Bilder einer Ausstellung

Letzten November besuchte ich die artLiestal, den grössten Kunstmarkt der Region: ein Gewusel zwischen Stellwänden, Bilderkrippen, Präsentationsständern und Verkaufstischchen, tatsächlich ein Markt mit Kraut und Rüben, wo es vieles zu entdecken gab. Von einzelnen Bildwerken - oder je nachdem auch ganzen Bildgruppen - habe ich mich zu kleineren Texten anregen lassen. Ich bin kein Kunstkritiker. Die Bilder haben die Texte angestossen, sind aber nicht zwingend deren Inhalt.

Madeleine Thommen, Acryl

Ein Sonntag im Spätsommer. Die Leute sind guter Laune. Auf langen Bänken und an langen Tischen sitzen sie munter beisammen. Auf der hölzernen Tribüne spielt die Dorfmusik. Sie spielt unter freiem Himmel. Geschunkelt wird nicht. Dafür ist es noch zu früh. Es riecht nach Bratwurst, man drückt den Senf aus dem Senfbehälter, tunkt die Bratwurst in den Senf, führt sie zum Mund. Überall sieht man fettfleckige Wurstteller aus Pappe. Das Brot wird gebrochen wie beim Abendmahl. Für die Verschleckten gibt es Risotto mit Steinpilzen, ein Fertiggericht aus der Gulaschkanone. Eine alter Hund humpelt unter den Bänken hindurch, auf der Wiese lauert eine Katze vor einem Mausloch. In die Spielpausen hinein bimmeln Kuhglocken. Jemand erhebt sich mit einem vollen Bierbecher und sagt: "Wisst ihr, dass Faultiere die einzigen Säugetiere sind, die nicht furzen?" Es ist der Hansruedi. Der weiss immer so kuriose Sachen. "Jetzt halt mal dein Maul," sagt seine Frau. Der Hansruedi setzt sich wieder hin und trinkt brav sein Bier zu Ende, bevor er von neuem aufsteht, diesmal wortlos, und sich den Depot-Becher aus naturechtem Bambus nachfüllen lässt. "Kuchen! Feine Kuchen!" ruft eine Frau aus der Fressbude. Linzertorten werden aufgefahren, sie werden in gleich grosse Stücke geschnitten, die Kaffeemaschine zischt. Man beeilt sich mit Kaffeetrinken. Das Wetterleuchten hinter dem Waldhügel ist stärker geworden. Man muss es im Auge behalten, die Verdunkelung, die da und dort von einem plötzlichen Blitzschein erhellt wird, wächst bedrohlich an. Nahes Donnergrollen. Schon rauscht ein Wind durch die Bäume. Ohne eine Maus geschnappt zu haben, schleicht sich die Katze von dannen. Und der alte Hund humpelt unter einen Tisch, wo er sich grummelnd hinlegt. Die Kuhglocken verstummen. Bald platzt der Regen herab. Bald fliehen alle in den Stall

Christa Aerni, Acryl

Kandinsky gilt als einer der ersten modernen Maler, als Begründer der abstrakten Malerei, und so erschien er mir auch in meinem Traum: als ein Maler, der am Computer Malunterricht erteilt, nicht mit Pinsel und Palette, sondern ganz zeitgemäss mit Maus und bildschirmtauglichen RGB-Farbwerten. Das habe ich letzte Nacht geträumt. Wobei ich im Traum nur ein Gast war, der zuschaute; ich nahm nicht am Traumgeschehen teil. Kandinsky besuchte ein modernes Büro und erteilte jemandem am Computer Malunterricht. Im Gegegensatz dazu war seine Kleidung etwas altmodisch. Er trug einen schwarzen Anzug und einen schwarzen runden Hut, eine Art Bowler. Hinter der Person, die vor dem Computer sass, ging er dozierend hin und her. Ja, in meinem Traum hörte ich ihn dozieren, und seine Bilder erschienen auf dem Bildschirm, Landschaftsbilder, Wegschlaufen mit Häusern, Bäume mit geschwungenen Konturen, Hügel wie Kamelhöcker. Alles in kandinskyartigen Farben, sehr expressiv. "Eine gemalte Landschaft," sagte Kandinsky in meinem Traum, "ist wie ein Gesicht. Sie hat eine seelische Qualität. Sie kommt aus dem Innersten. Man sollte nicht nach der Natur malen, sondern nach dem, was man innerlich sieht, was man spürt und empfindet. Durch kontinuierliches Üben aktivieren Sie die innere Anschauung, die das Äussere empfindungsmässig erspürt. Spüren Sie den Empfindungen nach, und empfinden Sie, was Sie spüren! Entwickeln Sie ein Gespür für Ihre Empfindungsfähigkeit, für das, was in Ihnen vorgeht! Sobald sich die Empfindungen regen, müssen sie parat sein. Dann müssen Sie zugreifen!" Kandinsky, das merkte ich sofort, war Russe. Er hatte ein stark rollendes R, und seine Vokale schnarrten, als spräche er durch einen gequetschten Papiertrichter hindurch, ein improvisiertes Lehrer-Megaphon. "Ein Bild," sagte er, "ensteht in der Sääle. " - "In därr Sääle," sagte er. So war seine Aussprache in meinem Traum. In meinem Traum war diese Aussprache sehr markant, und je länger ich träumte, desto markanter wurde sie. Desto mehr insistierte Kandinsky auf der "Sääle". Er sprach viel von der Seele, sagte sogar so etwas wie "In där tiefsten Sääle, da ist die Kunst!" Am Bildschirm sass ein junger Mann, ein Lehrling, der malen lernen wollte. Er gab sich alle Mühe, den Meister zufriedenzustellen. Er befolgte dessen Anweisungen mit grösster Hingabe. Seine Zunge steckte zwischen den Lippen, als hätte er sie dort vergessen. Sehr konzentriert begann er zu malen, mit der kabellosen Maus machte er ein paar Pinselstriche in ein Kandinsky-Gemälde hinein. Malen nach Kandinsky, mit Kandinsky, so hiess wohl dieser Kurs. Man kann die Bürozeit mit sinnloseren Arbeiten vertun, dachte ich, während ich noch träumte. Im Traum hatte ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass dies ein ganz normales Büro war, ich sah ja die Aktenschränke, die Computerbildschirme, die Pulte, und ich fand es auch völlig normal, dass jemand wie Kandinsky an einem solchen Ort Malunterricht erteilte. "Sähen Sie dieses Violett, mein Herr," sagte Kandinsky. "Das gibt es in der Naturr eigentlich nicht! Nähmen Sie Ihren ganzen Mut zusammen! Malen Sie es trrotzdäm! Malen Sie es trrotzdäm!" 

 

Heidi Jochim, Acryl

Es ist wie ein Verkehrsunfall. Es fasziniert mich und stösst mich ab. Zwei gegenläufige Reflexe ziehen und zerren an mir. Ich möchte es nicht sehen und muss doch hinschauen. Ich möchte es eigentlich überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, und trotzdem sitzt es mir im Nacken, gibt keine Ruhe. Und so muss ich mich dann doch damit beschäftigen. Ich will nicht, kann aber nicht anders. Hanna, eine Kollegin von mir, vollzieht jeden Morgen das gleiche grässliche Ritual: neben anderen Früchten packt sie um die zehn Bananen in einen Mixer. Unbeschwert trinken kann sie diese Flüssigbeton-Sauce natürlich nicht. Sie muss sie sich einverleiben, mit einem heftigen Schlürfen, einem ziehenden Schlucken. So wie eine Anaconda ihre Beute verschlingt. Den Rest des Tages snackt Hanna Khakis, Reis, Gnocchi und Gemüsesushi. Sie schwört auf fleischlose Ernährung. Grässlich! Bei mir kommt täglich Fleisch in die Pfanne und auf den Tisch. Ich mag es, wenn das Fleisch brutzelt, wenn es blutet, und ich nage gerne Knochen ab, geniesse es, wenn die Knorpeln knacken und meine Finger vor Fett triefen. Ich schlage meine Zähne gerne in Muskeln, in feines faseriges Fleisch. Und Würste! Im Schlaraffenland meiner Träume fliegen mir die Brat- und Kümmiwürste nur so ins Maul! Ich gebe es ja zu: ich bin ein Urmensch, ein Mammutjäger, ein abschreckendes Beispiel für alle Vegetarier und Veganer. Fleisch betrachte ich als Hauptspeise, alles andere als Beilage. Da lasse ich nicht mit mir reden. Oder vielleicht doch? Es gibt eine Sache, die mich nachgiebig macht. Ich liebe Pilze. Im Restaurant Bären, einer alten Fressbeiz in Liestal, bekommt man die köstlichsten Pilzpasteten serviert. Pilze sind fast wie Fleisch, zumindest sind es keine Pflanzen, und trotzdem passen sie in jeden Speiseplan, der Fleisch ausschliesst. Hier könnte man sich treffen, hier könnte ich mit Hanna doch noch in ein gutes Einvernehmen kommen. Und ich weiss auch schon, wie das gehen wird. Sobald der Streit um die richtige Ernährung zu eskalieren droht, lenke ich ein und sage: "Hör mal, Hanna. Du bist zwar eine überzeugte Grünkrautfresserin. Und ich mag deine Besessenheit nicht. So wie du auch mein Höhlenmenschentum nicht magst. Trotzdem könnten wir uns ja vertragen. Wir könnten zusammen in den Bären gehen. Dort gibt es die köstlichsten Pilzpasteten." 

 

Hans Widmer, Mixed Media

In Jules Vernes Roman "In 80 Tagen um die Welt" gerät Passepartout, der Diener des Romanhelden, auf ein falsches Schiff und geht in Japan alleine an Land. Um wieder auf ein Schiff zu kommen, bewirbt er sich bei einem Wanderzirkus. Dem Zirkusdirektor stellt er sich als Franzose vor. Darauf der Zirkusdirektor: "Dann können Sie sicher Gesichter schneiden!" Passpartout wird sofort engagiert: weil er Franzose ist und Franzosen die richtigen Gesichter haben, Grimassengesichter, über die man lachen kann. Welche Gesichter haben Deutsche? Oder Schweizer? Oder Italiener? Gesichter sind Projektionsflächen, sie repräsentieren etwas, sie spiegeln mehr als nur das Individuum. Gesichter kann man ein- und zuordnen. Es gibt das Gesicht eines Muskelmannes. Das Gesicht eines Buchhalters. Das Gesicht eines Franzosen. Es gibt Schablonen und Typen, oder sagen wir: Klischees. Im Gegensatz dazu drückt das Gesicht auch den individuellen Charakter aus. Es gibt Charaktergesichter, Charakterköpfe. Fellini hat Gesichter gesammelt, sonderbare Gesichter, Filmgesichter. Sein Büro hing voller Konterfeis. Er suchte sie überall zusammen. Was er suchte, waren keine Allerweltsgesichter, sondern erträumte Gesichter, die in phantastischen Geschichten, phantastischen Szenerien vorkamen. Die Visitenkarte eines Menschen war für ihn das Gesicht, und das wahre Gesicht war für ihn das fotografierte oder gefilmte Gesicht. Ein Konzentrat. Kein Schauspieler durfte bei ihm ohne Foto vorsprechen, nur auf dem Foto sah Fellini, ob das Gesicht etwas taugte. Ja, was taugt ein Gesicht? Wofür kann man es gebrauchen? Früher hat man sich Bratenfett ins Gesicht geschmiert, um Krankheit zu simulieren. Damit hoffte man dem Militärdienst zu entgehen. Oder einer Verhaftung. Gesichter verbergen mitunter die Wahrheit, sie können falsch sein. In jeder Verbrecherkartei finden sich haufenweise Gesichter, die falsch sind, weil sie etwas zu verbergen haben. Und die gerade darum etwas Heikles über sich verraten. Gibt es die typische Verbrechervisage? Aber klar doch, hätte Lavater gesagt, der Vater der Physiognomie. Von äusseren Formen schloss er auf innere Eigenheiten. Das Gesicht als Innerlichkeitsausdruck, als Zeichen Gottes, das man entziffern kann. Oder eben auch nicht. Gesichter erwecken Furcht und Ehrfrucht. Die Medusa war ein Ungeheuer, das die Macht besass, jeden, der sie sah, zu Stein zu verwandeln. Nachdem sie von Perseus besiegt und geköpft worden war, steckte die Göttin Pallas Athene das schreckliche Haupt auf ihren Schild. Wer es sah, wurde abgeschreckt wie ein kochendes Ei, das mit kaltem Wasser übergossen wird. Für ihre Kriegsbemalungen benutzten Indianer rote Erdfarbe, von daher der Ausdruck "Rothäute". Nicht nur politisch unkorrekt, sondern auch ein Missverständnis: man hielt die Bemalung für die Gesichtsfarbe. Königin Elizabeth I. schmierte sich ein weisses Make-up von mehreren Zentimetern Dicke ins Gesicht, eine Paste aus Essig und Bleiweiss, die die Haut aufhellen sollte. So entstand eine königlich Maske, die das reale Gesicht ersetzte und von Malerhänden reproduziert werden durfte. Aber ist nicht auch schon das reale Gesicht eine Maske? In der Serie "Games of Thrones" gibt es eine "Halle der Gesichter", in der die Gesichter von Toten gesammelt werden. Eine Sekte, deren Mitglieder sich "Männer ohne Gesicht" nennen, maskiert sich mit diesen Totenmasken, um gegen Bezahlung Mordanschläge zu verüben. Totenmasken sind ein Kapitel für sich. Über den Tod hinaus hat man die Persönlichkeit erhalten wollen. Man hat sie für die Nachwelt abgeformt. Allerdings blieb dabei immer nur etwas Lebloses zurück, eine Larve. Die Fotografie kann uns besser erhalten. Heute lächelt man für die Nachwelt. Das Selfie hat die Totenmaske ersetzt. Manche von uns laufen mit einem Gesicht durchs Leben, hinter dem sie sich verstecken. Und auch diese Maske kann fallen. Man kann das Gesicht verlieren. Dann schämt man sich. Oder man verliert es buchstäblich, das wäre dann ein Fall für die plastische Chirurgie, die Gesichtsrekonstruktion. Für ein schöneres Gesicht legen sich manche Frauen (und auch Männer) unters Messer. Schönheit ist Ansichtssache, aber auch eine Kostspieligkeit. Die Kosmetikindustrie lebt davon, dass wir unsere Gesichter verjüngen wollen. Als ideal empfinden wir das Gesicht einer jungen Frau, eines jungen Mannes. "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" Es ist nicht die Stiefmutter, es ist das blutjunge Schneewittchen. Zu jung ist allerdings auch nicht gut. Onkel Chéri, ein Grossonkel von mir, hatte im Scherz ein Kinderfoto von sich in seinen Ausweis geklebt: es zeigte ihn als Zweijährigen auf dem "Schyssihäfeli". Als er den Ausweis am Zoll vorwies, bekam er Probleme. Der Zöllner verstand keinen Spass. Babygesichter sind sich alle relativ ähnlich, aber auch die Gesichter von Hundertjährigen. Hier schliesst sich der Kreis. Das Gesicht faltet sich auf und wieder zusammen. Im Laufe des Lebens gewinnt es an Individualität, die es dann wieder verliert. Man beginnt als Schrumpfapfel und endet als Schrumpfapfel. Und die kurze Zeit dazwischen hat man ein Passfoto, auf dem man einwandfrei zu erkennen ist. Sofern man es nicht wie Onkel Chéri mit einem Kinderfoto überklebt. Aber so oder so: man kann sich seines Gesichts nie allzu sicher sein. 

 

Fritz Egger, Strichätzung

Heiner trägt ein Blätzlikostüm und eine weisse Larve mit Habichtsnase. Er ist jetzt voll kostümiert. Er überprüft nochmals die Ortszeit. In Basel nähert man sich dem magischen Stundenschlag des Morgenstraichs, während es im Amazonasbecken auf Mitternacht zugeht. Die Zeitverschiebung muss Heiner in Kauf nehmen, wegen der Gleichzeitigkeit. Die Nacht ist noch jung, eine tropenwarme Nacht, leider ohne Sternenhimmel, weil ein Dunst über den Bäumen hängt. Im Dschungel kreischen die Affen, rufen die nachtaktiven Vögel. Im Laub rascheln die Tausendfüssler. Nachtfalter schwirren umher. Der Dschungel ist belebt. Heiner wird von einem weissen Hündchen begleitet, das munter hin und her springt. Heiner steigt über einen umgestürzten Baum. Er hat eine Stirnlampe auf seine Larve montiert. Er schaut auf seine Armbanduhr. "Der Winter dauert lang in Basel," murmelt er. "Er endet erst, wenn die Fasnacht vorüber ist. Wenn wir Fasnächtler alle restlos ausgepumpt sind. Der Frühling ist ein Erschöpfungszustand, aber auch eine Genesungszeit." Er bringt die Trommel unter seinem Bierbauch in die richtige Position und nimmt die Schlägel zur Hand. Sie kleben an der Haut. "Die Menschen in ihren Kostümen, die Waggis, Uelis, alten Tanten, Bajasse, Harlekins, Stänzler und wie sie alle heissen, veranstalten einen Lärm, der alles ausfüllt und über die Dächer hochsteigt, wo er die Tauben verscheucht," erzählt er seinem Hündchen, das verwirrt zu ihm hochblickt. Die Larve ist dem Hündchen fremd, an die kann es sich unmöglich gewöhnen, aber die Stimme kennt es, auf die Stimme hört es, wenn sie "Fuss" oder "Hierher" sagt. "Die Zettel und Laternen streuen jedes Jahr Pfeffer in die Suppe. Oder Salz in die Wunden. Sie erzählen das Neuste, oft auch Brisanteste. Sie verspotten die Politiker und Banker, machen sich einen Reim auf Zustände und Missstände." Heiner würde sich gerne den Schweiss unter der Larve abwischen, kann aber nicht. Noch fünfzehn Sekunden, Heiner spürt ein Zittern in den Händen. "Ein Schyssdräckzügli kleinwüchsiger Fasnächtler kommt bei der Hasenburg aus dem Imbergässlein heraus. Jahr für Jahr das gleiche Schauspiel am gleichen Ort. Ein Spuk." Noch acht Sekunden. "Manchmal muss die Polizei mitten im Morgenstraich ausrücken. Das ist mühsam, weil in der ganzen Stadt eine Druggede herrscht." Er schaltet die Stirnlampe aus, holt tief Luft und ruft in den menschenleeren Dschungel hinein: "Morgestraich, vorwärts, marsch!" 

 

Rahel Schmid, Öl

Mit meinem Onkel, dem Kunstmaler, traf ich mich hin und wieder im Restaurant Spitzwald. Noch immer eine erstklassige Adresse für gutes Essen. Inzwischen hat man es renoviert. Damals war es noch etwas miefig, eine richtige Beiz eben, doch die Hauptsache war ja das Essen. Daran gab es nichts auszusetzen. Wir sassen am Fenster und schauten auf den nahen Wald hinaus. Wir schauten immer in Richtung Frankreich. Hinter dem Wald war das Elsass, im nächsten Tal die Ortschaft Neuwiller, darüber der Wolkenhimmel, von wechselnden Luftströmungen zerrissen. Auf einem Feld, gleich neben dem Restaurant, wuchsen Sonnenblumen, im Spätjahr wurden Kürbisse aufgesammelt. Gelb, Orange, Grün, Braun, Weiss, jede Jahreszeit hatte ihre eigene Farbe, ihr eigenes Farbenspiel, ihre eigene Palette. Es war ein schöner Erdenfleck, man konnte sich hier verweilen. Man konnte abschalten, den Stress hinter sich lassen, den Kopf durchlüften. Man konnte spazierengehen oder, wie wir zwei, in einer Beiz sitzen, in einer miefigen alten Landbeiz vor den Toren der Stadt. Mit den Augen betasteten wir die Wolken, die immer neue Formen und Formationen bildeten, während sie majestätisch vorüberzogen, gemächlich, aber eindrucksvoll, wie für eine Malstudie: Quellwolken, Stratuswolken, Schäfchenwolken. Mein Onkel trank Wein, ich hatte meistens ein Bier. Zum Essen bestellten wir Pasta oder Rösti. Und jedes Mal führten wir die gleiche Unterhaltung, ergingen uns in den gleichen Betrachtungen, den gleichen Fachsimpeleien, und trotzdem wurde uns nicht langweilig, auch die Umgebung langweilte uns nicht. Mein Onkel war Landschaftsmaler, er war lange Zeit in Frankreich gewesen, und es gab keine Landschaft, die er nicht sofort auf Bildgrösse schrumpfen lassen konnte. Das galt auch für die Landschaft rund um das Restaurant Spitzwald. Oft beschrieb er, wie er sie malen würde. Würde, Konjunktiv zwei. Er spielte zwar mit dem Gedanken und kokettierte damit, konnte sich aber nicht dazu durchringen, einmal - wenigsten ein einziges Mal! -  eine Leinwand, die Staffelei und das Malköfferchen mitzubringen. Es blieb immer beim Gedanken, der Vorstellung, wie es sein könnte. Ganz allgemein gesprochen. Wie man Himmel, Luft, Gras und Bäume einfangen könnte. Unter dieser oder jener Wetterbedingung mit viel oder wenig Licht, mit dieser oder jener Grundtönung. Die Beschreibung ersetzte das Malen, zu dem er sich nicht mehr aufraffen konnte. Obwohl die Landesgrenze ganz nah war, fehlte ihm die französische Weite, das französische Flair. Er malte kaum noch, malte nur noch mit Worten. Oder beschrieb mit den Händen, was er mit dem Pinsel anstellen würde. Würde, Konjunktiv zwei. Einzelne Sätze von ihm - er ist inzwischen verstorben - sind mir in Erinnerung geblieben. Ich könnte sie in jedes Mallehrbuch schreiben. "Wie oft habe ich mich nicht schon an Wolken versucht! Sie formen sich um oder lösen sich auf, bevor ich sie richtig fassen kann. Das ärgert mich." - "In der Natur sieht Grün total natürlich aus. Nur leider nicht auf der Leinwand." - "Einmal bin ich beim Malen in Ohnmacht gefallen. Ich habe zuviel Terpentin geschnüffelt." - "Farbige Schatten. Ein typischer Impressionistenfurz." - "Man sollte nichts abmalen. Die Natur narrt uns nur. Man sollte sie auf der Leinwand neu erfinden." - "Moderne Kunst ist doch Scheisse. Schon mit Picasso kann ich überhaupt nichts mehr anfangen. Da hört mein Horizont auf. Viereckige Weiber, so ein Blödsinn! - "Von Monet habe ich gelernt, den Himmel zu malen. Monet ist ein Meister des Blaus. Sein Blau ist unnachahmlich." - "Einmal hat so ein Arsch, der bei mir auf Besuch war, seine Jacke an die Staffelei gehängt, direkt über ein Bild. Die Farben waren noch nicht trocken, und als er die Jacke wieder anziehen wollte, da hättest du sein Gesicht sehen sollen! Die Wolken, der Himmel, die Bäume: alles war auf seiner Jacke!" 

 

Ary Benz, Öl und Acryl

Am Ufer gibt es einen Wall aus aufgehäuften Steinen, der nur knapp unter der Wasseroberfläche in den See hineinführt. Man geht dort auf einer geraden, aber nicht horizontalen, sondern langsam absinkenden Linie in den See und in die Schwimmzone hinein. Man tastet sich mit den Füssen voran, spürt die Kanten, die Bruchstellen, die Zwischenräume. Die Steine sind recht gross, halbe Felstrümmer. Dort, wo die Füsse keinen Halt mehr finden, weil der Boden entschwindet, sieht man, wie sich der Wall in einem sanften Abwärtswinkel in die dunkelolivgrüne Tiefe hinein fortsetzt. Wenige Meter weiter draussen sind die Trümmer fast nicht mehr zu sehen. Nur ganz schwach schimmert da und dort noch etwas herauf, das wie Moos aussieht, eine Granitkante blitzt auf, Fische flitzen vorüber. Ein bisschen weiter noch, und man blickt ins Bodenlose. Bevor man hinausschwimmt, verhält man sich wie ein Schnorchler, der den Seegrund absucht, und bleibt noch ein wenig am Ufer hängen. Hier erhascht man vielleicht noch den einen oder anderen Felsbrocken, irgendetwas ist da noch vorhanden, in vier bis sechs Metern Tiefe, wo die Trübe beginnt, wo der Seegrund absinkt, in eine Dunkelheit hinein, die einen schaudern lässt. Nachdem man sich vom sicheren Boden abgestossen hat, sind es vor allem diese Übergänge, die den Blick immer wieder nach unten ziehen. Hat man den Uferberreich endlich hinter sich gelassen, entspannt man sich automatisch. Die Füsse berühren nur noch Wasser. Jetzt beginnt das richtige Schwimmen, man macht die zügigen Handgriffe und Beinbewegungen, die man gelernt hat, man stösst sich voran. Unten ist es spürbar kälter als oben. Man ist ganz auf die eigene Kraft angewiesen, und das tut gut. Hier dümpeln die Bojen, und gelegentlich liegt ein Boot vor Anker. Mit ein paar Schwimmzügen verschafft man sich Weite. Und wie man sich auch dreht, überall hat man es mit dem gleichen zähen Element zu tun. Unmerklich zieht es am Körper, eine grünliche Masse mit vielen kleinen Bewegungen an der Oberfläche. Man kommt in eine warme oder kalte Strömung, in die leichte Drift nach Süden. Das Wasser schwappt dumpf um einen herum, während der Uferstreifen mit seinen Bäumen und Häusern dasteht wie eine Kulisse, die langsam kleiner wird. Mehr und mehr wendet man sich von dieser Spielzeugwelt ab. Das Hinausschwimmen hat etwas Hypnotisches. Der See ist zwar viel länger als breit, und trotzdem scheint das andere Ufer Lichtjahre entfernt. Wie überhaupt der ganze See sich dehnt und streckt, buchstäblich ins Uferlose hinein. Da gibt es keine Länge und Breite mehr. Nur noch Wasser. Und weit entfernt zwei Inseln, zwei undeutliche Tupfer im hellen Geglitzer. 

 

Andreas Wäldele, Pastell

Zur Basisstation gelangt man mit einer topmodernen Seilbahn. Sie überbrückt zwei Schluchten und gewinnt rasch an Höhe. Die Seilbahnkabinen sind kreisförmig und rotieren, sodass die Passagiere nicht einmal den Kopf drehen müssen, um das Alpenpanorama geniessen zu können. An die Basisstation angeschlossen ist ein Konferenzzentrum. Daneben gibt es auch ein Hallenbad, ein touristisches Auskunftsbüro und einen Souvenirshop. Das alles gehört zur Mittel- oder Basisstation, deren Kuppeldach aus bruchsicherem Glas besteht. Weil die Permafrostböden tauen, löst sich hin und wieder ein Erdrutsch oder Steinschlag. Die Basisstation hat die Grösse einer Kathedrale und einen 150 Meter langen Fussgängertunnel, den man durch Felsgestein geschlagen hat. Von hier aus fährt ein Lift zum Berghotel hoch, einem verzinkten Gebäudekomplex, der ursprünglich eine Schutzhütte war. Die Inneneinrichtung ist mondän, elegant und vor allem einladend. Das Erdgeschoss ist ein durchgehend offener Bereich, der hauptsächlich als Aufenthaltsort dient, während in den darüberliegenden Stockwerken die Schlafräume um eine mittige Galerie angeordnet sind. Das Erdgeschoss besteht aus Sichtbeton, Zink und Glas, in den oberen Stockwerken ist inwendig alles verputzt. Das weit geschwungene Vordach ist mit Zedernholz verkleidet. Besucher fühlen sich wie in einem James Bond-Film. Der Luxus, den sie hier antreffen, hat etwas Verwegenes. Der Architekt wollte hoch hinaus, und das hat er zielstrebig in die Tat umgesetzt, ohne ein Hochhaus bauen zu müssen. "Das Hotel, das am Himmel klebt," liest man in den Werbeprospekten. Das Berghotel sitzt auf einem Felszacken, 3667 Meter über Meer, ein Adlernest über einem gähnenden Abgrund. Geröllfelder und Felsrinnen bis weit die Tiefe hinab. Dort braust ein Wildbach, weit entfernt, eine dünne silbrige Schnur. Bei schönem Wetter liegt das alles unter einem Brennglas. Auf allen Seiten Schneehänge und Eisfelder, ein gleissendes Hellweiss, wie von hundert Sonnen bestrahlt. An der Rezeption, wo man eincheckt wie für eine Flugreise, ist die Rede von Luft, Licht und Wetter. Von Luftfeuchtigkeit und Temperaturen. Und natürlich auch von der richtigen Sonnencreme, mit Lichtschutzfaktor 30 steht man auf der sicheren Seite. Auf dieser Höhe stellen sich körperliche Veränderungen ein. Man hat ein sonderbares Gefühl, vielleicht vom Sauerstoffmangel, in den Nerven flirrt eine Leichtigkeit, ein Gefühl von Schwerelosigkeit, als ob man fliegen könnte. Am Balkongeländer hat man eine umfassende Aussicht. Auf der Panorama-Plattform gibt es Liegestühle, und wer die imposante Umgebung zu sich heranholen will, um sie im Detail zu betrachten, kann eines der Aussichtsfernrohre benutzen. Man sieht die gegenüberliegende Bergwand, die Gletscherzunge zwischen den Felsen, den glänzenden Firn, das Gipfelkreuz. Oder man sieht ins Tal hinab. Das schäumende Wildwasser. Und die kleine haarige Gestalt dort? Ist das nicht der Schneemensch? Der Alpenyeti? Manchmal steigen Quellwolken auf, dann blickt man in ein graues Gebrodel. 

 

Marcela Montes, Siebdruck

Ich bin noch etwas beduselt vom Tequila. Ich muss fliehen. Knapp bin ich einer Schiesserei entronnen. Das Gewirr der Altgassen windet sich hügelauf und hügelab. Die kleinen pastellblauen mexikanischen Häuser dösen in der Sonne, die ein Glutball ist. Selbst im Schatten könnte man Spiegeleier auf dem Asphalt braten. Ich verlasse das Städtchen, ich mache Autostop, aber niemand hält an. Andererseits hält mich auch niemand auf. Ich gehe stur vor mich hin, bis mich nur noch eine Wüstenlandschaft umgibt. Alles öde und leer, bis auf eine spärliche Vegetation: mannshohe Kakteen säumen die Strasse, die jetzt sanft bergauf geht. Rote, zerküftete Felsen kommen ins Blickfeld. Grabsteine erinnern an frühere Siedler. Ich merke, dass diese Gegend touristisch überhaupt nicht erschlossen ist. Ich komme an staubtrockenen Schluchten vorüber. Ich sehe Reste von Missionsstationen, verlassenes Mauerwerk, Türen und Fenster, die mich anstarren. Knarrende Windräder. Cirio-Bäume ragen wie Telegrafenmasten in den Himmel. Wo bin ich? Mein Handyempfang ist tot. Ich werfe das Handy fort, trample darauf herum, obwohl mir das ja nichts bringt. Ein bisschen Melodramatik, den Umständen entsprechend, ich bin auch nur ein Mensch. Da, ein Flusslauf, ein paar Bäume, ein Bauernhof. Ein paar Esel und Pferde dösen in ihrer Koppel. Trotz Stützarbeiten droht der Bauernhof in den sandigen Boden abzusacken. Es sind Zustände, an die man sich gewöhnen muss. Es ist die landesübliche tristezza. Überall Fliegen und Moskitos. Ich patsche mir unablässig auf die Arme, die Beine, das Gesicht. Im Spanisch-Wörterbuch suche ich nach einem passenden Fluchwort. Maldito, sage ich. Ich bin auf einem Weg, der manchmal fast im Sand verschwindet. Ich knie neben den Überresten eines Autos. Ich mache Feuer. Es vertreibt das Ungeziefer. Ich kauere mich in ein Gebüsch, um zu kacken. Weit und breit keine Toilette. Es wird Abend, es wird Nacht. Kleine Laternen mit Totenkopfgesichtern steigen in den Himmel empor. Sanft leuchtend schaukeln sie über den Dächern, den Kaketeen, den Bergspitzen. Am nächsten Morgen weiss ich wieder, wo ich hinwill. Ich will zu Frida Kahlo. Der Weg gabelt sich. Jetzt braust es plötzlich in den Bäumen. Zu einem lockeren Schwarm vereinigt, flattern mindestens hundert gorriónes in die Richtung, die ich einschlagen sollte. Sie weisen mir den Weg. Also da lang, sage ich mir. Ich gehe weiter. Frida! rufe ich. Bald bin ich bei dir! Gorriónes sind übrigens Spatzen. Am Wegrand steht ein Gabentisch für die Toten, ofrenda genannt. 

 

Azadeh Koushabi, Collage

Lange habe ich darüber nachgedacht, wie ich meine Wohnung begrünen könnte. Ich habe keinen grünen Daumen. Nicht mal einen grünen Mittelfinger. In einem Kistchen am Balkongeländer habe ich das eine oder andere Küchenkräutchen aufgezogen, mit mässigem Erfolg. Erst als ich mich überhaupt nicht mehr um das Kistchen gekümmert habe, nach zahlreichen Fehlversuchen, hat sich darin ein kräftiges Grün ausgebreitet, vermutlich durch Flugsamen. Die ungesteuerte Vermehrung funktioniert anscheinend am besten. Das ist ja auch beim Menschen so. In meiner Wohnung möchte ich nun einen neuen Versuch starten, mit Zimmerpflanzen. Ich liebe Zimmerpflanzen, weil sie so konventionell sind. Ich brauche das. So wie ich die SVP brauche. Oder den Genfer Automobilsalon. Zimmerpflanzen, lese ich in einem Ratgeber, bleiben gesund, wenn ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Gut zu wissen. Was aber sind ihre Bedürfnisse? Und welche Zimmerpflanzen kommen für mich überhaupt in Frage? Bin ich der selbstgenügsame und friedliche Gummibaumtyp? Oder eher der phlegmatische Elefantenfuss-Typ? Oder müsste ich nach Arten Aussschau halten, die vom üblichen Schema abweichen? Weg vom SVP-Mief, weg vom Genfer Automobilsalon? Müsste ich mir etwas anschaffen, das wuchert, sich ringelt, sich um Stuhl- und Tischbeine oder Buchregale herumschlingt oder von weit oben herabhängt? Etwas, das sich mir entgegenreckt mit Blättern, Blüten und Wedeln? Aber wieso eine Zimmerpflanze, wenn sie nicht bieder sein soll? Wenn sie nicht langweilig sein soll? Hat man ein Aquarium, weil man nach Aufregung giert? Hat man eine Zimmerpflanze, weil man Spannung in die Wohnstube bringen möchte? Vielleicht entscheide ich mich doch eher für die brave Topfpflanze, den strunzblöden, pflegeleichten Gummibaum aus dem Möbelhaus, den man stets im Blick behalten kann. Ich mag es nicht, wenn eine Pflanze zu selbständig ist, wenn sie unkontrolliert zu wuchern anfängt, kaum dass man sie aus den Augen lässt. Ich brauche keine Girlanden, kein Grün, das hinterrücks alles vereinnahmt wie ein heimlicher Anarchist. Auf dem Balkon mag das ja noch angehen. Nicht aber in meiner Wohnung. Es genügt mir, wenn ich selber ein gewisses Mass an Unordnung erzeuge, meine Zimmerpflanzen müssen nicht auch noch dazu beitragen, dass ich keinen Damenbesuch empfangen kann. Zumindest keinen spontanen. Und wieso rede ich überhaupt im Plural? Wieso rede ich von Zimmerpflanzen im Plural, wie wenn ich einen ganzen Wald aufforsten wollte? Vermutlich, weil es mir schwerfällt, eine Entscheidung zu treffen. Das hat man davon, wenn man in einem Ratgeber nachschaut. Plötzlich wird man mit Ideen überhäuft und muss Entscheidungen treffen, die man lieber einem Experten überlassen würde. Die Vielfalt der Möglichkeiten! Was man doch nicht alles könnte! Auf Kies und Aktivkohle könnte man kleine Wüstenlandschaften nachbauen. Man könnte Makramee-Ampeln aufhängen, Töpfe an kunstvoll geknüpften Schnüren, die man durch Holzringe zieht. Man könnte kleine Sukkulenten auf einen Drahtkranz stecken. Man könnte ein Trockenterrarium einrichten. Man könnte einen lebenden Raumteiler aufstellen, einen buschigen Sichtschutz mitten in der Stube. Mit Bromelien könnte man Farben in die Wohnung bringen, mit Zwiebelpflanzen Blütenduft verbreiten, mit Farnen könnte man die Stube in einen Jurassic Parc verwandeln und mit Palmen den Orient beschwören. Doch will ich das überhaupt? Nein, lieber nicht. Das ist mir alles zu weit hergeholt, zu kompliziert. Ich brauche doch keinen Erlebnispark! Also bleibt es beim Elefantenfuss. Oder beim Gummibaum. Über den Gummibaum gibt es ein schönes, albernes Lied von Patent Ochsner. "I bi dr Gummiboum, U schtah eifach so chli da..." Das hörte ich mir jetzt an - und achte genau auf den Text. Und nachher fälle ich meine definitive Entscheidung. 

 

Sima Mortazavi,  Farbstift

Im Sommer, wenn die Katzen Hochsaison haben, lasse ich die Balkontür meiner Parterrewohnung absichtlich einen Spaltbreit offen. Ich hoffe dann immer, dass mir eine Katze zuläuft. Eine herumstreunende, wundernäsige Katze, die etwas Neues entdecken will. Einmal hat es funktioniert, eine Katze hat mich besucht. Neugierig hat sie meine Stube betreten. Zögerlich hat sie sich hineingewagt, hat mich gemustert. Daraufhin hat sie mir das Köpfchen gegeben. Ich habe sie gestreichelt. Ich habe mit ihr gesprochen wie mit einem Kind. Dudu, dädä, braves Kätzchen, sagte ich. Aber dann dachte ich: das ist doch gar kein Kind. Das ist ein erwachsenes Tier. Eine Katze mit Lebenserfahrung. Was denkt die jetzt wohl über mich? Dass ich bescheuert bin? 

 

Katharina Guggenbühl, Mixed Media

Seit Tagen schneit es. Und der Schnee ist ungemütlich matschig, rutschig wie Seife, und es herrscht ein Verkehrschaos mit Blechschäden und verspäteten Zügen. Als ob das nicht traurig genug wäre, erfahre ich heute, dass eine Ex-Miss-Schweiz wegen eines Skiunfalls im Spital liegt. Obwohl, so traurig ist das gar nicht: sie befindet sich bereits auf dem Weg der Besserung. Sie zog sich einen Bruch im Kniebereich zu. Dieser sei zwar wieder verheilt, jedoch wurden Kreuzband sowie der Meniskus in Mitleidenschaft gezogen. Das Schlimmste habe sie hinter sich, aber sie müsse sich noch etwas schonen. Lese ich richtig? Das Ding heisst tatsächlich Meniskus. Ich dachte immer, es heisse Miniskus. Fremdwörter sind Glücksache. Vor allem medizinische Fremdwörter. Ich google. Der Meniskus ist eine der beiden Knorpelscheiben zwischen Unter- und Oberschenkelknochen. Ja, das müsste man eigentlich wissen, auch als Nicht-Mediziner. Und während ich mich wieder der Ex-Miss-Schweiz zuwende, kommen mir plötzlich Zweifel. Ist der Meniskus nicht etwas Symmetrisches, etwas wie die Lunge? Ist er nicht ein zweiteiliges Körperteil? Besteht er nicht aus beiden Knorpelscheiben? Ich müsste nochmals googeln. Aber egal. Die OP am gerissenen Kreuzband habe sie nun hinter sich, sagt die Ex-Miss-Schweiz. Es sei ein Mega-Brutalosturz gewesen. Aber jetzt sei das geflickt. Sie sei wieder wohlauf. Keine bleibenden Schäden. Die Ex-Miss-Schweiz ist eine Podcasterin, sie lässt uns an ihrem Privatleben teilhaben, an ihren Stürzen, OPs und Rekonvaleszenzen, sie scheut die Öffentlichkeit nicht. Sie scheut auch nicht Wörter wie "Mega-Brutalosturz" oder "Meniskus". In ihrem Post bedankt sie sich beim Spitalpersonal: "Ihr seid wirklich supertoll. Ihr habt euch rührend um mich gekümmert. Ihr habt meinen Sturz aufgefangen." Sie macht klar, dass sie baldmöglichst wieder Ski fahren wolle. Mit neuer Kraft einen Hang hinabwedeln. Natürlich auf beiden Beinen - und mit allen vorhandenen Menisken. 

 

 

2023