neoliberalismus handelt es sich um einen ökonomischen Totalitarismus, der sämtliche Lebensbereiche tangiert. Und der sich nun mit Hilfe von KI und anderen Big-Data-Technologien anschickt, eine globale Schattenregierung zu errichten, um die Massen in einem Ausmass zu kontrollieren und auszubeuten, wie sich das nicht einmal George Orwell hätte träumen lassen. Dieses Zeitalter, in dem sich neue prekäre Machtverhältnisse herausbilden, ist alles andere als "postfaktisch". Nach den seligen Virtualitätsträumen der ersten Internet-Euphorie meldet sich die physische und ökonomische Realität mit einer Wucht zurück, die den herkömmlichen, demokratisch legitimierten Liberalismus in seinen Grundfesten erschüttert.

 

Dass bald jede Mitteilung hinter der "schmutzigen" Realität herhinkt, scheint mir das eigentliche Problem zu sein. Das Problem, mit dem uns Fake news konfrontieren, besteht nicht darin, dass uns die Unwahrheit erzählt wird, sondern dass es in der allgemeinen Verwirrung kaum noch eine Mitteilung gibt, die die Wahrheit zu fassen vermag. Wie soll man eine Explosion angemessen beschreiben? Mit dem Wort "Bum"? Es ist die Realität selbst, was uns zum Narren hält. Schauen wir in die Welt hinaus, finden wir nichts als Widersprüche und Abstrusitäten. Wer hätte Trumps Präsidentschaft je für möglich gehalten? Die "Fake-news-Medien" haben den "Fake-news-Politiker" Trump weder vorausgesehen noch konnten sie seinen Erfolg kleinschreiben. Laut einer Zählung der Washington Post hat er während seiner Amtszeit 30'576mal gelogen, das sind ca. 21 Lügen pro Tag, und trotzdem bin ich mir sicher, dass seine Chancen auf eine Wiederwahl intakt sind. Trump ist einfach unbesiegbar. Ich weiss das, weil es mir die Wichtelmännchen geflüstert haben. Und ich gebe mein Ehrenwort: das ist keine Falschmeldung.

 

 

2017/2020