Rechts und Links

Oder warum Hitler in die Mitte gehört

 

 

manche meinen

lechts und rinks

kann man nicht verwechseln

werch ein illtum

 

Ernst Jandl

 

 

Kürzlich wollte ich mit Hilfe eines politischen Koordinatensystems meine stimmbürgerliche Position ausknobeln. Stehe ich eher links oder rechts? Wofür oder wogegen bin ich eigentlich? Wie bin ich politisch gelagert? Welche Partei entspricht mir? Oder müsste ich selber eine Partei gründen, im stillen Kämmerchen, mit mir selber als einzigem Partei-Mitglied und einer leeren Parteikasse? Und warum bin ich bei jeder Abstimmung so verwirrt? Wieso brauche ich so lange, um meine Kreuzchen zu setzen? Dank dem politischen Koordinatensystem weiss ich nun zweifelsfrei, wo ich stehe. Ich stehe links. Das heisst: links von der Mitte. Und sogar ein beträchtliches Stückweit davon entfernt, also sehr weit links. Ungefähr auf dem gleichen Punkt wie Mahatma Gandhi. Politisch haben Gandhi und ich das Heu anscheinend auf der gleichen Bühne. Doch es beschleichen mich Zweifel. Die Übereinstimmung (in der Fachsprache: das Matching) hat vermutlich weniger mit meiner politischen Einstellung als mit meiner asketischen Lebensweise zu tun. (Meine Hauptnahrungsquelle ist Bier. Keine Ahnung, was Gandhi dazu gesagt hätte. Aber asketisch ist es auf jeden Fall). Nicht überraschend: ich bin weiter rechts als Stalin. Auch nicht überraschend: ich bin weiter links als Hitler. Da bin ich schon mal aus dem Schneider. Doch dann der Schock. Während Stalin am äussersten linken Rand steht, wo man ihn auch erwarten würde, steht Hitler in der Mitte wie ein erratischer Block. Zwar relativ weit oben wie alle Diktatoren, am äussersten Rand der autoritären Skala, aber zweifellos in der Mitte von Links und Rechts. Kann es sein, dass Hitler zu Unrecht beschuldigt wird, ein Rechtsextremer gewesen zu sein? Hat da jemand die falsche Schublade aufgezogen? Nein, kein Witz. Hitler steht in der Mitte. Vielleicht etwas rechts davon, knapp neben der FDP. Und bedenklich nah bei der CVP! Wie kann das sein? Die Sache, die Fachleute immer wieder unterstreichen, ist nämlich die: will man es ganz genau nehmen und nicht bloss einer Sprachregelung der Nachkriegszeit folgen, als sich die Staatssozialisten aus verständlichen Gründen als Gegenpart der Nazis angepriesen haben, muss man den Halb- oder Drittelsozialisten Hitler in die Mitte stellen - und nicht an den rechten Rand. Pech für die CVP! Pech auch, dass sie sich extra in "Die Mitte" umbenannt hat, um ihre Mittellage zu betonen. Die Position der Vermittlung zwischen Links und Rechts. Nun steht sie direkt neben Hitler, der sich zwar auf "Vermittler" reimt, aber alles andere als ein Vermittler zwischen den Extremen war. Trotzdem ist es eindeutig: Hitler gehört in die Mitte. Am rechten Rand findet man keine Nationalsozialisten. Was man dort hingegen zuhauf findet, sind die Neoliberalen mit ihrem Marktradikalismus und die Reaktionären der konservativen Revolution. Im autoritären Bereich, der die oberen Hälfte der Links-Rechts-Achse einnimmt, sind es dagegen die Erzkonservativen (Opus-Dei-Katholiken zum Beispiel) und die reaktionär bis marktradikal eingestellten Diktatoren vom Schlage eines Franco und Pinochet. Ja, Faschisten gibt es dort sehr wohl: aber keine Nationalsozialisten. Und bei den Faschisten auch nur diejenigen, die sich - wie in Spanien oder Frankreich - auf das erzkonservative klerikale Lager gestützt haben. Oder mit ihm sogar identisch gewesen sind. Der Faschismus wurzelt im militanten Katholizismus. Das muss man wissen, wenn man auf dem Links-Rechts-Schema die historischen Figürchen - die braunen, roten oder schwarzen Zinnsoldaten - herumschiebt. Und es muss einem auch klar sein, dass nicht alles, was eine Uniform getragen hat, ins selbe Lager gehört. Nur weil die Nationalsozialisten mit den Faschisten gemeinsame Sache gemacht haben, heisst das noch lange nicht, dass man die beiden Lager in den gleichen Topf schmeissen kann. Im übrigen haben die Nazis auch mit den Stalinisten paktiert, wenigstens eine Zeitlang. Am einfachsten wäre es natürlich, man könnte die Bösen allesamt in den gleichen Topf schmeissen und aus dem Gesichtsfeld verbannen, an den äussersten rechten oder linken Rand. Funktioniert leider nicht. Es gibt Diktatoren, die in der Mitte stehen, und einer davon ist Hitler. Das mit den gefährlichen Rändern geht also irgendwie nicht auf. Wir alle lieben klare Zuordnungen, und es fällt uns schwer zu akzeptieren, dass die Nazis bei weitem nicht so eindeutig rechts waren, wie wir das gerne hätten, wenn wir von "Rechtsextremen" reden. Mit solchen Überlegungen konfrontiert, nehme ich das politische Koordinatensystem mal etwas genauer unter die Lupe. Eigentlich wollte ich ja nur wissen, wo ich politisch ungefähr stehe: ob ich eher nach Norden oder Osten, eher nach Süden oder Westen ausgerichtet bin. Das politische Achsenkreuz als Selbsttest oder Kompass. Das habe ich nun ausprobiert. Und so habe ich herausgefunden, dass ich ein Parteigänger von Ghandi bin. Das hat mich etwas überrascht. Weniger überrascht hat mich die Erkenntnis, dass ich auf der linken Seite stehe. Als Fidel Castro noch gelebt hat und hin und wieder im Fernsehen gekommen ist, wenn er im Plenarsaal der UNO eine Rede gehalten hat, hat mich das immer wieder gefreut: dass es den Fidel noch gibt! Den unverwüstlichen Fidel Castro! Noch immer hiess seine Devise "Cuba libre!": ein Dinosaurier aus dem Kalten Krieg, eine Ikone, die ich persönlich sehr bewunderte. Das mag vielleicht meinem demokratischen Selbstverständnis etwas widersprochen haben. Wie kann man nur einen Diktator mögen? Gut, Fidel ist ein Diktator gewesen, aber immerhin ein sympathischer Diktator - und als Redner um einiges geistreicher als Hitler. (Fidel war berüchtigt für seine weitschweifigen Reden. Wenn er mal anfing, konnte er fast nicht mehr aufhören. Sein Rekord lag bei 13 Stunden. Einmal musste man im Plenarsaal der UNO sein Mikrofon abstellen, damit noch jemand anderes zu Wort kam, und nachher behauptete Fidel, es sei US-amerikanische Sabotage gewesen). Ansonsten bin ich kein Freund von Diktaturen, und in der Regel mag ich auch die Regierung nicht besonders, die ich selber mitgewählt habe. Unsere Politiker sind miserable Redner. Die meisten von ihnen können im Café Fédéral nicht mal einen Kaffee bestellen, ohne ins Stottern zu geraten. Dennoch bin ich froh, Schweizer zu sein. Ich halte das für ein Privileg, und im Notfall wäre ich bereit, dieses Privileg zu verteidigen. Diesbezüglich stehe ich vielleicht eher rechts als links. Es gibt drei Prinzipien, für die ich zum Gewehr greifen würde, wenn ich eines hätte: die direkte Demokratie, die Meinungsfreiheit und die Waschküchenordnung. Ansonsten halte ich mich für sehr gemässigt. Ja, vielleicht bin ich sogar ein bisschen lauwarm. Oder zumindest inkonsequent. Mein Standort bleibt diffus, meine politische Einstellung ist meistens diejenige, mit der man dagegen ist, egal, gegen was, und wenn mich das mit Gandhi verbindet, ist es recht wenig, das mich mit ihm verbindet. Und mit Fidel Castro verbindet mich weiss Gott was. Und dann muss ich auch noch feststellen, dass Hitler gar kein Rechtsextremer gewesen ist! Ich bin verwirrt. Das politische Achsenkreuz ist um einiges komplexes, als ich gedacht habe, und vor allem um einiges widersprüchlicher. Meine politische Kompassnadel dreht sich im Kreis. Klar, links ist, wo der Daumen rechts ist. Solange die Handinnenfläche nach unten schaut. Aber wie ist es, wenn ich den Kopfstand mache?

 

Was mich am meisten verwirrt, ist die Tatsache, dass der vielleicht grösste und mit Sicherheit älteste Gegensatz auf dem politischen Achsenkreuz nicht der zwischen Links und Rechts ist, sondern zwischen Rechts und Rechts. Auf der rechten Seite haben wir es mit zwei Strömungen zu tun, die nicht nur gegensätzlich, sondern auch uralt sind, jedenfalls älter als alles, was wir auf der linken Seite vorfinden. Die eine Strömung ist der bürgerliche, oft auch marktwirtschaftlich definierte Liberalismus, und die andere, sozusagen spiegelbildlich entgegengesetzte Strömung ist der ebenfalls bürgerliche, aber eher wertorientierte Konservativismus. Der Liberalismus ist sehr offen und kann auch nach links tendieren, der Konservativismus eher nicht. Er ist durch und durch rechts. Grundsätzlich ist alles Konservative rechts. Wenn die Linken über die Rechten schimpfen, meinen sie meistens die Konservativen. Dort scheint so etwas wie die Hauptbastion der Rechten zu sein. Konservativ ist eine Werthaltung, die gewachsene Gesellschaftsstrukturen verteidigt, und insofern stimmt das Klischee von Links und Rechts durchaus. Rechts ist, wer individuelle und gesellschaftliche Unterschiede zementiert und legitimiert: erbliche Privilegien, Standesunterschiede, tradierte Hierarchien. Aber rechts ist auch der Liberale, der das Reaktionäre und Herkömmliche ablehnt, nicht weil er grundsätzlich gegen Unterschiede ist, sondern weil er seine Hierarchien auf dem Leistungsprinzip aufbaut. Insofern ist auch der Liberale ein Rechter. Anders als der Konservative verteidigt er nicht den erblichen, sondern den erworbenen oder erkämpften Standesunterschied. Der Liberale ist für die Freiheit, "etwas aus sich zu machen", auch gegen Widerstände und bestehende Hierarchien. Er ist für unendliche Flexibilität. Allerdings immer mit dem Hintergedanken, dass diese Freiheit nie eine Freiheit für alle ist. Menschen, die sich nach oben strampeln, treten zwangsläufig nach unten. Und hier muss man deutlich unterscheiden zwischen Liberal und Libertär. Der Libertäre lehnt Hierarchien prinzipiell ab. Er ist gegen Fremdbestimmung, egal ob durch den Staat, eine bestimmte Ideologie oder den Markt. Er beharrt auf einem Daseinsrecht, das sich als autonom definiert. Der Kontext seiner Position kann ein linker oder rechter sein, beides ist möglich, und beides definiert sich im Widerstand gegen ein vorherrschendes Prinzip gesellschaftlicher Zurichtung. Der Libertäre kann liberal oder links sein, ja sogar konservativ. (Graf Dracula ist das seltene Beispiel eines Libertär-Konservativen). Der Libertäre kann verschieden ausgerichtet sein. So wie auch der Staatsgläubige und Autoritätshörige sowohl links wie rechts sein kann. Anarchismus und Autoritarismus sind Phänomene der vertikalen Achse - und nicht der Achse zwischen Links und Rechts. Freilich produziert diese Achse auf beiden Seiten der Links-Rechts-Skala gewisse Ungereimtheiten. Auf der vertikalen Achse, wo das Verhältnis des Einzelnen zum Staat definiert wird, verstricken sich Rechte genauso in Widersprüche wie Linke. Beide stolpern über die eigenen Füsse, wenn es ihnen nicht gelingt, diese Widersprüche zu bewältigen. Das ist sozusagen der Praxistest. In der Realisation zwischen Diktatur und Anarchie können Anspruch und Realität weit auseinander klaffen. Je höher man das Ideal steckt, desto grösser die Gefahr, dass man der Realität Gewalt antut. Oder von ihr überrollt wird. Vor allem die Linken blicken diesbezüglich auf eine leidvolle Geschichte zurück. Entsprechend ihrem Ethos darf die ideale Gesellschaft nicht auf Ungleichheiten beruhen. Was sehr schlecht umsetzbar ist, wenn man diese Utopie staatlich zu organisieren versucht. In der Geschichte ist jedes derartige Experiment gescheitert oder in einer Diktatur erstarrt. Selbst im überschaubaren Rahmen einer Kommune ist das Ideal der vollkommenen Gleichheit und Gerechtigkeit nur zum Preis einer sektiererischen Manipulation aufrecht zu erhalten. Aus dieser Diskrepanz heraus - eine Art Selbstverteidigung angesichts historischer Blamagen - klammern sich die Linken umso heftiger an die Vorstellung, als Linker sei man grundsätzlich herrschaftskritisch und demokratisch aufgestellt. Das "Wohl der Schwachen", es liegt dem Linken am Herzen. Dieser Grundimpuls hat etwas Missionarisches.  "Wir sind die Guten. Wir wollen das Richtige." Wer so denkt, ist immer auch ein bisschen verblendet. Es ist eine Überzeugung, die Gefahr läuft, sich an sich selbst zu berauschen. Wer um jeden Preis gut sein möchte und alles daran setzt, die Menschen für das Gute und Richtige in die Pflicht zu nehmen, landet früher oder später im Lager der Jakobiner, wo man dem Gutsein mit der Guillotine nachhilft. Links gleich Menschlichkeit. Links gleich Humanität. Ich kenne viele Linke, die diese Gleichung wie eine Monstranz vor sich hertragen. Die eigenen autoritären Tendenzen verschleiern und relativieren sie gerne mit dem fadenscheinigen Hinweis auf die fehlgeleitete praktische Anwendung einer an und für sich richtigen Sache. Die Argumentation ist immer etwa die gleiche: die Theorie der grossen Solidarität wäre perfekt, aber in der Praxis kommen die bösen Machtmenschen mit ihrem bösen Repressionsapparat und machen alles kaputt. Der real existierende Sozialismus/Kommunismus als Betriebsunfall einer ansonsten richtigen und guten Sache. Das höre ich schon seit dem Untergang der DDR. Die Überzeugung wäre ja schon die richtige, aber die Realität will das einfach nicht wahrhaben! Dass der Staatssozialismus nicht funktioniert, hat sich bei den meisten Linken herumgesprochen. Dass aber die linke Empörungsempathie, bloss weil sie das Gute will, nicht schon demokratiefreundlich ist, darauf kommen die meisten Linken nach wie vor nicht. Auch wenn die heutigen Linken nicht mehr von der Weltrevolution träumen und sich eher als Anwälte von Minderheiten sehen und in dieser Rolle eine Art Opferkultur bewirtschaften, neigen sie immer noch zum rosaroten Utopismus. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ertragen keinen überzogenen utopischen Anspruch. SIe beruhen auf Kompromissen. Auf dem Prinzip: "Lieber der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach." Insofern ist linkes Denken immer anfällig für antidemokratische Bestrebungen. Die völlige Güter- und Chancengleichheit gibt es nur in der Abstraktion, nicht aber in der menschlichen Realität. Dazu kommen die inneren Widersprüche einer neulinken Moral, die aus den poststrukturalistische Schulen der letzten fünfzig Jahre hervorgegangen ist. Das begriffliche Konstrukt (normative Diskurse über Gender, Sexismus, Antirassismus etc.) wird über die juristische, soziale und biologische Realität gestellt, was zu absurden Verwerfungen führt. Die linksdiskursive Empörungskultur entlarvt sich nicht nur als realitätsfremd, sondern allzu oft auch als widersprüchlich. Linke Empörung ist immer selektiv. Nicht alle Opfer bekommen den gleichen Opferstatus zugesprochen, nicht alle Täter entsprechen dem linksdiskursiv vorgestanzten Schema der "idealen" Täterschaft. (Die beliebtesten Täter im neulinken Opfer/Täter-Schema sind heterosexuelle Männer und grundsätzlich Menschen mit weisser Hautfarbe). Die Realität mit all ihren Widersprüchen, Schattierungen und individuellen Besonderheiten blenden die neulinken Moralwächter gerne aus; sie sehen immer nur das Konstrukt einer bestimmten Realität, das Konstrukt einer bestimmten Moral, und beides halten sie für die Realität. In letzter Konsequenz führt das zu einer Gesinnungsjustiz, die nicht mehr nach rationalen Gesichtspunkten urteilt und den eigenen Gerechtigkeitsanspruch unterläuft. Man operiert mit einer spezifischen Opferhierarchie. Männer kommen schlechter weg als Frauen, Weisse schlechter als Schwarze, Heterosexuelle schlechter als Schwule etc. etc. Der jeweilige Opferstatus wird dann quasi per Schnittmenge errechnet. Da man mit diesem moralischen Raster die gesellschaftliche Realität immer nur wie durch einen Filter wahrnimmt, läuft man in eine Wahrnehmungsverengung hinein und züchtet eine inquisitorische Kultur der "falschen Rechtschaffenheit" heran. Man könnte das auch als Heuchelei bezeichnen. Die hemmungslosesten Kapriolen schlägt diese Heuchelei in der institutionalisierten Identitätspolitik. Ein gutes Beispiel dafür hat kürzlich die Berliner Humboldt Universität geliefert, die für eine studentische Antidiskriminierungsstelle ausdrücklich eine Person mit nicht-weisser Hautfarbe gesucht hat. Dieser Verstoss gegen das Gleichbehandlungsgesetz hat zum Glück sehr viel Staub aufgewirbelt. Genau DAS ist nämlich Diskriminierung! Ausserdem ist es völlig unlogisch, ja absurd, weissen Menschen jede Diskriminierungserfahrung abzusprechen. Das ist  so unlogisch, dass man sogar eine Art Rassismus dahinter vermuten könnte. Auch im Hinblick auf dunkelhäutige Menschen, die hier kategorisch (und perfiderweise) in eine Opferrolle gedrängt werden. Und genau das ist eben Heuchelei: man gibt vor, gegen Rassismus zu kämpfen, und operiert dabei mit rassistischen Stereotypen! Andererseits ist das Ganze auch logisch. Es ist, wie jedes Wahnsystem, in sich logisch. Es ist ein Gerechtigkeitsempfinden, das eine bestimmte ideologische Zielsetzung verfolgt: das realitätsfremde und im Grunde genommen auch demokratiefeindliche Ideal einer totalen moralischen Reinheit. Rechtliche und moralische Grundsätze müssen jedoch ideologiefrei sein, das heisst: sie müssen durch das universal gültige Naturrecht (Menschenrechte etc.) legitimiert sein, und vor allem müssen es Grundsätze sein, die durch Ausgewogenheit, Kompromisse und Fairness ins reale Leben einfliessen können, wo eben nicht alles in ein ideologisches Raster passt. Und wo auch nicht alles moralisch eindeutig ist. Der linke Utopismus kollidiert zwangsläufig mit dem Pragmatismus, den jede funktionierende Demokratie voraussetzt. Selbst Rosa Luxemburg, die die Gefahr eines roten Staatsterrors schon früh erkannt hat, war alles andere als eine demokratische Lichtgestalt. Unter dem Banner der Räterepublik hat sie mitgeholfen, demokratische Einrichtungen zu zerstören und freie Wahlen zu verhindern. Der fehlende Realitätssinn, durch den die Linken immer wieder unangenehm auffallen, hat nicht nur mit der inhaltlichen Ausrichtung zu tun, sondern auch mit der Art und Weise des Denkens. Der Linke ist Dialektiker. Dieses Denken führt Gegensätze zusammen, um sie zu überwinden. So verschwinden alle Widersprüche und Ambivalenzen, alles Uneindeutige wird auf Eindeutigkeit gebürstet, alles Unstimmige wird bereinigt und begradigt. Der Weg dorthin mag raffiniert sein, und trotzdem läuft das meistens auf etwas Stupides hinaus. Der Linke ist ein Zauberkünstler der Ignoranz. Was für ihn nicht stimmt, kann er mit einem dialektischen Hokuspokus ganz einfach aus der Welt schaffen, was der Soziologe Harald Welzer einmal als "hohes Niveau von ausgeprägter Dummheit" bezeichnet hat. Bei den Linken gehen Intelligenz und Dummheit oftmals Hand in Hand. Oder dialektisch ausgedrückt: Intelligenz und Dummheit vereinigen sich zu einer höheren Synthese.

 

Bei den Rechten gehen Intelligenz und Dummheit meistens getrennte Wege. Doch auch hier finden wir gelegentlich eine Dummheit auf hohem Niveau, eine ausgeklügelte Totalverpeilung. Wenn konservative Nationalisten den "Volkswillen" gegen eine demokratische Regierung mobilisieren, ziehen sie mit wehenden Fahnen am Rechtsstaat vorbei. Und auch an der Demokratie. Der pure "Volkswillen", den Rechts- und Nationalkonservative im populistischen Überschwang so gerne beschwören, birgt die Gefahr einer "Tyrannei der Mehrheit", des demokratischen Betriebsunfalls, den Tocqueville beschrieben hat. Wo eine Mehrheit eine Minderheit unterdrückt, haben wir zwar eine Demokratie, aber keinen Rechtsstaat. Was nach heutigem Verständnis - die alten Griechen haben das noch anders gesehen - dann eben auch keine Demokratie mehr ist. Nach moderner Auffassung bedingt die Demokratie den freiheitlichen Rechtsstaat, und der freiheitliche Rechtsstaat bedingt die Demokratie. De facto heisst das, dass der demokratische Mehrheitswille nicht gegen die Verfassung ausgespielt werden kann. Dadurch werden Minderheiten geschützt. Und vor allem auch Minderheiten, die durch einen Mehrheitsbeschluss überstimmt werden. In einer direkten Demokratie ist das eine wichtige Einschränkung. Andererseits ist eine "Tyrannei der Mehrheit" in einer direkten Demokratie gerade deshalb unwahrscheinlich, weil dem Bürger die politische Mündigkeit nicht von vornherein abgesprochen wird. Auch dann nicht, wenn er die rechtsnationalistische "Volkspartei" wählt. Rechtspopulistische Exzesse werden erst dann gefährlich, wenn eine Elite das Volk oder Teile des Volks manipuliert, was in einer repräsentativen Demokratie eher möglich ist. Vor allem weil dort die Kluft zwischen Volk und politischer Klasse grösser ist als in einer Basisdemokratie, die quasi jeden Bürger dazu ermächtigt, der obersten Regierung ins Handwerk zu pfuschen. Da der basisdemokratisch eingebundene Bürger selber manipulieren kann, ist er weniger manipulierbar. Unter dem Strich ist das der beste Schutz vor rechtspopulistischen Exzessen. Der "ermächtigte" Souverän ist im allgemeinen mündiger, als die Politiker und Medien suggerieren, und das Szenario der "Tyrannei der Mehrheit" und der rechten Machtergreifung ist ein Popanz, den man gegen Rechtspopulisten gerne ins Feld führt, um sie zu dämonisieren. Auch DAS muss man durchschauen können. Es gehört zur üblichen Polit-Propaganda, aus jedem Rechtspopulisten einen zähnefletschenden Quasi-Faschisten zu machen, der in seiner Hosentasche das nächste Ermächtigungsgesetz mit sich herumträgt. Und in dieser Klischeevorstellung darf natürlich auch nicht der Bierkeller fehlen, wo sich der braune Mob trifft, um das braune Gedankengut auszubrüten. Eine Vorstellung, die nicht nur abgenutzt, sondern auch völlig verkehrt ist. Und die von elitären Kreisen gerne mobilisiert wird, um ein formal demokratisches, aber eigentlich absolutistisch strukturiertes Herrschaftssystem gegen den störrischen "Volkswillen" abzusichern. Der Pöbel ist nun mal unberechenbar. Aber gefährlich ist er selten, und wenn doch, gibt es gute Gründe dafür, und die führen in der Regel zu einem Aufstand oder einer Revolution. Und gefährlich ist das vor allem für die Mächtigen. Echte Demokratie ist für die Mächtigen immer eine Gefahr: auch INNERHALB von Demokratien. Politiker sind nun mal rechenschaftspflichtig, und ihre Angst vor dem "gemeinen" Volk ("gemein" im doppelten Wortsinn) kommt nicht von ungefähr. Oft wird diese Angst als Mittel benutzt, um legitimen Protest zu diskreditieren. Während der Corona-Pandemie hat man das deutlich gesehen. Der Protest gegen die Corona-Massnahmen mag nicht immer gut begründet gewesen sein, aber berechtigt war er auf jeden Fall. Die Einschränkung von Grundrechten darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Umso erstaunlicher war es, mit welcher Vehemenz dieser Protest diskreditiert wurde. Und mit welcher Dreistheit man hier wieder einmal den "bösen Nazi" an die Wand gemalt hat. Menschen, die spontan auf die Strasse gingen und "Nieder mit der Regierung!" schrien, wurden mit der grössten Selbstverständlichkeit als "rechts" diffamiert. Und "rechts" hiess in solchen Zusammenhängen immer "gefährlich". "Rechts" hat sich zu einer Art Universalstempel entwickelt. Alles, was nicht genehm ist, bekommt diesen Stempel aufgedrückt. Da lohnt es sich, hin und wieder daran zu erinnern, dass die echten Nazis A) ein Eliteprojekt verfolgt haben. Dass sie B) Sozialisten gewesen sind: wie der Name ja schon deutlich genug sagt. Und C) eine historische Erscheinung gewesen sind, eine Erscheinung der Zwanzgier- und Dreissigerjahre des 20. Jahrhunderts. Die echten Nazis werden ebenso wenig zurückkommen wie die alten Römer. Oder die Ritter des Mittelalters. Mit der Nazi-Klonerei ist es so eine Sache. Ein weites Feld, würde Fontane sagen. Wäre ich zwanzig Jahre alt und würde verzweifelt nach einem Mittel suchen, um meine Lehrer, Eltern und Nachbarn zu erschrecken: was würde ich tun? Ich würde im Kostümverleih eine Nazi-Uniform holen und überall damit herumposieren, und ich würde von feschen blonden Mädels schwärmen, weil man das als Nazi halt so macht. Besonders cool wäre das allerdings nicht. Wollte ich etwas zeitgemässer schockieren, würde ich mich den Identitären anschliessen und mich als Anhänger des Ethnopluralismus outen. Aber echt jetzt? Wäre ich damit eine Bedrohung für die freie Welt, the Evil itself? Ausserhalb gewisser Szenen und Subkulturen, die sich gut überwachen lassen, sehe ich weit und breit keine Nazis. Ich sehe aber viele Leute, die sich ständig über Nazis aufregen. Und ich frage mich, was mit diesen Deppen eigentlich los ist. Man neigt heute dazu, das Murren des Volkes als rechts abzustempeln. Doch für eine rechte Machtergreifung durch einen wie auch immer gearteten Mob gibt es in der Geschichte kaum ein Beispiel. Faschistische Diktaturen wurden fast ausnahmslos von den Eliten (Militär, Grossbürgertum, Akademien, Adel, Kirche etc.) errichtet. Faschismus kommt von oben, nicht von unten. Was Putin derzeit mit Russland anstellt, hat viel mehr mit Faschismus zu tun als das, was sich in den Corona- oder Pegida-Protesten abgespielt hat, auch wenn dort hin und wieder ein paar Glatzköpfe mitmarschiert sind. Faschismus ist nicht etwas, das von unten heraufbrodelt. Faschismus wird von einer Machtelite gezielt installiert, ob mit oder ohne Volk, spielt keine Rolle: die Eliten bestimmen. Faschismus beruht auf einer antidemokratischen Elitenherrschaft, nicht auf einer Pöbelherrschaft, die natürlich ebenfalls antidemokratisch sein kann. Revolutionen, die in eine Pöbelherrschaft einmünden, kennt man eher aus dem linken Bereich. ("Räteherrschaft", "Diktatur des Proletariats", die Guerillabewegung der "Roten Khmer" etc.) Überdies gibt es auch bei den Rechten eine starke Tradition der Autoritätsverweigerung, eine libertäre Grundhaltung. Nur ist sie nicht wirklich konsequent, da sie auf Selbstautorisierung beruht. Man ernennt sich selber zum Chef. Oder zum Übermenschen, der über seine mickrige Umgebung hinauswächst. Was natürlich auch nicht unbedingt der ideale Weg in die Demokratie ist. Sowohl links wie rechts gibt es eine libertäre Neigung zum Anarchismus. Sowohl links wie rechts gibt es eine autoritäre Neigung zur Diktatur. Trotzdem kann man als guter Demokrat sehr wohl links oder rechts sein. Auf beiden Seiten gibt es ein korrektes Demokratieverständnis. Wenn auch ein unterschiedliches. Der zentrale Punkt bei der Demokratiefrage ist ein anderer. Wenn man ein guter Demokrat ist, ist man das nicht deswegen, WEIL man links oder rechts ist. Die Wahrheit mag für beide Seiten etwas enttäuschend sein: Demokratie ist keine Frage von Links oder Rechts. Ausser dass sie deren Extreme ausschliesst. Der Ort, wo Demokratie möglich ist und gedeihen kann, ist immer die Mitte zwischen Libertär und Autoritär. Hier bewegt sich der Regler zwischen Diktatur und Anarchie. Und hier geht es um das, was für Demokratien wesentlich ist: die richtige Balance zwischen Staatsgewalt und individueller Freiheit. Und zwar jenseits von Links oder Rechts. Wie uns auch Hitler zeigt, der zwar in der Mitte zwischen Links und Rechts steht, aber in Sachen Demokratietauglichkeit um einiges schlechter abschneidet als die CVP alias "Die Mitte".

 

Die Mitte, so scheint es, ist eine Position mit vielen Vorteilen. Wer in der Mitte einer Wippe hockt, dort, wo der Wippbalken befestigt ist, wird nicht in die Luft oder zu Boden geschleudert, wenn es mal etwas stürmischer zugeht. Dass sich Wippe auf Mitte reimt, passt natürlich wunderbar. Die Wippe hat eine fest montierte Mitte, damit das Ganze nicht auseinanderfällt. Und wer in der Mitte hockt, kann sich als Garant von Stabilität ausgeben. Ja sogar als Vertreter des Guten! Denn die Tugend ist eine Eigenschaft der Mitte. Diese Vorstellung, die die ganze abendländische Kultur durchdringt, stammt aus der Nikomachischen Ethik, in der Aristoteles die menschlichen Tugenden als Mittelpositionen definiert. So sieht er zum Beispiel den Mut in der Mitte zwischen Hochmut und Kleinmut. Oder die Freigebigkeit in der Mitte zwischen Verschwendungssucht und Geiz. Wer die Mitte anzielt, kann fast nichts falsch machen. So gesehen ist die Umbenennung der CVP in "Die Mitte" äusserst klug. Wenn man nichts falsch machen will, findet man im neuen Parteinamen einen verlässlichen Wegweiser. Allerdings kann die Mitte (nicht unbedingt die Partei, aber die politische Mitte generell) auch für eine Haltung stehen, die keine ist. Es allen irgendwie recht machen wollen, ist keine Haltung, mit der man sich profilieren kann. Wenn Franz-Josef Strauss oder Helmut Schmidt grosse Persönlichkeiten gewesen sind, dann bestimmt auch deswegen, weil sie darauf verzichtet haben, es allen irgendwie recht machen zu wollen. Wenn es drauf ankam, Haltung zu zeigen, sind sie mit ihrer ganzen Elefantenhaftigkeit und ohne jede Rücksicht auf empfindliche Gemüter mitten durch den Porzellanladen marschiert. Hauptsache geradeaus. Immer die Mitte zu halten, ist fast unmöglich: selbst für einen gemässigten Menschen. Und erst recht für einen Politiker. Denn das ist dann doch der Unterschied zwischen einer Wippe und der Politik. In der Politik ist die Mitte nie wirklich fixiert. Sie wird immer nur angesteuert. Wer die Mitte einnehmen möchte, muss ständig Slalom fahren. Er muss biegsam sein wie ein Strohhalm. Wenn man die Nikomachische Ethik in die Praxis umsetzt, merkt man ziemlich schnell, dass die "goldene Mitte" auch ihre Tücken hat. Die goldene Mitte kann aus Katzengold bestehen. Oder aus einer heimlichen Bruchstelle. Einem heiklen Dazwischen. Zwischen zwei tektonischen Platten kommt es häufig zu Erdbeben. Belastet man das Ende eines soliden Balkens, passiert nichts. Belastet man seine Mitte, kann er zersplittern wie morsches Holz. Die Mitte ist häufig der Punkt, wo ein System am verletzlichsten ist. Deshalb ist die Mitte heiss umkämpft. Wer die Mitte bewacht, bewacht das System. 1998 etablierten die deutschen Sozialdemokraten im Bundeswahlkampf den Begriff der Neuen Mitte, eine sozialdemokratische Reformidee, die auch in andern Ländern die Runde machte. Damit verbunden war die Vorstellung eines Sozialstaates, der die sozial Randständigen mit einem Pflichtenheft "herausfordert". Im Klartext hiess das, dass die staatliche Versorgungsaufgabe zu einer Erziehungs- und Betreuungsaufgabe umgewandelt werden sollte. Anstatt wie bisher Armutsbetroffene aufzufangen, nahm man eine neoliberal motivierte Umerziehung in Angriff: Eigeninitiative stärken und selbst aus der Obdachlosigkeit einen Beruf machen. "Penner" als Berufsprofil, Pfandflaschensammeln als Initiative zum Aufstieg. Die neue Mitte war also plötzlich neoliberal. Was aber war dann noch rechts? Rechts gab es schliesslich nur noch Nazis und Konservative. Ein paar Unverbesserliche eben. So haben die Sozialdemokraten die politische Achse zwischen Links und Rechts nach eigenem Gusto neu eingerichtet. Eine einzige Schummelei. So wie man früher Grenzsteine über Nacht versetzt hat, um das eigene Herrschaftsgebiet auszuweiten, vergreift man sich in der Politik gerne an der Mitte, um sich nach vorn zu spielen. Genau das haben die Sozialdemokraten getan. Dabei stehen sie einwandfrei links, wenn auch häufig mit einem neoliberalen Anstrich. Die Mitte ist definitiv nicht sozialdemokratisch. Und überhaupt fragt sich, was an der Mitte so attraktiv sein soll. Sie ist gemässigt liberal. Sie ist bürgerlich. Sie ist von allem ein bisschen. Sie ist fade und langweilig. Sie ist zum Einschlafen. Die typische Mitte-Partei ist eine Partei wie die CVP, die sich mit grossem Marketingaufwand umbenennen muss, damit sie wieder einmal ein bisschen Medienpräsenz bekommt.

 

Dabei spricht vieles dafür, dass das wohlanständige Bürgertum, obwohl es unter dem Diktat des linksliberalen Zeitgeistes gerne die Mitte oder sogar eine gemässigte Linke wäre, im Kern eine Erscheinung der rechten Seite ist. Dafür spricht zum Beispiel die Tatsache, dass das Bürgertum seine Ideale - vom Leistungsdenken bis zum Bildungskanon - dem historischen Widerstreit zwischen Konservativen und Liberalen zu verdanken hat. Dieser Widerstreit ist auch ein Wettstreit: der Bürger möchte hoch hinaus. Deshalb muss er vermögend und gebildet sein. Mindestens so vermögend und gebildet wie der Adlige, der erzkonservative Gutsherr, der wie ein Gott im Schlaraffenland über all das verfügt, das der kleine, neiderfüllte Bürger auch gerne hätte und das er zu gewinnen hofft, indem er möglichst viel Geld, Besitz und Macht erwirbt. Dazu muss er sich gewissermassen freistrampeln. Er muss frei genug sein, um jenseits von Regeln und Skrupeln agieren zu können; er muss Risiken eingehen können, damit er die Erfolgsleiter hochkommt. Was ihm just von konservativer Seite Kritik und Tadel einträgt. Denn der Konservative mag die Unruhe des Liberalen nicht. Der Konservative liebt die Beständigkeit, und Sicherheit ist sein oberstes Gebot. Es ist die Reibungswärme dieses Konflikts, das Wechselspiel zwischen konservativen und liberalen Ansichten, aus dem das Bürgertum bis heute sein Selbstverständnis bezieht. Hinter dieser inneren Dynamik steht eine lange Geschichte. Im Spätmittelalter und in der Neuzeit versuchten die zu Wohlstand gekommenen Stadtbürger die Lebensgewohnheiten und den Prunk des Adels zu kopieren. Zugleich pochte das Bürgertum auf Freiheitsrechten, um sich der herrscherlichen Gewalt des Adels zu entwinden. Damit entstand eine Konkurrenz zwischen Geburtsadel und Geldadel, zwischen erblichen Privilegien und kapitalistischer Macht. Der bürgerliche Geldadel hat sich dann seinerseits zu einem neuen Adel verfestigt, der nur noch daran interessiert war, seine Privilegien abzusichern, sodass es wiederum Liberale waren, die diese konservative Bastion zu stürmen versuchten. Der Liberale wird zum Konservativen, sobald er die konservative Bastion gestürmt hat, und der Konservative verteidigt sich immerfort gegen den liberalen Emporkömmling, der seinen Platz einnehmen möchte. Das ist wie ein Zweikampf, den man auch als Paartanz interpretieren kann; schon immer haben sich Konservative und Liberale befeindet, und schon immer war das auch ein Verhältnis, das auf Gemeinsamkeiten beruhte. Dass es nicht bei dieser Zweisamkeit blieb und links vom Liberalismus eine dritte Kraft hinzukam, lag unter anderem daran, dass der Liberalismus einen inneren Widerspruch transportierte. Die aufklärerische Forderung nach Freiheit und Gleichheit ist für die Liberalen ein Leitprinzip, das sie bei jeder Gelegenheit beschwören, in der gelebten Realität jedoch mit Füssen treten. In der "freien" Wirtschaft gibt es wohl ein freies Spiel der Kräfte. Aber das zwangsläufige Ergebnis dieser Freiheit ist eine Gesellschaft mit Reichen und Armen, mit Ausbeutern und Ausgebeuteten: eine Gesellschaft der Ungleichen. Die einen sind frei, die andern nicht. Die einen überleben, die anderen nicht. Das Prinzip der Evolution, der Kampf ums Dasein mit allen Mitteln. So funktioniert Marktwirtschaft. So funktioniert das freie und kreative Spiel der Kräfte, das wir auch in der Evolution sehen. Wer da vom humanen Aspekt der Evolution redet, von Kooperationen und Partnerschaften, übersieht, dass auch Löwen und Wölfe kooperieren. Für Jäger, Räuber und Banditen ist es von Vorteil, sich zusammenzuschliessen. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass der Liberalismus etwas Entscheidendes vermissen lässt: die humane Konsequenz. Während die Liberalen gegen die konservativen Bastionen angestürmt sind, um das Ideal der bürgerlichen Freiheit durchzusetzen, hat sich innerhalb des Liberalismus eine Strömung entwickelt, deren Akteure diesen Freiheitsanspruch wörtlich nahmen und zuspitzten. Nicht bloss Freiheit und Gleichheit für die Bourgeoisie, die Kapitaleigner, die Oberschicht, die Repräsentanten eines weiterhin geknechteten Souveräns, sondern Freiheit und Gleichheit für alle! Aus diesem Widerstand ist sowohl den Konservativen als auch den Liberalen ein Gegner erwachsen, mit dem sie bis heute ringen: der Linke oder Sozialist.

 

Einer der grössten Unterschiede zwischen den beiden rechten Positionen betrifft das Verhältnis zum Staat. Will der Liberale einen Staat, der sich in die bürgerlichen Einzelbelange möglichst wenig einmischt, aber dann doch mit der Schiedsrichterpfeife zur Stelle ist, wenn es irgendwo unfair zugeht, so will der Konservative einen Staat, der seine Bürger staatsbürgerlich erzieht. Am besten mit Fahnen und Trompeten. Das Ziel ist ein Staat mit einer pyramidenförmigen Hierarchie, die Stabilität und Dauer verspricht. Und die nach aussen etwas darstellt. Beim Konservativen schimmert immer noch ein bisschen das Adelsgepränge durch, die Sehnsucht nach der schneidigen Paradeuniform, die man seit 200 Jahren jeden Sonntag aus dem Schrank nimmt, um sie zu striegeln und in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Für den Konservativen ist das Gute immer nur das, was sich als beständig ausweist. Ein Windstoss - und mag er noch so aufwühlend sein - ist nicht beständig, eine Kathedrale schon. Der Konservative meisselt seine Grundsätze in Stein. Aus Stein ist er auch selber Er verfügt über Härte und Widerstandskraft. Er ist der Fels in der Brandung. Seine Devise lautet: Ewig währt am längsten. Der Konservative ist auch so etwas wie der Leuchtturm im Nebel der Verwirrung und Relativität. Während die andern ständig das Rad neu erfinden müssen und jeder billigen Neuerung nachhecheln, beruft sich der Konservative auf einen festen Wertekanon, und es ist der gleiche Wertekanon, den auch schon der Urgrossvater und dessen Urgrossvater gehabt hat. Und was die Urgrossmutter betrifft, so steht sie für das Prinzip "Weib, Kind und Küche", das auch heute noch eine verlässliche Orientierung bietet, und wo käme man hin, wenn man jeder modischen Laune hinterhertanzen würde? Jetzt gibt es sogar schon Weibsbilder, die sich weigern, Röcke zu tragen! Im Streit um ethische Normen (Abtreibung, Schwulenehe etc.) klaffen die Ansichten von Konservativen und Liberalen bis heute am weitesten auseinander. Der Liberale glaubt an den Individualismus, an die Selbstverwirklichung, an die Selbstregulierung und das klassische Laissez-faire, das auf Freiräume und Eigeninitiative setzt. Der Konservative hat diesen unverbrüchlichen Glauben an die Freiheit nicht. Er glaubt eher an die Kraft von Bindungen. An eine starke Gemeinschaft, einen starken Staat - und vor allem an ein Wurzelgeflecht von Normen, das ihn mit der Vergangenheit und damit auch seinem Selbstverständnis verbindet. Ohne den Bezug zur Vergangenheit wäre der Konservative nichts. Ist der Prototyp des Konservativen der Adlige, der seine Position vererbt bekommen hat, so ist der Prototyp des Liberalen der weltläufige Bürger, der im Bewusstsein, etwas aus sich gemacht zu haben, den linken Kollektivismus genauso ablehnt wie das Adelsprivileg und in seiner ideologischen Zuspitzung zum neoliberalen Glücksritter wird, der sein Vermögen - meist am Staat vorbei - im Spielcasino oder durch Spekulationen gewinnt. Der Neureiche ist der Liberale in Extremform. Doch die Grundsätze sind die gleichen. "Jeder ist seines Gückes Schmied" ist eine grundliberale Devise. Und es ist eine progressive Devise. Trotzdem ist sie nicht weniger rechts als alles Konservative. Und im Falle der Neoliberalen steht sie sogar am äussersten rechten Rand.

 

Nun gibt es Politologen, die den Liberalismus demonstrativ in die Mitte stellen. Ganz so unlogisch ist das nicht. Und es ist auch verständlich, dass die Mitte gerade auf die Liberalen so anziehend wirkt. Liberal ist auch der Räuber. Und der Räuber hat ein verständliches Anliegen: er möchte als jemand dastehen, der eine weisse Weste hat. Wer nach Reputation giert, stellt sich einfach in die Mitte, und schon ist der Leumund tadellos. Was den Liberalismus betrifft, so kann er sich dabei auf seine historischen Ursprünge berufen. Ging es da nicht um die edelsten Motive? Um Menschenrechte? Um Gleichheit und Freiheit? Wenn man die Geschichte von Links und Rechts mit der französischen Revolution beginnen lässt, als die Liberalen im Widerstand gegen die Monarchisten die parlamentarische Sitzordnung etabliert haben, kommt man von alleine auf einen Liberalismus, der die Mitte besetzt. Er rutscht nach links, wenn man die ursprüngliche Sitzordnung im Hinterkopf behält: Links waren die Liberalen, rechts die Monarchisten. Unter diesem Gesichtspunkt kann man die Liberalen durchaus als Bindeglied zum linken Spektrum sehen, als die ideale Verbindung zwischen Links und Rechts. Doch andererseits lässt sich die Theorie vom "eingemitteten" Liberalismus nur aufrecht erhalten, wenn man linke und rechte Denkkonzepte, die schon vor der entsprechenden Sitzordnung den politischen Diskurs beeinflusst haben, ignoriert. Und wenn man die Geschichte des Verdrängungskampfes zwischen Bürgerlichen und Adligen vollständig ausblendet und so tut, als wäre der Konservativismus die Radikalisierung des Liberalismus, was natürlich Quatsch ist. Wieso soll der gemässigte Konservative weiter rechts sein als der radikale Liberale? Und je weiter rechts, desto Nazi? Und wo ist denn die ominöse Verbindung zwischen den Konservativen und den Nazis? Churchill, ein radikal Konservativer, hat die Nazis erwiesenermassen gehasst wie die Pest, während Stalin Hitler niemals die Freundschaft aufgekündigt hätte, wenn dieser nicht so blöd gewesen wäre, die Sowjetunion anzugreifen. Und wenn man die Nazis - oh die bösen Rechten! - ganz weit rechts einordnet, fast schon jenseits des äussersten rechten Randes, wo es über die Tischkante hinausgeht: wo gehören dann die Marktradikalen hin? Wo stehen die radikal Liberalen in einem Schema, das den Liberalismus in die Mitte rückt? Im Vergleich zu Margaret Thatcher war Hitler ein Gemässigter, wenn man als Bezugsgrösse die Marktwirtschaft nimmt. Und genau diese Bezugsgrösse ist im Liberalismus sehr wichtig. Liberal heisst immer auch marktwirtschaftlich. Wir sehen es schon an diesen wenigen Beispielen: der "eingemittete" Liberalismus richtet ein totales Durcheinander an. Was seiner Popularität keineswegs abträglich ist. Seine Stärke ist seine Einfachheit, die Art und Weise, wie er Komplexität verkürzt oder sogar beseitigt. Man kann ihn auf einer einzigen Zeile unterbringen.

 

Rechtsextrem-Konservativ-Liberal-Linksliberal-Linksextrem

 

Definiert man den Liberalismus als Achse zwischen Links und Rechts, muss man die wesentlichen Charakteristika von Links und Rechts gehörig verbiegen. Für die Linken ist Freiheit im Sinne von Liberalität (nicht zu verwechseln mit libertären Ansichten, die sowohl links wie rechts sein können) kein tragendes Kriterium. Für die Rechten schon. Warum aber ist Liberalität eine Haltung, die man dem rechten Spektrum zuordnen muss? Liberalität bedeutet, dass ich mich unter dem Schutzschirm eines Staates, der die Übergriffe anderer auf meine persönlichen Freiheitsrechte abwehrt, frei entfalten kann. Andererseits bedeutet es auch, dass sich der Staat so weit wie möglich zurückhält. Liberalität schützt meine Freiheiten auch vor dem Staat. Sie verhindert dessen Allmacht. Staatliche Zugriffsmöglichkeiten können weich sein, gutdemokratisch abgefedert, und trotzdem fühlt sich der Liberale im Recht, wenn er sie kritisiert. Wenn ein überfürsorgliches oder überängstliches Kollektiv die persönlichen Freiheiten einzuschränken versucht, um den Einzelnen vor sich selber zu schützen, gerät der Liberale in Harnisch. Auch als Nichtraucher ist er gegen Rauchverbote und für das Rauchen als wählbare Option der Unvernunft, weil er für die Entscheidungsfreiheit ist. Und weil er die Frage der Rücksichtnahme (Passivrauchen) lieber dem Ermessensspielraum und Verantwortungsgefühl des Einzelnen überlässt als irgendeiner allwissenden Obrigkeit. Der Liberale widerspricht einem Staat, der seine Bürger erziehen möchte und ihnen die persönliche Verantwortung abnimmt, indem er Richtig und Falsch vordefiniert wie in einer "Häfelischule". Nach liberalem Verständnis muss die Mündigkeit (Entscheidungsfähigkeit) des Bürgers vorausgesetzt werden, sonst sägt sich der freiheitliche Staat vom Ast ab, auf dem er sitzt. Er wird zum überfürsorglichen "Nanny State", für den Liberalen eine Vorstufe zur Diktatur. Der liberale Einspruch wendet sich sowohl gegen die Konservativen als auch gegen die Linken. Was auf linker Seite zu einem "Nanny State" führt, führt auf der konservativen Seite zu einem paternalistischen Überwachungsstaat, der das Privatleben seiner Bürger dem Staatsschutz unterordnet. Der besitzergreifende Staat findet seine Anhänger sowohl links wie rechts. Wobei die heutigen Konservativen - vor allem in der Schweiz - bei weitem nicht mehr so staatsgläubig sind wie noch in der Nachkriegszeit. Viele Konservative haben eine eher lockere Bindung an den Staat, etwa die Liberal-Konservativen oder die traditionalistischen Super-Föderalisten, die zum Teil sogar libertär sind, regelrecht staatsfeindlich. (Einem konservativen Walliser Freizeitjäger dürfte es ziemlich egal sein, was die Bundesbehörde über die Tierschutzkonvention sagt). Bei den Linken sind die Staatsgläubigen vor allem diejenigen, die dirigistisch und autoritär eingestellt sind. Da die Linken den Staat einem egalitären Prinzip unterwerfen, sind sie vom echten Liberalismus weiter entfernt als die Konservativen, die in der standesgemässen Freiheit immerhin so etwas wie einen kleinen exklusiven Liberalismus kultivieren, sei das nun am Eidgenössischen Schwingerfest oder auf der Walliser Bergjagd. Kollektivismus, Bevormundung, Gleichschaltung: solche Tendenzen sind links, und sie widersprechen den liberalen Idealen zutiefst. Liberalismus ist also ein rechtes Projekt, wenn auch eines, das mit anderen rechten Projekten - zum Beispiel der Staatsauffassung der Konservativen - in Konkurrenz steht. Auf jeden Fall ist der Freiheitsgedanke kein zwingendes Kriterium der Mitte. Denn es gibt auch Freiheitsextremisten, zum Beispiel Neoliberale. Die Frage ist natürlich, wie man Freiheit definiert. Nach neoliberalem Verständnis bedeutet Freiheit, dass die Vermögenden die Freiheit haben, auf Kosten der weniger Vermögenden noch mehr Vermögen anzuhäufen. Der gemässigte Liberale definiert Freiheit nicht ganz so einseitig. Und trotzdem tendiert er eher nach rechts als nach links: insofern er Freiheit als Ego-Projekt definiert. Und das Ego steht rechts. Wenn die Freiheit im linken Spektrum auftaucht, zum Beispiel als Slogan für einen Freiheitskampf oder eine Emanzipationsbewegung, handelt es sich um einen Kollektivanspruch, dem sich der Einzelne unterzuordnen hat. Individuelle Freiheit steht rechts, und auch diese Freiheit hat natürlich ihre Grenzen. Normalerweise zieht man diese Grenzen dort, wo die Freiheit des Nächsten tangiert wird. In der Realität ist das allerdings gar nicht so einfach. Die Kantische Freiheitsformel ("Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des andern beginnt") lässt ausser acht, dass Freiheit keine Sache ist, sondern ein Verhältnis. Freiheit ist keine Leine, die dort aufhört, wo der Nächste seine eigene Freiheit verwirklicht, sondern ein Vertragsverhältnis, das die Freiheiten der anderen zwangsläufig einschränkt. Eine Freiheit nehme ich gegen eine bestimmte Gegenleistung in Besitz. Und dann gehört sie mir und niemandem sonst. Und das ist auch der Grund, weshalb die Linken mit ihrer Auffassung von Freiheit so oft scheitern. In der Realität gibt es keine Freiheit, die niemanden einschränkt, und es gibt auch keine Freiheit für alle, eine schön abgemessene, wohl verteilte Freiheit, die man wie einen Kuchen gerecht proportionieren kann, so dass niemand zu kurz kommt oder leer ausgeht. Es gibt immer nur eine Freiheit für den Einzelnen, und diese Freiheit ist individuell. Es gibt nicht Freiheit, wie es Wasser oder Luft gibt. Freiheit ist immer ein Geschäft, das man eingeht, indem man etwas dafür bezahlt oder leistet. Wofür und in welchem Rahmen man sich "frei" entscheiden kann, hängt von vertraglichen Optionen ab.

 

In dieser Hinsicht ist der Liberalismus schonungslos realistisch und pragmatisch, ganz auf die Lebenspraxis bezogen. Und das kommt ja nicht von ungefähr. Wenn jemand etwas von Freiheit versteht, dann der Liberale. Der Name sagt es ja schon: Liberalismus ist eine Sache, die sich der Freiheit verschrieben hat. Nicht irgendeiner Freiheit oder der abstrakten Freiheit des Ballonfahrers, der alles von oben sieht, einer utopischen Freiheit, wie man sie häufig im Sprachgebrauch der Linken findet, sondern der ganz normalen, für jeden und jede individuell realisierbaren Freiheit im sozialen Geben und Nehmen. Definiert man, wie im Liberalismus üblich, individuelle Freiheit als eigennütziges "Agreement", als freies Unternehmertum, meint man immer eine arrangierte oder vertragliche Freiheit. Eine Freiheit, die mir zugesichert wird, weil ich meinerseits eine Zusicherung gebe. Ich kann eine Freiheit erwerben, eine andere Freiheit wiederum nicht, und jede Freiheit hat eine andere Beschränkung. Und jede Freiheit beschneidet zwangsläufig das Spektrum der Freiheiten, die jemand anderer erwerben kann. Freiheit ist also immer eine Sache von Soll und Haben, etwas Buchhalterisches. Sobald jemand eine Freiheit geniesst, entsteht für die andern eine potentielle Unfreiheit. Wenn ich zum Beispiel im Freibad mein Badtuch ausbreite, um mich zu sonnen, nehme ich meinen Mitmenschen diesen Platz weg. Ich beanspruche ihn für mich. Albert Camus, der Philosoph der existentiellen Freiheit, legt seinem Caligula ein Statement in den Mund, das jeder Liberale unterschreiben könnte: "Man ist immer auf Kosten eines anderen frei. Das ist absurd, aber normal." Normal ist es auch deshalb, weil es auf alltäglichen Absprachen beruht, auf Verträgen, Konventionen, Gesetzen, Normen etc. Solche Absprachen verbürgen uns gewisse Freiheiten, so wie sie auch gewisse Freiheiten einschränken oder sogar annullieren. Wenn ich aufgrund einer bestimmten Vertragssituation die Freiheit erhalte, Bauland zu erschliessen und ein Haus zu bauen, hat jemand anderer genau diese Freiheit nicht. Am gleichen Ort ein Haus zu bauen, ist ihm verwehrt. Und das ist völlig in Ordnung. Gehe ich ein Lohnverhältnis ein, bekomme ich die Freiheit, ein neues Sofa zu kaufen. Mein Mitbewerber, der meine Stelle nicht bekommen hat und immer noch arbeitslos ist, hat nun diese Freiheit nicht. Ihm habe ich sie weggenommen, und er muss sich nun andere Wege oder Arrangements suchen, wenn er ein neues Sofa kaufen will. Solche Arrangements sucht auch der Halsabschneider und Bandit. Auch er nimmt jemandem etwas weg. Auch er macht Gebrauch von der elementaren marktwirtschaftlichen Freiheit, andere an den Rand zu drängen, unterzubuttern oder zu übervorteilen. Es ist die gleiche existentielle Freiheit, von der Camus Caligula Gebrauch macht, der Superschurke, der die persönliche Freiheit auf die Spitze treibt: weil er es kann. Dieses Können ist sehr unterschiedlich verteilt. Nicht jeder ist ein Caligula, nicht jeder besitzt die Macht eines Cäsaren, und nicht jeder kann die gleichen Freiheiten verwirklichen. Aber jede Freiheit ist auch eine Unfreiheit - oder sogar eine Freiheitsberaubung. Wer Freiheit als eine persönliche Sache definiert, als liberale Freiheit, kann und muss sich über die Freiheiten der anderen hinwegsetzen: manchmal mehr, manchmal weniger. Für den Kriminellen ist Liberalität etwas Selbstverständliches. Der Liberale kann ein guter Mensch sein, aber als Krimineller braucht er seine Liberalität keineswegs abzustreifen. Die Freiheiten anderer Menschen muss er - entgegen der Kantischen Formel - nicht zwingend respektieren. In der Realität funktioniert diese Formel nicht. Sie funktioniert nur unter der abstrakten Annahme, dass alle Menschen die gleichen Bedingungen haben. In der Realität ist das jedoch nicht der Fall. Die Menschen sind schon von Natur aus ungleich, und eine Freiheit "für alle" gibt es dementsprechend nicht. Es gibt keine Freiheit, die niemanden benachteiligt. Oder auf die sprichwörtliche Matte schickt. Liberalismus bedeutet, dass es nicht unfair ist, wenn ein Elfjähriger gegen einen Erwachsenen zum Ringkampf antritt: die "gleich langen Spiesse" gibt es in einer freien Wirtschaft nicht. Und auch nicht im sonstigen Leben. Und so gesehen taugt der Liberalismus durchaus als Blaupause für jede Form von Kriminalität. Der Unterschied zwischen einem Mafioso und einem seriösen Geschäftsmann besteht lediglich darin, dass der eine die Regeln etwas freier auslegt als der andere. Liberale Freiheit ist also immer eine graduelle Sache. Und vor allem eine relationale Sache. Liberal ist, wer auf Grundlage gewisser "Agreements" seine Interessen verfolgt, seine Geschäfte abwickelt und der Konkurrenz das Wasser zu reichen oder abzugraben versucht. Der Liberale sucht seinen Vorteil - und erlangt diesen oft dadurch, dass er seine Konkurrenten auf die Matte schickt. Wo es Gewinner gibt, gibt es auch Verlierer. Wo es Wohlstand gibt, gibt es auch Armut. Liberale Freiheit bedeutet, dass es nichts absolut Gutes gibt - und auch keine absolute Freiheit. Jede Freiheit, jeder Vorteil, jeder Gewinn ist relativ zu sehen.

 

Die linke Auffassung von individueller Freiheit ist eine völlig andere. Bei ihr geht es oft nur darum, aus der Reihe zu tanzen. Man markiert damit sein Anderssein. Es ist eine Freiheit des Widerstands, die Freiheit einer utopischen Weltsicht. Obwohl ich selber nie ein Linksaktivist gewesen bin, kenne ich das aus meinem früheren Bekanntenkreis noch recht gut: die linke Protest- und Gammler-Mentalität mit ihrem Ideal der Selbstverwirklichung und der persönlichen Autonomie. Der Linksautonome mag ein Individualist sein, und doch taugt seine Auffassung von Freiheit nur als Protest oder Kontrast. Man ist damit immer nur gegen etwas. Man will damit ein Joch abschütteln, eine Normierung aufbrechen, eine tatsächliche oder eingebildete Unterdrückung beenden. Der linksorientierte Jugendliche hat ein ideales Fahrwasser gefunden, weil er den libertären Wunsch, sich von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, sehr leicht mit dem linken Utopismus verschränken kann. Das Utopische ist ein Luftgespinst, etwas Unverbindliches, das zu nichts verpflichtet, aber als Abgrenzungsmerkmal trotzdem gute Dienste leistet. Es verhindert, dass man von den Mächtigen vereinnahmt wird. Es ist eine Art Sahnehäubchen für die Rebellion gegen die Welt der Erwachsenen, die in der Regel auch die Machthaber sind. Das Sahnehäubchen ist aber nicht das Wesentliche. Im Grunde genommen ist diese Haltung eher libertär als links. Siehe Schwarzer Block. Der Linke ist ja nicht per se staatsfeindlich, der Libertäre schon. Der Linke findet den Polizeistaat völlig in Ordnung, sofern es ein linker Polizeistaat ist, während der Libertäre der Staatsgewalt gegenüber ziemlich dünnhäutig eingestellt ist. Der Libertäre lehnt den linken Staat genauso ab wie den rechten. Sein wunder Punkt ist die Hoheit der staatlichen Befugnisse, nicht die Art und Weise, wie sie zustande kommen oder im Einzelfall gebraucht oder missbraucht werden. Ein Linker mit Macht und Verantwortung ist etwas grundsätzlich Anderes als ein Linker ohne Macht, der die Macht bekämpft und nur gerade für sich selbst verantwortlich ist, wenn überhaupt. Ausserhalb der linksautonomen Subkultur sind diese beiden Welten kaum miteinander zu vereinbaren. Der Libertäre ist immer Individualist, und Individualismus entfaltet sich auf linker Seite nur im Anarchismus. Sobald daraus ein Machtsystem entsteht, ist es mit dem Individualismus vorbei. Und selbst wenn man sich konsequent von der Macht fernhält, ist es immer nur ein Individualismus auf Zeit, ein Individualismus auf Widerruf. Der linke Anarchist ist allermeistens darauf aus, Gleichgesinnte zu finden, um früher oder später eine Bewegung anzuführen. Oder Teil einer Kommune zu werden. Radikal "sich selbst verwirklichen" kann ein Linker eigentlich nicht. Ohne die Verpflichtung durch ein Kollektiv ist er ziemlich aufgeschmissen. Diesbezüglich hat der Liberale die Wahl: als Libertärer kann er zum Bankräuber werden, der das erbeutete Geld auf den Bahamas eigensüchtig verprasst. Auf der autoritären oder gesellschaftskonformen Seite kann er auch Bankdirektor werden und sich als Teilhaber eines Kollektiv legitimieren, als wertvolle Stütze der Gesellschaft, und er kann dabei ohne weiters in die eigene Tasche wirtschaften. In einem liberalen System ist das erlaubt - und sogar erwünscht. Egoismus und Raffgier gehören zur liberalen Auffassung von Freiheit, und sofern der Bankräuber kein Robin Hood ist und nicht aus edlen Motiven handelt, verfolgt er das gleiche Ziel wie der Bankdirektor. Beide verwirklichen sich selbst, indem sie sich in die Lage versetzen, ein beträchtliches Vermögen auf Kosten anderer anzuhäufen. Der Liberalismus ist so ambivalent wie der menschliche Egoismus. "Bankraub ist eine Unternehmung von Dilettanten. Wahre Profis gründen eine Bank." Dieses Brecht-Zitat darf hier natürlich nicht fehlen. Es bringt den liberalen Freiheitsbegriff auf den Punkt.

 

Eine liberale Gesellschaft tendiert immer zu einer Zweiklassengesellschaft, in der es längerfristig nur noch ein paar wenige Superreiche und eine riesige Menge armer Schlucker gibt. Für die Liberalen wäre es natürlich das schönste Wunschkonzert, wenn sie sich als Wächter der bürgerlichen Freiheit in der wohltemperierten Mitte zwischen Links und Rechts präsentieren könnten, fernab von jedem Extremismus. Aber auch bei den Linken finden wir dieses Wunschdenken. Die Linken verschieben die Mitte gerne ein bisschen nach links, damit jeder ein Nazi ist, der zwei Schritte weiter rechts steht. Und so verfährt man auch mit dem Liberalismus. Wieso ihn nicht als die goldene Mitte oder sogar als freiheitliche linke Kraft definieren? War nicht auch Rosa Luxemburg ein bisschen liberal? Ein klitzekleines bisschen zumindest? Liberalismus ist wie ein Stück Gummi. Jeder knetet sich etwas daraus zurecht. Die Motive sind verständlich, gerade bei den Linken. Die meisten Linken wollen liberal sein. Wenigstens so weit wie möglich. Liberal ist cool. Liberal ist sexy. Das Gegenteil von cool und sexy ist der sozialistische Bürokrat, der graue Apparatschik mit der Hornbrille und dem Wackeldackel auf dem Stasi-Schreibtisch. Verwalteter Kollektivismus ist leider nicht so cool und sexy - und verkauft sich dementsprechend schlecht. Um sich zu "pimpen", machen die Linken gerne ein bisschen auf liberal, und sie müssen dabei nicht mal ihre Ideologie verraten. Liberalität bedeutet Weltoffenheit. Ein Ideal, das sich mit dem linken Internationalismus gar nicht so schlecht verträgt. Dabei handelt es sich jedoch um eine Aneignung. Oder vielleicht auch um einen historischen Reflex, der damit zu tun hat, dass der gemässigte oder demokratische Sozialismus aus dem monarchiefeindlichen Liberalismus hervorgegangen ist. Das ist eine Verwandtschaft, die immer mal wieder zutage tritt, etwa wenn die Linken und die Liberalen unter einem einzigen Banner gegen die böse SVP oder die noch böseren konservativen Katholiken ins Feld ziehen. Es ist eine Verwandtschaft und sicher ein Zweckbündnis, aber keine Gleichheit. Die Linksliberalen sind - wie die Nationalsozialisten - eine hybride Mischung aus Links und Rechts. Oder eine Erscheinung der Mitte, was mit der Hufeisenform einigermassen kompatibel wäre. Der Liberalismus selbst - dafür spricht sein Menschenbild des souveränen Einzelnen - steht einwandfrei rechts. Der konservative Liberale ist eine Mischform, und auch die steht rechts. Und obwohl man hier durchgehend im rechten Spektrum operiert, findet man für die Nationalsozialisten nirgends ein Plätzchen. Sie passen nirgends hinein: weil das Schema der Hufeisenform unvollständig oder sogar falsch ist. Und weil die Nazis - entgegen der üblichen Einordnung - nicht wirklich Rechtsextreme gewesen sind. Um herauszufinden, weshalb die Nazis korrekterweise in die Mitte gehören, müssen wir das Links-Rechts-Schema noch besser aufschlüsseln.

 

Die Bestimmung der politischen Position ist etwas Mathematisches. Sie ergibt sich aus einer Mischrechnung. Und bei den Nazis ist diese Mischrechnung eine verwirrende Synthese aus zwei Extrempositionen. Die Nazis waren rechtsextreme Sozialisten. Wie der Name der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" ja schon verrät: eine durchaus präzise Selbstdeklarierung. Rechts waren die Nazis insofern, als sie das völkische Denken reaktionärer Gruppierungen übernommen und vereinheitlicht haben. Mit den Konservativen haben sie anfänglich zusammengespannt. Dabei muss man jedoch sehen, dass die Konservativen der Weimarer Republik mit ihrer antirepublikanischen und revolutionären Gesinnung alles andere als typische Konservative gewesen sind. Deutschland war diesbezüglich ein Sonderfall, der bis heute dazu verleitet, die Konservativen als ideologische Wegbereiter der Nazis zu sehen, was schlicht falsch ist. Man kann sogar sagen - und viele Historiker würden das unterschreiben - dass keine politische Ideologie weiter von den Nazis und dem sozialistischen Rechtsextremismus entfernt ist als der Konservativismus. Ein Konservativer als Sozialist? Unmöglich! Die Quadratur des Zirkels! Im Konservativen steckt also bestimmt kein Nazi, nicht mal der Möglichkeit nach. Was die Nazis zu Nazis gemacht hat, das heisst zu einer totalitären Bewegung, war nicht der extreme Konservativismus, sondern der Spagat über die Mitte hinweg zum Sozialismus. Die damalige Ständegesellschaft haben die Nazis radikal beseitigt. Nicht anders, als es die Bolschewisten in Russland getan haben. Und insofern standen die Nazis nicht nur in einem scharfen Gegensatz zu den Konservativen, sondern auch zu den Reaktionären und deren Glorifizierung der Vergangenheit. Die Nazis waren progressiv, nicht rückwärtsgewandt. Sie wollten das Zeitrad nicht zurückdrehen. Sie wollten nicht den Kaiser zurückholen, um das alte deutsche Reich wiederherzustellen.

 

Im Zusammenhang mit den Nazis gibt es noch ein weiteres Missverständnis, das fast ebenso unverwüstlich ist. Es ist die gängige Ansicht, Nazis und Sozis seien politische Antipoden gewesen. Mit Hilfe der sogenannten Dimitroff-Formel, die im Kommunismus der Nachkriegszeit häufig zur Staatsdoktrin erhoben wurde, hat man den Faschismus zu einem Universalbegriff erweitert, der auch Kapitalismus und Imperialismus einschloss. So schuf man einen einheitlichen abstrakten Feind, den "Faschisten" in Anführungszeichen. Und so liess sich alles Nicht-Sozialistische als "faschistisch" brandmarken: Kapitalisten, Imperialisten, Konservative, Liberale. Alles Faschisten! Und die einzige Opposition dagegen stand links und hiess "Antifaschismus". Eine ideologische Geschichtsklitterung, die bis heute nachwirkt. Die Nazis waren nicht das Gegenteil der Sozialisten. Sie waren deren Abwandlung. Die eine Bewegung war ein Ableger der andern. Und die Feindschaft zwischen Sozis und Nazis war und ist die Feindschaft von nah Verwandten und ideologischen Konkurrenten. Insofern ist es extrem problematisch, die Nazis am rechten Rand einzuordnen. Und noch problematischer ist es, wenn man sie als Steigerungsform der Konservativen darstellt. Dann fallen die Marktradikalen völlig aus dem Schema heraus. Und Margaret Thatcher, die zweifellos an den rechten Rand gehört, steht dann irgendwo in der Mitte. (Dann lieber Hitler! Wenn man Thatchers Handtasche mit Hitlers V2-Rakete vergleicht, erscheint die Rakete relativ harmlos). Noch schlimmer wird es, wenn man Links mit Progressiv und Rechts mit Konservativ gleichsetzt. Das hätten die Linken wohl gerne! Deren Wunschdenken hilft aber nicht weiter, wenn man das Ganze sehen will. Parteiisch eingefärbte Perspektiven verfälschen das Links-Rechts-Schema sowieso.  Links und rechts sind Adverbien, die gegensätzliche Richtungen anzeigen, aber keine fixen Standorte. Entsprechend wacklig und schwammig sind die Zuordnungen. Deshalb bringt es nichts, Links und Rechts schon zum voraus an gegensätzliche Begriffe zu knüpfen, die sich dann meistens gar nicht so logisch auf Links oder Rechts reduzieren lassen. Will man sich zwischen Links und Rechts zurechtfinden, kommt man mit dem Begriffspaar "Konservativ-Progressiv" nicht sehr weit. Und genauso untauglich ist das Begriffspaar "Liberal-Konservativ", das wie viele andere politischen Begriffspaare häufig dazu missbraucht wird, diese oder jene Position auf- oder abzuwerten, damit beispielsweise klar wird, dass alle wunderbar liberal sind ausser der ewig verstockten, sich überall querstellenden SVP. Vor dem Hintergrund eines Abstimmungskampfes sind solche Zuordnungen verständlich, es ist Polemik. Aber als Beschreibung tatsächlicher politischer Ideologien taugen sie nichts. Die wirklich bestimmenden und fest verankerten Kriterien von Links und Rechts liegen ganz woanders.

 

Der typische Linke setzt den planbaren Menschen und die planbare Gesellschaft voraus. Darin liegt der Gedanke der Gleichheit und Berechenbarkeit. Berechenbar sind nur Menschen, die irgendwie gleich sind. Deshalb geht der Linke nicht vom Einzelnen aus, sondern vom Kollektiv, in welchem sich eine gewisse Gleichheit und damit auch Kontrollmöglichkeit verwirklichen lässt. Das Kollektiv nimmt er als Massstab für den Einzelnen. Das Ego soll im Kollektivismus überwunden werden. Erst auf dem Spielfeld einer allumfassenden sozialen Berechenbarkeit wird der Einzelne - wie eine Figur auf dem Schachbrett, die nur in Kombination mit anderen Figuren das Spiel beeinflussen kann - zu einem wertvollen Subjekt. Alle für einen, einen für alle, könnte die linke Devise lauten. Der typische Rechte dagegen glaubt nicht, dass man die Gesellschaft oder den Menschen aus dem Nichts heraus und nach abstrakten Prinzipien formen kann. Die Verhältnisse sind für ihn von Natur aus gegeben. Es ist alles schon da, und jetzt liegt es an jedem Einzelnen, etwas aus sich und den bestehenden Möglichkeiten zu machen. Und so ist das oberste Ziel nicht das ideale Kollektiv, sondern die Selbstverwirklichung. Was zählt, ist das Individuum, das Ego. Und in einem erweiterten Sinne auch das Ego der angestammten (naturgegebenen) Gruppe, durch sie sich der Einzelne eine Identität verschafft. Im rechten Weltverständnis ist der Einzelne aufgehoben in dem, was schon da ist, in einem geschichtlichen Raum oder in einem Verwandtschaftsgeflecht, etwa in der Beziehung zu den Vorfahren, oder in einem sozialen Körper, der sich von anderen sozialen Körpern abgrenzt, indem er sich als etwas Eigenes und Einzigartiges begreift. Das Kollektiv wird hier quasi individualisiert. Damit stellt der Rechte das linke Denken auf den Kopf. Er nimmt den Einzelnen als Massstab für das Kollektiv. The winner takes it all, könnte seine Devise lauten. Oder in Bezug auf das Kollektiv: Alle sind gleich. Doch manche sind gleicher.

 

Ob jemand eher links oder rechts ist, erkennt man am jeweiligen Menschenbild. Erkläre mir das Wesen des Menschen, und ich sage dir, ob du ein Linker oder Rechter bist. Ist der Mensch ein Naturwesen, das exakt so ist, wie es sein soll? Und das idealerweise seine naturgegebenen Anlagen verwirklicht? Und das sich nicht nur durch seine individuellen Eigenarten von den andern unterscheidet, sondern auch durch seine Zugehörigkeit zu einer angestammten Gruppe, sei das nun die Nation, der Volksstamm, der gesellschaftliche Stand oder die Familie? Dann handelt es sich um den Menschen, wie ihn die Rechten sehen. Oder ist der Mensch etwas Unfertiges und Falsches, das man vervollständigen und korrigieren muss, um das ideale Gesellschaftswesen zu erhalten? Und ist dieses Gesellschaftswesen, das quasi ohne Naturvorgabe frei geplant und verwirklicht werden kann, möglichst gleichgestellt mit seinen Mitmenschen, mit möglichst wenigen Unterschieden und Eigenheiten? Dann handelt es sich um den Menschen, wie ihn die Linken sehen.

 

Die Gleichheit der Menschen kommt übrigens in beiden Denkrichtungen vor. Bei den Linken steht sie am Ende, bei den Rechten am Anfang. Für die Linken ist die Gleichheit der Menschen ein Zukunftsprojekt. Ein Projekt sozialer Befriedung. Dort führt alles hin. Das soziale Gefälle - die Kluft zwischen Bettler und Manager - soll überwunden werden. Und am Schluss winkt das Paradies. Für die Rechten ist die Gleichheit der Menschen etwas Ursprüngliches, ein Naturzustand, aus dem heraus sich zwangsläufig Unterschiede ergeben. Diese Unterschiede differenzieren den Menschen und die Gesellschaft aus. Alle kommen wir nackt und schrumplig zur Welt. Alle haben wir zwei Augen und zwei Nasenlöcher. Aber in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die uns formen und auf die wir einwirken, werden wir dann zu Bettlern oder Managern, zu Zirkusartisten oder Soldaten. Und für die Rechten ist das völlig okay. Auch die Selbstverwirklichung ist sowohl links wie rechts ein Schlüsselbegriff. Allerdings mit völlig gegensätzlichen Zielrichtungen. Während der Rechte die angeborene Menschennatur als Ursprung einer Selbstverwirklichung ansieht, die zwangsläufig Differenzen und Konflikten hervorbringt, begreift der Linke die Selbstverwirklichung als voranschreitende Überwindung von Differenzen und Konflikten. Er verwirklicht sich im Hinblick auf ein utopisches Kollektiv. Wobei er nicht davor zurückscheut, jeden anzufeinden, der sich dieser Utopie verweigert. Oder sie anders auslegt als er selbst. Was dann erst recht zu Differenzen und Konflikten führt.

 

Die beiden Menschenbilder wurzeln in unterschiedlichen Denktraditionen, die natürlich immer auch mit bestimmten Gesellschaftsauffassungen verbunden sind. Die Rechten glauben an einen universalen "Naturzustand". In der liberalen Spielart ist die menschliche Natur etwas Positives, ja Vollkommenes. Je weniger man daran herumdoktert, desto besser. Die Natur weiss selber, was gut für sie ist. Nach liberaler Auffassung wächst sie automatisch ins Licht, und was man dazu beitragen kann, hat im wesentlichen mit Toleranz zu tun: man soll es zulassen. Darin liegt das liberale Laissez-faire begründet. Es besagt, dass die menschliche Natur nicht verbesserungsbedürftig ist. Wenn man sie nicht vermurkst, tendiert sie immer zum Optimum. Dementsprechend lax urteilt der Liberale über Gut und Böse. Er lässt fünf gerade sein. Das Gute, davon ist er überzeugt, kann man nicht erzwingen, und das Böse ist nur die Abwesenheit des Guten. Dem widerspricht der Konservative. Für ihn ist die menschliche Natur problematisch, weil er sie für unzulänglich hält. Doch mit Disziplin und Teamgeist, so seine Überzeugung, lässt sich etwas daraus machen. Die Natur ist für ihn nur das Material. Ein an sich minderwertiges Material. Die entscheidende Frage ist, was man daraus macht. Der Konservative misstraut der menschlichen Natur. Aber er lehnt sie nicht ab. Er möchte sie zähmen und kultivieren. Wenn er sie trotz seinen Bedenken als positiv ansieht, dann deshalb, weil er davon ausgeht, dass sie tatsächlich kultivierbar ist. Dass sie am Spalier von Normen und Werten gedeihen und Früchte tragen kann. Glaubt der Liberale, das Gute liege in der ursprünglichen Natur, so glaubt der Konservative, das Gute liege in der ursprünglichen Gärtnerkunst. Und das ist denn auch die grosse Gemeinsamkeit. In beiden Haltungen drückt sich eine Bejahung des Ursprünglichen aus. Die Annahme eines positiven Urzustandes, sei das nun die menschliche Natur oder die ursprüngliche Gemeinschaft, stammt aus der vorchristlichen Antike und wurde von modernen Denkern wie Rousseau und Nietzsche neu aufgelegt. Es waren aber hauptsächlich Engländer, die dieses Denken in die Politik eingeführt haben. Bei John Locke, der die menschliche Freiheit und ihr Vorrang vor dem Kollektiv erstmals mit dem "Naturzustand" begründet hat, wurde es zum Liberalismus. Hier sind die Menschen gleich; aber nur vom Einzelnen her betrachtet. Vom blossen Menschsein her. Gleich sind die Menschen in ihrem Status als eigenverantwortlich handelnde, selbständig denkende, schöpferische Wesen: das liberale Credo der gleichen Ausgangsbedingungen. Das auch den freien Handel ermöglicht, den Wettstreit um den grössten Profit, die Marktwirtschaft mit ihrem ganzen Empowerment, das eine Reihe von Ungleichheiten und Unfreiheiten nach sich zieht: die hinlänglich bekannte Ausbeutung menschlicher und materieller Ressourcen. Andererseits beruhen auch die Menschenrechte auf dem Liberalismus. Die Auffassung, dass alle Menschen "frei und gleich an Würde und Rechten geboren" sind, wie es in der Deklaration der Menschenrechte heisst, entspringt dem liberalen Glauben an die gute menschliche Natur. Es sind also nicht die Linken, sondern die Liberalen, die die Menschenrechte in die Welt gebracht haben. Das Menschenbild der Konservativen ist, wie schon angedeutet, eher pessimistisch. Anders als die Liberalen und erst recht die Linken orientieren sich die Konservativen nicht an abstrakten Prinzipien, sondern an ganz bestimmten realpolitischen Erfahrungen. Edmund Burke, der vielzitierte Stammvater des konservativen Denkens, geht von einem grundsätzlich unfähigen und eigensüchtigen Individuum aus. Hierbei bezieht er sich auf seinen Landsmann Hobbes, bei dem die Menschen "einen Krieg aller gegen alle" führen, wenn sie nicht an die Kandare genommen werden. Hobbes greift seine Ansichten nicht aus der Luft, sondern schöpft sie aus einer Analyse der politischen Wirren seiner Zeit. Hobbes Realitätssinn nimmt Burke zum Vorbild, wenn er die Menschen in einen starken Staat einbinden will. Ausserdem definiert er die Menschen als unterschiedlich, womit er Locke relativiert und dessen Offenheit - den liberalen Weltbezug - zurückstuft. Die angeborene Ungleichheit, so Burke, gebe dem Staatswesen die Möglichkeit, auf unterschiedliche Anlagen und Fähigkeiten zuzugreifen. Nach diesem Verständnis verwirklicht der Mensch seine gute Natur erst als Staatsbürger im Zusammenspiel mit andern Staatsbürgern, in einer organischen Gemeinschaft, in der die gesellschaftlichen Unterschiede gewahrt bleiben. Nun ist aber Burke kein reaktionärer Denker. Die Gesellschaft, die ihm vorschwebt, soll auf festen Werten gegründet, aber gleichwohl wandlungsfähig sein. Eine intakte Gesellschaft, so Burke, könne sich nicht auf Widerstand fixieren. Sie müsse schöpferisch sein. Und gerade deshalb brauche sie einen festen Rahmen tradierter Werte und formaler Gepflogenheiten. Darin besteht bis heute das konservative Credo: so wie ein Tänzer festen Boden unter den Füssen braucht, braucht eine schöpferische Gesellschaft kollektive Verbindlichkeiten, die über blosse Gesetze hinausgehen: zum Beispiel gute Umgangsformen, Respekt vor dem Alter, Einhaltung der Sonntagsruhe etc. etc. Solche Verbindlichkeiten kann man am besten mit altmodischen Wörtern wie "Sitte" oder "Tugend" umschreiben. Ein Traditionalist, der solche Werte hochhält, schottet sich nicht zwingend gegen Veränderungen ab. Das ist eine ziemlich dumme Unterstellung, die der man den Konservativismus gründlich missversteht. Ein Verein, der seit 500 Jahren tätig ist, kommt nicht darum herum, seine Statuten hin und wieder zu revidieren. Gerade die lange Laufzeit schärft das Bewusstsein für sinnvolle Veränderungen. Der Konservative sperrt sich also nicht gegen Veränderungen. Das unterscheidet ihn vom Reaktionär, der jeden Fortschritt als bedrohlich wahrnimmt und das Zeitrad zurückdrehen will. Für den Konservativen ist die Sehnsucht nach der vermeintlich heilen Vergangenheit lediglich eine Folie, die er seinem politischen Gestaltungswillen unterlegt, um einem allzu stürmischen Fortschritt vorzubauen. Damit bezieht er Stellung gegen diejenigen, die die Gesellschaftsordnung umstürzen wollen. Und das können sowohl Linke wie Rechte sein. Egal ob es sich um marxistischen Protest, linksgrünliberale Regenbogentoleranz, rechtsradikales Geschrei oder neoliberales Profitstreben handelt: das alles geht auf Kosten der Sonntagsruhe. Auf Kosten des Altbewährten. Der Konservative liebt nun mal die Gemütlichkeit, und auf beiden Seiten des politische Spektrums - auch auf der eigenen, der rechten Seite - lauert die Revolution, das Gegenprinzip zum Konservativismus. Egal, um welche Ideale es geht: der Konservative ist keiner, der voranstürmt und Neues umarmt. Revolutionen sind ihm ein Gräuel. Alles abzuwehren, was nach Umsturz riecht, ist der natürliche konservative Reflex. Und solange der Konservative über diesen Reflex verfügt, ist er kerngesund und im Einklang mit sich selbst. Die Abneigung gegen jede Form von Radikalismus liegt in seiner DNA. Obwohl er selber auch nicht immer ein Musterbeispiel an Mässigkeit ist: das konservative Paradox. Seine Abwehrhaltung kann so übermächtig sein, dass er mit ihr in die Offensive geht. Seine heile Welt sieht er ständig bedroht. Die Gegenwart ist für ihn etwas Fauliges und Verletzliches. Er begegnet ihr mit Skepsis und Abwehr. Dadurch hält er das Bewusstsein wach, dass Neuerung nicht schon deshalb gut sind, weil sie neu sind. Sie müssen an etwas anknüpfen können. Und sie müssen an eine harte Währung gebunden sein, an einen Wert, auf den man noch setzen kann, wenn alles andere den Bach runtergeht. Insofern steht der Konservativismus auch für Kontinuität.

 

Während der Liberale die gute Natur des Menschen als Voraussetzung für ein freies Mit- und Gegeneinander ansieht, das auch den Konkurrenzgedanken hochhält, ist der Konservative davon überzeugt, dass der Mensch erst dann zum Guten findet, wenn er sich mit dem Staat oder der Bürgergesellschaft auf dem Boden verlässlicher Werte verbindet. Um die Verwirklichung einer Gleichheit aller Menschen geht es in beiden Ideologien nicht. Für diesen Ansatz muss man ein Erziehungsprojekt starten, das sowohl über den Einzelnen wie auch über die abgegrenzte Bürgergesellschaft hinausgeht. Man muss das menschliche Kollektiv als eine universale Grösse begreifen. Und damit wären wir wieder bei den Linken angelangt.

 

Das Menschenbild der Linken wurzelt in der Auffassung einer "sündhaft verdorbenen Natur", die man pädagogisch bearbeiten muss. Ausgangspunkt dieses Denkens ist nicht die Beobachtung der Realität wie bei Hobbes, sondern die eher abstrakte Annahme eines Bruchs mit dem paradiesischen Urzustand, den man wiederherstellen möchte. Dieses Denken kommt aus dem Christentum und wurde im Humanismus wie auch in der Aufklärung auf breiter Ebene säkularisiert. Der Mensch soll verbessert werden, und das geht natürlich nur, wenn es bei allen funktioniert. Also müssen die Menschen in ein Konzept der Gleichheit gebracht werden. Anders als bei den Liberalen ist diese Gleichheit kein Naturzustand. Sie ist noch nicht da. Sie muss erst noch verwirklicht werden, zum Beispiel durch Erziehung. Und anders als bei den Konservativen geht es nicht um eine bestimmte Wertegemeinschaft, in die sich der Einzelne einfügt, um ein vollwertiger Mensch zu werden, sondern um die Menschheit als Ganzes. Den Menschen an und für sich. Diesem Projekt der Menschheitsverbesserung verpflichtet waren die Vorläufer von Marx, die sozialistischen Utopisten. Die Menschheit verbessern wollte ursprünglich auch der Liberalismus, und eigentlich ist das immer noch sein Hauptanliegen. Superliberale Wohltäter wie Bill Gates oder Warren Bufet sind zutiefst davon überzeugt, dass der freie und freiheitliche Kapitalismus ein Segen für die Menschheit sei. Diesem Philanthropismus "von oben" steht ein Philanthropismus entgegen, der den absolutistischen Wohltäter anprangert. weil seine Wohltaten keinem gemeinschaftlichen Willen entspringen. Und trotzdem gibt es eine gemeinsame Herkunft: Sozialisten und Liberale verstehen sich mitunter recht gut. Der Sozialismus hat den Liberalismus über lange Zeiträume hinweg wie ein Schatten begleitet, und wie im Märchen von Hans Christian Andersen hat sich dieser Schatten, den man auch als das schlechte Gewissen der Liberalen bezeichnen könnte, irgendwann selbständig gemacht. Aber wo und wie ist das geschehen? Wo und wie ist der Liberalismus mit sich selber uneins geworden? Man kann das an einem einzigen Namen festmachen: Jean-Jacques Rousseau. Der Genfer Uhrmachersohn kann sowohl von Linken wie Rechten vereinnahmt werden. Manche seiner Ideen stehen eher links, andere eher rechts. Dennoch ist er zweifellos der erste sozialistische Denker. Sein zugleich aufgeklärter und aufklärungskritischer Utopismus war die Initialzündung für alles, was man unter dem Begriff "Sozialismus" zusammenfassen kann. Rousseau war der erste Aufklärer, der sich radikal gegen den aufgeklärten Liberalismus und dessen kapitalistische Korrumpiertheit gewandt hat: gegen den Fortschritt um der Bereicherung willen, gegen Raffgier, Selbstsucht und Luxusliebe. Und vor allem gegen ein Herrschaftssystem der Vermögenden, egal, ob das nun Neureiche oder Adlige waren. Das alles hat Rousseau gegeisselt. Nicht nur mit seinen spartanischen Vorstellungen von Sitte und Moral, sondern auch mit seinen bahnbrechenden politischen Ideen legte er den Grundstein für das moderne linke Denken. Als einer der ersten hat er die Gesellschaft als politisches Subjekt gesehen. Anstatt sich dem Recht des Stärkeren oder einer bloss gottgefälligen Herrschaft zu beugen, sollte sich die Gesellschaft selber regieren, und zwar auf der Grundlage des "Gemeinwillens", des "Volonté générals", wie Roussseau das nannte. Damit erklärte er die natürliche Ungleichheit zwischen den Menschen, das bisherige Kriterium für JEDE Gesellschaftsordnung, für ungültig: alle Macht müsse von unten kommen und auf einem Gleichheitsprinzip beruhen. Ein Gedanke mit ungeheurer Sprengkraft. Rousseaus Name lief wie eine Schockwelle durch Europa, sein politisch-theoretisches Hauptwerk "Du contract social" wurde fast sofort verboten. Auch unter fortschrittlichen Geistern waren solche Gedanken keineswegs en vogue. Die meisten Aufklärer waren noch voll und ganz dem Absolutismus verhaftet. Die Menschheitsbeglückung sollte von oben verfügt werden. Undenkbar, dass man dem unwissenden Pöbel das Recht zugestand, sich selbst zu regieren! Abgesehen davon war der damalige Liberalismus schon längst kein Emanzipationsprojekt mehr, sondern ein brutales Mittel, um die Welt zu unterwerfen. Sklaverei und Ausbeutung, wohin man blickte. Mit Zucker und Baumwolle verdienten liberale Spekulanten astronomische Summen, ohne je einen Finger zu krümmen. Rousseaus grösster Gegenspieler war Voltaire, ein Liberaler durch und durch, ein Aufsteiger, der sich bei den Reichen und Mächtigen beliebt machte und dank dubiosen Geschäften zum Millionär wurde. Voltaire hat all die Untugenden verkörpert, die Rousseau attackiert hat. Im Konflikt zwischen diesen beiden Denkern hat sich der Liberalismus in zwei Hälften geteilt. Die eine Hälfte blieb liberal, die andere Hälfte wurde sozialistisch, inspirierte die Französische Revolution und zog immer mehr Denker und Reformer in ihren Bann. Etwa Henri de Saint-Simon, der sich schon früh mit der Industrialisierung befasst hat. Oder Charles Fourier, der den libertären Sozialismus erfunden hat. Mit Hilfe ihres Trieblebens - Fourier dachte da schon sehr konkret an Sex, wenn er ihn nicht sogar erfunden hat - sollen sich Mann und Frau aus den Zwängen der Konvention befreien, um in einer genossenschaftlichen Ordnung aufzugehen, einer künstlichen Gemeinschaft der Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung. Die Idee der sexuellen Befreiung - Fourier hat auch den Feminismus erfunden oder zumindest angedacht - ist tiefer mit der christlichen Sexualmoral verwoben, als man meinen könnte. Linke Moral dreht sich immer um die "Sündhaftigkeit" der menschlichen Natur. Und insofern gibt es auch im linken Denken eine ursprüngliche Unschuld. Die befreite Sexualität, die den Sündenfall aufheben und damit die Gesellschaft als Ganzes befrieden oder befriedigen soll, ist eine typisch linke Utopie. Anders als bei den Rechten, die auf die Konvention vertrauen und mit ihr die Sexualität einhegen, wie man ein Stück Urwald einhegt, den man erhalten will, ist dieser paradiesische Urzustand bei den Linken jedoch eine Zukunftsprojektion. Gesellschaftliche Schranken werden fallen. Aber noch sind sie da. Der radikalste unter den linken Vordenkern war zugleich auch der erste Anarchist: Pierre-Joseph Proudhon. Er wollte jede Schranke einreissen, jede Herrschaft des Menschen über den Menschen beenden. Natürlich war es dann Marx, der mit Hilfe der Hegelschen Dialektik aus diesem Denken ein politisches Instrument geformt hat. Ein Instrument, das die Geschichte nicht nur deuten, sondern auch verändern soll. 

 

Die heutigen Linken sind dann wieder eine andere Sache. Es sind Linke, die auf jede Kapitalismuskritik verzichten und den Hebel woanders ansetzen: im ethischen Diskurs. Von Marx haben sie keine Ahnung. Wenn sie ihn nicht sogar offen ablehnen. Viele Linke - vor allem aus den oberen Kreisen - halten ihn für überholt und scheuen die Mühe, auf seine Schriften einzugehen. Anstatt Marx zu lesen, kritisieren sie lieber Hausinschriften, in denen das Wort "Mohr" vorkommt. Oder beschäftigen sich mit der geschlechtlichen Nonbinarität im patriarchalen Phallogozentrismus. Wie auch mit vielen anderen Themen, die einem schlecht bezahlten Amazon-Taglöhner wenig nützen. Fast alle heutigen Linken sind eifrig damit beschäftigt, mit Hilfe konstruktivistischer Diskursfelder die Realität neu zu erschaffen. Doch was ist daran noch links? Man könnte sagen: der utopische Anspruch. Das Verlangen nach einer gerechteren Gesellschaft. Die Überzeugung, den idealen Menschen und die ideale Gesellschaft am Reissbrett entwerfen zu können: als etwas Berechenbares und Allgemeingültiges. Trotz ihrer hochtrabenden Diskurse und dem naiven Versuch, die Realität aus dem Zauberkasten der Begrifflichkeiten hervorzuzaubern, haben die heutigen Linken durchaus ein linkes Ziel. Nur zäumen sie auf dem vermeintlichen Weg dorthin das Pferd beim Schwanz auf und reiten in die falsche Richtung: in eine abgehobene Diskursdominanz, wo es mit Sicherheit keine gerechtere Gesellschaft geben wird. Sie erliegen einem Irrtum, auf den ausgerechnet Marx mit seiner Theorie des Überbaus hingewiesen hat. Bei ihm kommt die Realität vor dem Konstrukt, der Unterbau vor dem Überbau, die materielle Realität vor der Ideologie, das Fundament vor dem Wetterhahn auf dem Dach. Oder wie Brecht es formuliert hat: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Marx kann man vieles vorwerfen, aber nicht, dass er die Realität verkannt hätte. Die Realität ist das, was man frisst und worauf man sitzt. Die Realität besteht aus Brot und Stühlen. Aus mehr oder weniger lebensnotwendigen Dingen, für die es einen Markt gibt. Und der Markt ist das pumpende Herz im Kapitalismus. Ohne den Kapitalismus und den Markt wären wir Tiere. Andererseits kann uns der Kapitalismus in einem Ausmass beherrschen, dass wir zu Sklaven werden. In beiden Fällen wären wir kaum noch Menschen. Und mit dem Geistigen wäre es dann vorbei. Die Abhängigkeit des Geistigen vom Materiellen ist total. Alles Geistige beruht darauf, dass man - frei nach Brecht - genügend zu fressen bekommt. Und dass man auf einem Stuhl sitzen kann, wenn man beispielsweise nachdenken oder schreiben möchte. Mit dieser Abhängigkeit hat sich Marx sein Leben lang beschäftigt. Ohne Marx missversteht man das Geistige als etwas Unabhängiges, das frei in der Luft hängt, etwas freihändig Konstruiertes und Konstruierbares. Was dabei herauskommt, wenn man linke Politik ohne Marx machen will, sieht man an den neuen Linken: man hantiert mit einer Moral, die nur noch in sich selber kreist. Man installiert das Projekt der Weltverbesserung in der Stratosphäre diskursiver Selbstbezüglichkeit. So etwas könnte man auch als Luftschloss bezeichnen. Es ist das, woran die neuen Linken mit Inbrunst glauben: dass man mit moralischen Appellen und begrifflichen Haarspaltereien die Welt verändern könne. Marx hat das anders gesehen. Er hat es richtig gesehen. Wenn wir eine gerechtere Welt wollen, müssen wir uns mit dem Kapitalismus befassen. Nicht nur generell und abstrakt, sondern ganz konkret mit dem heutigen Kapitalismus, der mangels Korrektive immer gefährlicher wird. In vielen Belangen (Automatisierung! Globalisierung!) stehen wir wieder am Anfang des 19. Jahrhunderts. Und deshalb ist Marx immer noch brennend aktuell. Nicht nur für Akademiker! Wer wissen will, warum er am Ende des Monats zu wenig Geld im Portemonnaie hat, obwohl er jeden Rappen zweimal umdreht und schuftet wie ein Ochse: Marx weiss die Antwort. Wer wissen will, warum der Reiche immer reicher wird und der Arme kaum noch Aufstiegschancen hat: Marx weiss die Antwort. Wer wissen will, warum die gebildeten und wohlhabenden Linken die murrenden Stammtisch-Proleten als "Wutbürger" diffamieren: Marx weiss die Antwort. Wer wissen will, warum die gut abgesicherten Oberschichtsbürger das Rentenalter hinaufsetzen wollen, obwohl die Lebenserwartung im untersten oder ärmsten Drittel der Bevölkerung stagniert oder sogar sinkt: Marx weiss die Antwort. Wer wissen will, warum wir immer noch kein bedingungsloses Grundeinkommen haben, obwohl KI-Systeme und Digitalisierung den Lohnberuf systematisch zerstören: Marx weiss die Antwort. Marx weiss auf fast alles eine Antwort. Und wie einer, der sich überall herumtreibt, durchschaut er die alltäglichsten Vorgänge. Er weiss zum Beispiel, wie es dazu kommt, dass die Kassiererin die Kunden dazu anleitet, eine Selbstzahlerkasse zu bedienen, obwohl sie sich damit selber überflüssig macht. Mit Marx wird klar: Geld folgt nicht der Schwerkraft. Es fliegt nicht nach unten. Es fliegt nach oben, es entschwebt, um sich in den Hosentaschen der Milliardäre zu akkumulieren. Akkumulieren heisst: anhäufen. Es heisst aber noch mehr: wo etwas ist, gibt es desto mehr davon, je mehr davon da ist. Das klingt vielleicht albern, ist aber sehr tiefgründig, wenn man die Betonung auf "gibt" legt. "Es gibt mehr davon" heisst: es schenkt ein. Es akkumuliert sich. Je mehr ich habe, desto mehr bekomme ich. Das kapitalistische Grundgesetz. Wer wenig hat, wird geschröpft. Wer viel hat, für den vermehrt sich das Geld von alleine. Und so geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.

 

Die Logik, die Gewinnmaximierung, Automatisierung und Ausbeutung zusammenführt, hat niemand besser aufgeschlüsselt als Marx. Marx war einer, der es "gecheckt" hat. Und er "checkt" es bis heute. Und wenn wir es ebenfalls "checken" wollen, kommen wir nicht um Marx herum. Um Marx zu verstehen, muss man kein Studium absolviert haben, und man muss auch nicht wissen, dass es 60 oder vielleicht auch schon 120 Gender-Geschlechter gibt und die Anrede "Meine Damen und Herren" nonbinäre Individuen heteronormativ diskriminiert. Bei Marx muss man nicht hochstapeln und auch keine eigene Sprache erfinden, damit man ein schwachsinniges Konstrukt als Wissenschaft darstellen kann. Bei Marx wird keine Wunschrealität konstruiert. Bei Marx hat man immer den direkten Bezug zum Stuhl, auf dem man sitzt, und zum Essen, das man auf den Teller bekommt. Oder eben auch nicht auf den Teller bekommt, weil das Geld nicht reicht. Denn Geld ist wie Quecksilber. Es verflüchtigt sich relativ schnell, es verdampft manchmal schon im Portemonnaie, und Marx hat das gewusst. Marx ist ein Philosoph fürs Handfeste, ein Philosoph fürs tägliche Leben zwischen Geldverdienen und Geldausgeben, zwischen Arbeiten und Fressen, Schlafen und Arbeiten, Arbeiten und Fressen, ein Philosoph, der unser aller Hamsterrad analysiert hat. Ein Hamsterrad, das uns zu einer Ware macht, die sich auf dem Markt behaupten muss. Natürlich wird das gerne verwedelt und verwischt. Die ökonomische Drangsalierung soll neuerdings sogar Spass machen. Aber ihre Macht ist nach wie vor ungebrochen. Lohnarbeit - Marx würde von "Arbeitsentfremdung" sprechen - beherrscht unser Leben mehr als sonst irgendetwas. Und auch wenn man unter der Ägide der neoliberalen Ideologisierung so tut, als wäre Arbeit das Nonplusultra der Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung, weiss im Grunde genommen jeder halbwegs intelligente Mensch, dass man in der Arbeitswelt ersetzbar ist wie eine Milchkuh. Zwischen dem klassischen Fliessbandarbeiter und dem heutigen, scheinbar so hippen Patchworker gibt es keinen allzu grossen Unterschied. Das Grundmuster der entfremdeten Arbeit bleibt bestehen, trotz ergonomischen Bürostühlen und Duftkerzen am Arbeitsplatz. Trotz mobilem Notebook-Büro und kreativitätsfördernden Coworking Spaces. Wer für Geld arbeitet, ist immer noch in der gleichen Situation wie der russverschmierte Fliessbandarbeiter, den Marx im Auge gehabt hat. 

 

Natürlich gibt es heute kaum noch Fliessbandarbeiter. Aber das heisst eben nicht, dass wir ein Paradies haben. Wir haben eine brutale, wenn auch geschickt getarnte Feudalgesellschaft. Wenige haben viel und bekommen immer mehr, und sehr viele Menschen und wahrscheinlich immer mehr Menschen haben wenig und bekommen immer weniger, während sie sich wie die Blöden abstrampeln. Angesichts der heutigen Ökonomie würde sich Marx den Bart zerrupfen. Im Gegensatz zu den Rechten befinden sich die Linken in der vorteilhaften Lage, dass sie einen Papst und eine schriftliche Wegleitung haben. Ein eigenes Lehrgebäude. Und sogar eine eigene Kirche: den Marxismus. Und obwohl das ja nicht mehr so aktuell ist, weil sich die Linken auf einen ikonoklastischen Sprach- und Kultursäuberungkampf anstatt auf den Kampf gegen Armut und Ausbeutung eingeschworen haben, muss einem bewusst sein, dass der Marxismus ein Denksystem ist, das ganze Bibliotheken füllt. Man kann in diesem Zusammenhang sogar von einem Glaubenssystem reden, weil der Marxismus eine Erlösungslehre beinhaltet. Ähnlich wie die Katholiken haben auch die Linken eine eigene Dogmatik und eine eigene Kirchengeschichte mit Märtyrern und Heiligen, mit Glaubensspaltungen und Inquisitionsgerichten, mit Grossreichen, weltbewegenden Konzilen und internationalen Zusammenschlüssen. Das alles hat das 20. Jahrhunderts zutiefst geprägt und einen für die Menschheit beinahe tödlichen Konflikt der Systeme herausgefordert. Und obwohl diese Kirchengeschichte auf ein paar wenige Begriffe wie Kommunismus, Sozialismus und Marxismus gebracht werden kann, ist die linke Denkweise alles andere als einheitlich. Und Marx ist zwar der Pontifex, der massgebliche linke Denker, aber trotzdem nur einer von vielen Bezugspunkten, die im Kosmos der Linken eine Rolle spielen. Erst recht seit dem Untergang der Sowjetunion. Die heutigen Linken beziehen sich eher auf poststrukturalistische und kulturalistische Konzepte als auf Marx, den sie loswerden wollen wie einen tatterigen Grossvater, auf den niemand mehr hört. Im postmodernen linken Diskurs geht es nicht mehr um Ökonomie und die soziale Misere der Unterschicht, sondern um Kultur und Identität. Die Linke versteht sich als Schutzmacht von Minderheiten und kooperiert dabei eifrig mit dem liberalen Establishment. Seit dem Wegfall des weltumspannenden Kommunismus ist die Verbindung von Liberalismus und demokratischem Sozialismus wieder stärker geworden. Da es für die Linken kein gemeinsames Dach, keine gemeinsame machtpolitische Utopie mehr gibt, schlüpfen sie unter die Rockschösse des Liberalismus. Damit knüpfen sie an die Zeiten vor Marx an, als Sozialisten und Liberale oft im selben Boot sassen, weil sie denselben Gegner hatten. Allerdings hat die damalige Sitzordnung nicht lange Bestand gehabt. Sie wurde gesprengt und relativiert. Aus den liberalen Kräften hat sich der demokratische Sozialismus herausgebildet, die grosse Strömung der Sozialdemokratie, die von Beginn weg den Anspruch gehabt hat, den Sozialismus an das kapitalistische System anzubinden. Gleichzeitig hat sich die liberale Opposition zur herrschenden Klasse gemausert und den Kapitalismus ausgebaut. Somit sind die Liberalen an die Stelle der Monarchisten gerückt. Die Freunde der Sozialdemokraten waren auf einmal die Unterdrücker: ein innerer Widerspruch, den die Sozialdemokratie bis heute begleitet. "Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten!" Bis heute sind die Sozialdemokraten diejenigen, die es gut meinen. Aber gut gemeint ist eben nicht immer das Gleiche wie gut. Die andern Linken haben sich - meist unter Berufung auf Marx - in eine Vielzahl von Gruppierungen und Strömungen aufgeteilt. Das Spektrum reichte vom Anarchismus bis zu jenen Arbeiterparteien, die im Staatssozialismus und Kommunismus ein eigenes Machtsystem errichtet haben, wobei sich die beiden Begriffe, wenn man sie nicht dogmatisch gebraucht, oft überschneiden. Der echte, dogmatisch geschulte Linke weiss natürlich, dass der Sozialismus eine Vorstufe zum Kommunismus darstellt. Der Kommunist ist der gereifte Sozialist, und der Sozialist ist der unreife Kommunist.

 

Rechtes und linkes Denken unterscheiden sich am deutlichsten in der moralischen Haltung. Das Grundmuster des jeweiligen Denkens geht viel weiter zurück als nur bis zu Rousseau, Locke oder Burke. Kulturgeschichtlich steht man als Linker oder Rechter auf einem Boden, der bis in die Antike zurückreicht. Die eigentlichen Stammväter der Rechten, die alten Griechen, kannten noch keinen Moralkodex. Das Schwarzweiss-Muster von Gut und Böse war ihnen fremd, und in der Natur sahen sie - anders als die Juden und Christen - keinen Gegensatz zum Menschlichen und Göttlichen, sondern eine verkörperte höhere Ordnung, zu der auch der Löwe gehört, der das Eichhörnchen frisst. Und auch wenn bei Platon die christliche Naturentwertung schon anklingt, weil er die ewigen Ideen über die vergängliche Welt gestellt und die moralischen Qualitäten des Guten und Wahren vom Irdischen abgegrenzt und verabsolutiert hat, so waren die Griechen im allgemeinen gar nicht so platonisch. Das Absolute lag ihnen nicht. Sie haben die Welt ästhetisch, nicht ethisch gedeutet. Als göttlich beseelte Vielfalt, nicht als Plan Gottes oder "Gottes Wort" wie die Christen. Im griechischen Kosmos (wörtlich "Schmuck") manifestiert sich eine schöne Ordnung, nicht aber Sinn. Einen die ganze Menschheit betreffenden zielgerichteten Sinn mit einer universalen Moral gibt es da nicht. Darin liegt der Grund, weshalb die Rechten einer gewissen Amoralität zuneigen. Und es ist logisch, dass sie, wenn sie nicht dem schrankenlosen Liberalismus huldigen oder wie Nietzsche oder D'Annunzio ins Libertäre abdriften, diese Neigung kompensieren, indem sie auf Recht und Ordnung setzen. Oder den Gemeinschaftswillen. Je konservativer die Haltung, desto starrer das Korsett. Desto kompakter die Gemeinschaft. Strenggläubige Menschen stehen meistens rechts. Was auf den ersten Blick vielleicht etwas paradox erscheint. Müsste das Christentum dem rechten Denken nicht widersprechen? Ist rechtes Denken - besonders deutlich bei Nietzsche zu sehen - nicht heidnisch grundiert, also eigentlich antichristlich? Und ist die weltliche Erlösungslehre des Marxismus nicht christlicher als konservatives Denken? Im Grunde genommen schon. Aber hier haben Religionen eben zwei Seiten. Was die Rechten in der Religion suchen, ist nicht deren Erlösungsperspektive, sondern die Bindungskraft von Normen und Gebräuchen. Die daraus resultierenden Werte gewährleisten Zusammenhalt und Stabilität. Die "ursprüngliche Unschuld", die die Linken in die Zukunft projizieren, zelebrieren die Rechten in Gottesdiensten, Brauchtümern und Gedenkfeiern. Auch das Mystische zieht eher die Rechten als die Linken an. Das Irrationale verweist auf Verflechtungen und Abhängigkeiten, in denen sich der Rechte aufgehoben fühlt und die der Linke ablehnt, weil sie seiner Vision einer umfassenden gesellschaftlichen Planbarkeit widersprechen. Der Rechte glaubt an Gott oder das Schicksal ("Amor fati"), und der Linke lässt den Himmel lieber leer, weil er ihn "auf Erden" verwirklichen möchte, und Schicksal ist für ihn das, was das Politbüro für die nächsten vier Jahre ausheckt. Der streng religiöse Mensch - sowohl der Dogmatiker als auch der Mystiker - steht also meistens rechts. Und meistens gehört er dem konservativen Spektrum an. Je liberaler die Haltung, desto rationaler die Denkweise, desto mehr löst sich auch das Normengefüge auf, und desto ähnlicher wird die rechte Lebenswelt einem Dschungel, wo jeder gegen jeden kämpft und der grösste Affe die grössten Kokosnüsse bekommt. Weil das liberale Raubrittertum gewisse moralische Schwächen aufweist, haben die Vernünftigen und Schlauen unter den Liberalen eine Rechtfertigungstheorie erfunden, die den Liberalismus auf eine humane Grundlage stellen soll: den Utilitarismus. Er geht davon aus, dass der optimierte Eigennutz automatisch das Wohl der Allgemeinheit optimiert. Wenn ich auf meinen Vorteil achte, bin ich automatisch glücklich und gesund und habe einen kräftigen Appetit, wodurch ich beim Bäcker mehr Brot einkaufe. Also hat der Bäcker auch etwas von meinem Egoismus. Weil er in seinem eigenen Interesse möglichst viel Brot verkauft, geht es ihm genauso gut wie mir, wenn ich meinen Egoismus stärke. Mein Egoismus befördert seinen Egoismus, und mein Glück ist auch sein Glück. Und wenn er glücklich ist, sind auch alle andern glücklich, denen der Bäcker seinerseits etwas abkauft. Was natürlich auch die Frau des Bäckers glücklich macht. Und vielleicht sogar ihren Liebhaber. Der Utilitarismus ist eine typisch englische Denkweise: man weiss nicht so recht, ob sie idiotisch oder genial ist. Für den Liberalen ist sie jedenfalls ein Segen. Sie hilft ihm, sein Ego-Konzept als human zu verkaufen. Und sie legt ihm gewisse Fesseln an, da sie aufzeigt, wo die Grenzen des Liberalismus liegen. Mit dem egogesteuerten Handeln zum gegenseitigen Nutzen geht es nämlich nur so lange gut, wie der Liberalismus nicht über die Stränge schlägt. Ab einem bestimmten Punkt der Raffgier und Eigensucht verkommt der Utilitarismus zum Alibi.

 

Neigen die Rechten zum Amoralismus, den die Konservativen mit tradierten Normen und die Liberalen mit dem Utilitarismus mehr oder weniger in Schach halten, so neigen die Linken zum moralischen Absolutismus. Dieses Denken kann man ohne weiteres mit der europäischen Aufklärung und insbesondere mit Rousseau verbinden, obwohl dieser mit seiner Naturschwärmerei und seinem Ideal des reinen Ursprungs eine gewisse Neigung nach rechts aufweist. Doch auch hier steht man auf einem wesentlich älteren Boden. Im grossen und ganzen finden wir linke Denkmuster - nicht anders als rechte Denkmuster - schon in der Antike. Allerdings können sich die Linken nicht auf die heidnische Antike berufen, ausser vielleicht auf die Stoiker. In der Bibel dagegen finden wir schon fast den ganzen Marxismus - und mit Sicherheit die ganze neulinke Moralität mitsamt dem erhobenen Zeigefinger. Einerseits in der Paulinischen Auffassung einer sündhaft befleckten, "unerlösten" Natur ("Denn ich weiss, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt"), andererseits in den mosaischen Geboten des Alten Testaments. Moses war sozusagen der erste Linke. Er hat den Menschen gesagt, dass sie erst dann als Menschen anzusehen sind, wenn sie ihre Natur streng reglementieren. Und damit diese Reglementierung greift, muss eine Gleichheit der Menschen vorausgesetzt werden. Die zehn Gebote gelten für alle. Oder sie sind null und nichtig. Dank dieser Kollektivhaftung können sich die Menschen "emanzipieren", sich aus der Sklaverei befreien und ins gelobte Land einziehen: das linke Narrativ, das schon in der Bibel vorgezeichnet ist. Die abstrakte und abstrahierende Kollektivhaftung - der linke Universalismus einer allumfassenden Solidarität - kontrastiert mit dem Welt- und Menschenbild der Rechten. Hier prallt Gender auf Natur, Kollektiv auf Einzelmensch, Utopie auf Realität. Die Rechten sind, streng genommen, die grösseren Realisten. Ihr Spezialgebiet ist das, was da ist. Die Linken sind Utopisten. Ihr Spezialgebiet ist das, was noch nicht da ist. Das kann eine Schwäche, aber auch eine Stärke sein. Die rechte Weltsicht ist realistisch, weil sie in der Regel von den natürlichen Gegebenheiten ausgeht. Aber dafür haben die Linken die besseren Absichten. Nämlich insofern, als das Gegebene nicht immer das Beste, das Natürliche nicht immer ideal ist. Der Mensch ist auch insofern Mensch, als er sich transzendieren kann. Er kann und muss die Natur überwinden, auch die eigene. Wer links ist, möchte die Realität überschreiten, den Naturzustand überwinden. Wer rechts ist, möchte den Naturzustand nicht überwinden, sondern in Schach halten (konservativ) oder steigern (liberal). Realistisch ist die rechte Weltsicht auch insofern, als der Mensch immer zuerst einmal sich selber wahrnimmt: als Einzelner. Jeder und jede ist sich selber am nächsten. Bei den Rechten steht das Individuum über dem Kollektiv. Und das Kollektiv ist keine universale Grösse wie bei den Linken ("Alle Menschen sind Brüder und Schwestern"), sondern beruht auf Abgrenzungen: wie in der Natur, wo es Arten und Gattungen gibt. Und wo der Löwe den Löwen respektiert, nicht aber das Eichhörnchen. Und wo der grösste Affe die grössten Kokosnüsse bekommt. Und wenn der Rechte von seinem Bruder redet, dann meint er nicht irgendeinen dahergelaufenen Fremden, sondern den Bruder, mit dem er im Sandkasten gespielt hat.

 

In ihren extremen Ausformungen - undosiert sozusagen - sind beide Haltungen menschenfeindlich. Der Linke drangsaliert seine Mitmenschen, wenn sie nicht in sein utopisches Konzept passen. Er macht sie passend, wenn das auch mitunter bedeuten kann, dass er sie einen Kopf kürzer machen muss. Wer sich dem Zwang zum Guten widersetzt oder dem utopischen Projekt im Weg steht, weil er sich vom gleichgemachten Kollektiv zu stark abhebt, wird einen Kopf kürzer oder platt gemacht. Der Linke ist ein Liebhaber von Erziehungsanstalten, Zensurmassnahmen und Gesinnungsschnüffelei. Und es versteht sich, dass das alles nichts Böses oder Schlechtes ist. Der mit allen dialektischen Wassern gewaschene Linke kann uns das glaubhaft auseinandersetzen. Er kann - wie der grosse Vorsitzende Mao - ein ethisch belehrendes Buch darüber schreiben, während er ganz genau weiss, dass seine Ideologie Millionen Menschenleben vernichtet. Mit Hilfe seiner Dialektik - einer Denkmethode, die darin besteht, dass man auf einer Treppe aus waag- und senkrecht gebauten Stufen, den dialektischen Widersprüchen, in Richtung einer höheren Wahrheit emporsteigt - kann der Linke jede Unstimmigkeit, jeden Widerspruch auflösen. Aus Unsinn wird Sinn, aus Grausamkeit Liebe, aus Fehlern, Ausfällen und Katastrophen ein Lernprozess.  Und so kann sich der Linke immer hinter der Behauptung verschanzen, es sei doch alles nur gut gemeint. "Der Zweck heiligt die Mittel." - "Wo gehobelt wird, da fliegen Späne." - "Man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen." Der Witz an der Dialektik ist, dass sie selber dialektisch ist. So wie sie der Wahrheitssuche dienen kann, kann sie auch dem Gegenteil dienen: der Gehirnwäsche. Wie etwa in Orwells "1984", einer kaum verschlüsselten Beschreibung stalinistischer Propaganda: "Krieg ist Frieden! Freiheit ist Sklaverei! Unwissenheit ist Stärke!" Der Rechte hat es da einfacher. Er kann natürlich ebenfalls ein bisschen Dialektik betreiben, seit 1968 ist das nicht mehr ein Monopol der Linken, aber im grossen und ganzen ist sein Erklärungsschema ein anderes. Er muss nicht Hegel gelesen haben, bevor er jemanden drangsaliert, und sein Extremismus braucht sich auch nicht mit einer Moral zu bemänteln. Wer sich nach rechts neigt, hat immer schon deshalb Recht, weil die Rechtsneigung die Haltung der Sieger ist, der Überlegenen. Und wer braucht sich schon dafür zu entschuldigen, dass er zu den Siegern gehört? Auf komplizierte Rechtfertigungen kann der Rechte von vornherein verzichten. Moral ist für ihn sowieso Definitionssache, und auf Gleichheit beharrt er schon gar nicht erst; er drangsaliert jeden, der ihm von Nutzen ist oder eine unbotmässige Schwäche zeigt. Und er kann sich dabei auf die Natur berufen, auf den Löwen und das Eichhörnchen, das Recht des grössten Affen auf die grössten Kokosnüsse, das Fressen und Gefressenwerden.

 

Dabei muss man sehen, dass die Rechten nicht erst in der Diktatur zu Menschenfressern werden. Der Schritt in die Unmenschlichkeit beginnt schon viel früher, nämlich mitten im normalen Konkurrenzgebaren. Dort, wo man Gewinne scheffelt und Menschen ausbeutet. Wer viel Geld hat, hat auch viel Macht, und wer viel Macht hat, für den gilt die Devise: "L'état c'est moi." Dazu braucht man die Demokratie gar nicht abzuschaffen, und ein Rechtsstaat funktioniert auch dann, wenn er zulässt, dass die grossen Fische die kleinen verschlingen. Und die kleinen Fische die noch kleineren. Und oft steckt dahinter nicht einmal ein "Manchester-Liberalismus" der staatlichen Absenz. Der neoliberale Staat ist keineswegs passiv: im Gegenteil. Mittels Freihandelsabkommen und anderer Regulierungen ermöglicht er den grossen Fischen einen noch grösseren Fang. Der totale Liberalismus, der den radikalisierten Markt zum obersten Prinzip erhebt, mündet paradoxerweise in einen staatlich gedeckten, wenn auch diskret verschleierten Faschismus, der auch sozialistische Züge trägt. Man könnte das auch als "Marionetten-Demokratie" bezeichnen, weil hier kaum noch der Souverän das Sagen hat, sondern eine dicht vernetzte Oberklasse, die die "Volksherrschaft" zu einem Marionettentheater umbaut, ohne die liberalen Grundwerte abzuschaffen. Der neoliberale Faschismus ist ein Finanzfaschismus, eine ökonomische Herrschaft der Eliten, und der neoliberale Sozialismus ist ein Sozialismus für die Reichen, der darauf ausgerichtet ist, die Unterschicht unter Kontrolle zu halten, die Arbeitenden zu disziplinieren, wirtschaftliche Schäden zu kollektivieren und den "eigenständigen" Mittelstand und mit ihm auch jede kritische Zivilgesellschaft zu schwächen und gefügig zu machen. In Kombination mit der herkömmlichen repräsentativen Demokratie resultiert daraus eine neue Art von Totalitarismus: eine weichgespülte, versteckte Diktatur, die nicht mit Gewalt und Zwang operiert, sondern mit psychologisch ausgefeilter Propaganda und einer subtilen Angleichung des politischen und sozialen Systems an die neoliberale Doktrin. Hinter den Kulissen der repräsentativen Demokratie sind die meisten modernen westlichen Gesellschaften schon längst neoliberal organisiert. Und wenn das nicht auffällt, dann nur deshalb, weil man sich daran gewöhnt hat, es als selbstverständlich ansieht. Wirft man einen Frosch in heisses Wasser, springt er sofort heraus. Setzt man ihn hingegen in einen Topf mit kaltem Wasser, das man langsam zum Kochen bringt, spürt er die Veränderung kaum und bleibt ruhig, bis es zu spät ist. Mit dieser Taktik hat der Neoliberalismus die Gesellschaft gekapert - und mit ihr die persönlichste Sphäre, wo er Freizeit, Arbeit, Bildung, Sozialverhalten, Konsumverhalten, Sexualität, Gesundheit, Selbstbewusstsein und sogar die Spiritualität einer tyrannischen Kosten-Nutzen-Perspektive unterwirft, einem universalen Vermarktungsgesetz, das letztlich dazu dient, das Kapital von unten nach oben zu schaufeln, mit einem steigenden psychologischen Druck, der den Unteren das Gefühl gibt, das Ziel ihrer Bemühungen sei das eigene Wohlergehen. Dabei strampeln sie sich für ein einziges Ziel ab: die Reichen noch reicher zu machen. Neoliberalismus ist nicht zwingend autoritär. Er indoktriniert und verführt, er lockt mit Konsum und gängelt mit Leistungsdruck. Ausserdem bedient er sich einer Methode, die ebenso alt wie raffiniert ist und auf der zum Beispiel die katholische Kirche ihre Macht aufgebaut hat: er instrumentalisiert das Gewissen. Sogar die Moral hat er gekapert und mit ihr auch Teile der Linken. Der neulinke Moralismus, der die Menschen parallel zur ökonomischen Optimierung auch moralisch optimiert, wird auf oberster wirtschaftlicher und politischer Ebene propagiert und durchgesetzt. (Aktuelle Beispiele sind die werbewirksamen Inklusionsregeln von Adidas oder die Diversity-Quoten der Oscar-Academy, die die künstlerische Freiheit massiv einschränken). Der neoliberal getrimmte Mensch setzt sich immer für das Gute ein. Er will die totale Diversität, die totale Toleranz, das totale Wohlverhalten. Alles muss möglichst vielfältig sein, auch wenn es dadurch einfältig wird. Und alles muss fliessen, damit auch das Geld fliesst. Und in der Regel fliesst es dann von unten nach oben. Im Endeffekt ist die neoliberale Zielsetzung alles andere als humanistisch oder pluralistisch. Der Neoliberalismus ist totalitär, weil er den Menschen als Kosten-Nutzen-Objekt behandelt und diesen Massstab verabsolutiert.  Wie die anderen grossen totalitären Ideologien (Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Islamismus) verbindet auch der Neoliberalismus einen globalen Herrschaftsanspruch mit einer alleingültigen Definition des Menschen.

 

Obwohl es wirtschaftliche Verflechtungen und marktradikale Ansprüche schon immer gegeben hat, ist der Neoliberalismus als Herrschaftsform eine relativ neue Erscheinung. Den ersten globalen Auftrieb erhielt er nach dem Zerfall der Sowjetunion. Das Ende der sozialistischen Utopie war zugleich der Startschuss für eine gesellschaftliche Umwälzung unter dem Diktat des Grosskapitals. Eine Reform jagte die andere, eine Privatisierung folgte auf die nächste, überall wurde saniert, umstrukturiert und dereguliert, und überall die gleiche Zielrichtung: Schulden und Lasten sollten kollektiviert, Gewinne privatisiert werden. Nach 1989 konnte man beobachten, wie die Politik immer stärker in den Bann von Wirtschaftsinteressen geriet. Und seit der Finanzkrise von 2008 erleben wir den liberalen Supergau in einer endlosen wirtschaftlichen Verkettung. Denn durch jede Krise wird der Neoliberalismus stärker. Er ist die Krankheit, die sich für ihre eigene Behandlung als Medikament anpreist. Die Logik dahinter ist eine grundliberale: wer das Geld hat, ist der Chef. Und der bestimmt die Spielregeln. Für die Reichen ist der Staat eine Kapitalmaschine, während er für die Armen zu einem sozialistischen Kontrollstaat umgebaut wird. Massgeblich an diesem Prozess beteiligt sind Bildungs- und Medienkartelle, Thinktanks, Stiftungen, Geheimdienste und NGOs. Die Wirtschaftselite hat ein riesiges Propaganda-Netzwerk aufgebaut, um jeden echten demokratischen Widerstand abzuwehren und die eigentliche Zielrichtung der neoliberalen Agenda zu verschleiern: totale Freiheit und Selbstermächtigung für die Reichen und totale Versklavung für die Armen. Wobei man diese Versklavung als "Fürsorglichkeit" tarnen kann. Und die Macht der Sklavenhalter als "humane Verantwortlichkeit". Wer diese Mechanismen genauer studieren möchte, dem empfehle ich Rainer Mausfelds "Warum schweigen die Lämmer?", ein Standardwerk über neoliberale Indoktrination. Unter dem Strich kann man sagen, dass der Liberale in Extremform genauso gefährlich ist wie der extreme Nationalist oder der extreme Sozialist. Wobei es den "reinen" Staatsozialismus kaum noch gibt, und der "reine" Nationalismus steht der übermächtigen Globalisierung derart entgegen, dass er höchstens noch als Oppositionshaltung taugt, als Korrektiv. Das natürlich von der Gegenseite instrumentalisiert werden kann. Der Nationalist oder Rechtskonservative ("rückständig", "rechtspopulistisch", "protofaschistisch" etc.) ist ein beliebtes Feindbild der neoliberalen Eliten, das vor allem dazu dient, vom eigenen kriminellen Machtsystem abzulenken. Der Wolf frisst Kreide und beschuldigt den Fuchs, unschuldige Tierchen zu töten. In der heutigen Welt müssen wir uns nicht gegen Nationalisten, Nazis oder Kommunisten zur Wehr setzen, sondern gegen Extremisten aus dem liberalen Lager. Die internationale Wirtschaft ist ein Moloch, der inzwischen jede repräsentative Demokratie und die meisten demokratischen Institutionen unter seine Kontrolle gebracht hat. Und der uns mit Hilfe globaler Finanzinstitute systematisch ausplündert und zu Schuldnern macht. Mit gigantischen Folgeschäden. Auf die hat Jean Ziegler schon vor Jahren mit einem drastischen Vergleich hingewiesen: "Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen - die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in gut einem Jahr". (2012, Interview in der "Jungen Welt") Ob eine kommunistische Weltherrschaft weniger Menschen umbringen würde, ist allerdings fraglich.  

 

Weniger strittig, weil klarer zu benennen, ist die Sache, wenn es um linke oder rechte Diktaturen geht. Sowohl links wie rechts entfaltet sich eine Logik des Schreckens, wenn sich die Ideologie zu einem totalitären Machtsystem verfestigt. Gewaltherrscher wie Hitler, Stalin, Mao, Franco und Pol Pot, die für linken oder rechten Terror stehen, bilden die Schreckensgalerie des 20. Jahrhunderts. Freilich kommt hier zu Links und Rechts noch eine dritte Kategorie hinzu: die autoritäre Verfassung. Das Aussetzen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. In ihren Extremen bringen linke und rechte Ideologien frappant ähnliche Herrschaftsstrukturen hervor. Ganz oben auf der vertikalen Achse schliessen sich die Extreme zusammen, und die Ideologie wird austauschbar. Im Autoritarismus einer Diktatur werden sich Linke und Rechte verteufelt ähnlich. Nicht vollständig, nicht so, dass man sie verwechseln könnte, aber annähernd. Was man besonders deutlich an den Nationalsozialisten sieht. Nirgends haben sie sich nach dem Krieg besser assimilieren können als in der DDR. Ausgerechnet im "antifaschistischen Staat" vollzog sich die Reinwaschung quasi im Schnellwaschgang: eine klassische Win-win-Situation. Die hatte sicher damit zu tun, dass sich autoritäre Systeme immer irgendwie ähnlich sind und infolgedessen einen ähnlichen Menschentypen hervorbringen oder anziehen. Oder schlichtweg brauchen, um das System an der Macht zu erhalten. Diese Parallelität der Systeme wirft ein bezeichnendes Licht auf den sogenannten "Antifaschismus", der auch heute wieder sein Unwesen treibt, indem er eine diffuse Angst vor den "bösen Rechten" schürt und gleichzeitig Mittel und Methoden anwendet, die an die übelsten Diktaturen erinnern. "Böse Rechte" gibt es zweifellos, und rechtspopulistische Verführer und Schreihälse zu kritisieren, ist absolut richtig. Nur sollte man sich davor hüten, einen Phantasienazi zu erschaffen. Die echten Nazis haben nämlich das unglaubliche Kunststück fertiggebracht, rechtes mit linkem Gedankengut zu verschmelzen, was die Linken (wie auch die Rechten) bis heute verwirrt. Denn die Hufeisen-Theorie, die den Liberalismus in der Mitte platziert und an den extremsten Punkten die Nazis den Stalinisten gegenüberstellt, ist schlichtweg untauglich. Hybride Positionen - wie zum Beispiel die nationalsozialistische - lassen sich hier gar nicht einfügen. Oder wenn doch, dann nur auf der Grundlage einer Mischrechnung. Dann aber müsste man Hitler, wie das auf jedem politischen Koordinatenkreuz korrekterweise getan wird, in die Mitte schieben. Was die Hufeneisenform, die wir alle irgendwie verinnerlicht haben, in Frage stellt. In der Mitte müsste ja eigentlich die bürgerliche Mitte sein: der gemässigte Ausgleich zwischen Links und Rechts.

 

Auch wenn man die Nazis beiseite lässt, die ein ideologisches Phantom waren, eine Art Zwitter, wird man aus dem politischen Koordinatensystem nicht immer schlau. Im oberen Bereich der vertikalen Achse überlagert die Diktatur die Ideologie. Hier muss man einmal mehr aufpassen, dass man die Links-Rechts-Achse nicht mit der Achse verwechselt, auf der man libertäre und autoritäre Positionen einzeichnet. Eine Achse, die immer wieder knifflige Fragen aufwirft. Kann ein Rechter, der die individuelle Freiheit - das Ideal der Selbstermächtigung - über alles andere stellt, überhaupt autoritär sein? Oder andersrum gesehen: kann er libertär sein, wenn er als Rechter seine angeborene Souveränität und die Unterschiede zwischen den Menschen hochhält und damit unter Umständen akzeptieren müsste, dass der Andere sein Anderssein und seine Souveränität dahingegehend auslegt, dass er der Boss ist und über alle andern bestimmen kann? Und kann ein Linker, der die Gleichheit der Menschen betont, die rücksichtslos libertäre Haltung eines radikal individualistischen 68er-Kommunarden an den Tag legen, ohne unglaubwürdig zu sein? Oder andersrum gesehen: kann ein Linker einer Autorität nachlaufen oder diese für sich selbst beanspruchen, wenn er die Gleichheit der Menschen als oberstes Ziel und Prinzip ansieht? Zwangsläufig verschränkt sich das Links-Rechts-Schema mit dem Schema, das autoritäre und libertäre Positionen definiert. Und zwangsläufig kommt es hier zu Widersprüchen. Die allerdings programmatisch sind und die Ideologien von Rechts und Links auf unterschiedliche Weise geprägt und begleitet haben. Und tatsächlich gibt es auch hier eine Geschichte, ein Denktradition. Sozusagen jenseits von Links und Rechts, aber immer mit gewissen Überschneidungspunkten zu linken oder rechten Ideologien. Die Frage, wie man staatliche Autorität ohne Willkür und vor allem auch gegen die Willkür Einzelner oder bestimmter Gruppen einsetzt, hat in der Philosophie eine lange Tradition. Sie reicht zurück bis zu Platons "Politeia", dem Urkonzept des autoritären Staates. In seinem "Leviathan" hat Hobbes den autoritären Kontrollstaat und den totalitären Gesellschaftsbegriff sowohl für die Rechten wie auch die Linken vordefiniert. Wie weit das ins Totalitäre geht, ist allerdings eine graduelle Sache. Der gemässigte Hobbes ist auch für Demokraten geniessbar. Ja, vielleicht ist er gerade für Demokraten unabdingbar. Auch ein Rechtsstaat besitzt hoheitliche Macht und darf Gewalt ausüben. Was den Libertären zum Widerspruch, wenn nicht sogar Widerstand reizt. So wie ein gewisses Mass an Macht und Autorität unabdingbar ist, damit ein Gemeinwesen überhaupt funktioniert, ist ein gewisses Mass an Eigensinn unabdingbar, damit der Mensch zu sich selbst findet. Und in diesem Spannungsfeld steht nun der Libertäre. Staatliche Bevormundung und soziale Zwänge lehnt er ab. Und auch hierfür gibt es Vorbilder. Der Aussteiger Henry Thoreau zum Beispiel. Er hat ganze Generationen von Libertären inspiriert. Sowohl auf der linken wie auch auf der rechten Seite. Ein philosophisches Konzept gibt es da allerdings nicht. Der Libertäre beruft sich nicht auf eine Doktrin, und was die Allgemeinheit für richtig hält, ist ihm weitgehend egal. Er denkt lieber selber, als dass er irgendwelche Formeln nachbetet. Er verlässt sich auf sein eigenes Urteil, und das bürgerliche Gesetzbuch ersetzt er durch sein eigenes, tiefinnerliches Gewissen. Der Libertäre ist der klassische Nonkonformist, der poetische Waldhüttenbewohner, der sich von Wurzeln und frischer Luft ernährt. Aber gerade dieses Abseitsstehen ist zutiefst politisch. Wenn der Aussteiger und Verweigerer zum Widerstandskämpfer wird, tendiert die libertäre Subjektiviät zum Anarchismus. Und manchmal auch zum Terrorismus. Sie kann einen zivilisationsfeindlichen Bombenbastler wie Theodore Kaczynski, besser bekannt als Unabomber, oder einen rechtsextremen Rambo wie Andres Brejvik hervorbringen. Viele Libertäre sehen sich als einsame Vorkämpfer einer Massenbewegung: egal, ob sie links oder rechts stehen. Der Libertäre muss aber kein Avantgardist sein. Er kann auch der "Letzte seiner Art" sein, ein Fossil, das sich gegen den Fortschritt stemmt. Andererseits kann er auch ein Korrektiv sein, jemand, der aus einer besonders rigiden oder konsequenten Moralvorstellung heraus den gesellschaftlichen Rand besetzt, um die korrupte Mitte zur Rechenschaft zu ziehen. Die Aktionen von Greenpeace wie auch die Hackerangriffe von Anonymous tragen das Gütesiegel des libertären Widerstands. Oder vielleicht schon nicht mehr. Denn dieser Widerstand verliert seine innere Berechtigung, wenn die entsprechenden Gruppen zu viel Macht gewinnen. Greenpeace ist schon längst ein Grosskonzern, der stattliche Managerlöhne zahlt, und Anonymous bekämpft mittlerweilen auch Exponenten, die selber gegen Mächtige kämpfen, sodass sich die Frage stellt, ob die Bewegung überhaupt noch eine schlüssige Motivlage hat. Doch hat sie die je gehabt? Der libertäre Standpunkt ist nie wirklich fixiert, man kann ihn schwer fassen. Der Libertäre ist immer der, der sich abgesondert hat, eine bestenfalls nur lose mit Gleichgesinnten verbundene Einzelfigur, die gegen die Strömung schwimmt, oft nur über Wasser gehalten durch ein moralisches Sendungsbewusstsein, das Streben nach einem höheren Ausgleich, nach Vergeltung oder Gerechtigkeit. Psychologisch kann man die libertäre Haltung als ein Streben nach Wahrheit interpretieren. Nach jener Wahrheit, die kein Gehör findet, der unbequemen oder verleugneten Wahrheit. Der Libertäre deckt den wunden Punkt auf. Er konfrontiert seine Mitmenschen oftmals mit einer Verdrängungsgeschichte, mit einer kollektiven Gewissenslast, mit dem, was sich hinter der öffentlichen und offiziellen Ordnung verbirgt. Und oft macht er das indirekt, indem er diese Ordnung stört oder der Lächerlichkeit preisgibt. Indem er die Leute erschreckt oder zum Narren hält. Der vielleicht interessanteste Libertäre ist der dänische Philosoph Sören Kierkegaard. Seine berühmte Ironie wie auch seine Spiegelfechterei mit wechselnden Rollen und Pseudonymen verweisen auf das libertäre Abseitsstehen. Wer abseits steht, benutzt gerne den Spiegel, um ein bisschen Gesellschaft zu haben. Und mit Ironie bricht man das Eindeutige, so wie ein Glas das Licht bricht, es umlenkt, auffächert oder einfärbt. Ironie kommt aus dem Abseits, sie entsteht nicht mittendrin, weil sie mit Verschiebungen und Brüchen zu tun hat. Und auch mit Selbstmaskierung. Der Ironiker ist jemand, der sich und die Aussagen, die er trifft, ins Mehrdeutige ziehen kann, weil er nicht dazugehört. Weil er nicht an einen Meinungskonsens gebunden ist. Bei Kierkegaard ist das Libertäre jedoch ein Abseitsstehen mitten in der Welt, eine weltzugewandte Dauer-Befremdung, die nicht nur mit Ironie operiert, sondern die Ironie selbst ironisiert. Gar bis zu dem Punkt, wo Kierkegaard die Ironie angreift, indem er sie dialektisch zu überwinden versucht. Unter dem Narrenkleid kommt der Fanatiker zum Vorschein, jemand, der bis zum Letzten entschlossen ist. Dies verbindet Kierkegaard mit ideologisch getriebenen Attentätern und Terroristen. Einige Zitate von ihm könnten auch von Mohammed Atta stammen: "Je mehr Leute es sind, die eine Sache glauben, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Sache falsch ist. Menschen, die recht haben, stehen meistens allein."

 

Das politische Achsenkreuz hat den Vorteil, dass es politische Positionen mehrdimensional darstellen kann. Die Österreichische Bierpartei, in die ich sofort eintreten würde, wenn ich Österreicher wäre, bildet auf diesem Kreuz geradezu eine Bierlache: so breit ist das Spektrum, so weit das Themenfeld, das hier bearbeitet wird. "Trinktechnisch wenig begabte Menschen zu fördern", ist zwar das offizielle Hauptanliegen, aber das ist wohl eher metaphorisch gemeint. In Wirklichkeit geht es hier um die Lebenskunst und die Lebensart. Um alles, was an einem Biertisch zusammenkommt, um jede Bier- und Schnapsidee von links bis rechts, von oben bis unten. Das gefällt mir. Nur bin ich leider nicht Österreicher. Und wie ich festgestellt habe, stehe ich auf dem politischen Achsenkreuz einwandfrei links. Genau dort, wo auch Gandhi steht. Da befinde ich mich eigentlich in guter Gesellschaft. Ich hätte es schlimmer treffen können. Etwa dann, wenn ich den Platz in der Mitte bekommen hätte, den Platz neben Hitler.

 

 

2021