Die Nachbarschaft

 

Meine Schwester und ich wuchsen in einer schönen, ländlichen Umgebung auf. Unsere Wohnstrasse, das Baumgärtli, lag an einem Abhang über der Bahnlinie Olten-Basel, und trotz Überbauung war dieser Abhang noch immer sehr grün, mit vielen Bäumen bestanden und dem Bahndamm entlang total überwuchert, und nebst der sonnenverwöhnten Lage beglückte uns auch die grosse Wiese, die am Strassenende begann. Das Baumgärtli war eine Sackgasse, eine unfertige Nebenstrasse: für Kinder der ideale Spielplatz. Dort, in einem von zwei identischen Doppelhäusern mit Blick auf Gelterkinden, spielten, assen und schliefen wir, als wir noch klein waren. Und so manches Jahr darüber hinaus. Unsere direkten Nachbarn im Doppelhaus nebenan waren die Ruppens. Als wir einzogen, war ich ungefähr zwei Jahre alt, und meine Schwester war noch ein Baby. Die drei Töchter der Ruppens waren schon im Schulalter. Beim Spazieren, Einkaufen und Picknicken waren sie oft mit dabei, sie schoben meine Schwester im Kinderwagen herum und trugen mich huckepack, wenn wir im Wald eine Feuerstelle suchten. In meinem Gedächtnis verschwinden sie jedoch hinter ihrem Vater, einem dickbäuchigen Biertrinker und Hobby-Grilleur. Noch heute sehe ich ihn mit Blümchenschürze, Warteck-Bierflasche und Grillzange am Gartenhag stehen. Der typische Nachbar, Fred Feuerstein im Hausmannskostüm. "Her mit dem Fleisch!" Das war sein Schlachtruf. Er rief nach den Würsten und Koteletts, die wir hinüberreichen mussten. Wenn Vater Ruppen seinen Grill anwarf, war das ein Gemeinschaftsgrill, ein Jeder-kann-was-drauftun-Grill. Und wehe, man hatte nichts zum Drauftun! Als ich acht oder neun war, zogen die Ruppens fort. Schon seit geraumer Weile hatte Vater Ruppens Grillierleidenschaft nachgelassen. Am Gartenhag zeigte er sich kaum noch - und schon gar nicht mit Blümchenschürze und Grillzange. Gegen ihn lief ein Verfahren wegen Unterschlagung, er wurde rechtskräftig verurteilt und musste ins Gefängnis, und seine Frau liess sich scheiden und heiratete den Kriminalbeamten, der ihren Mann, bzw. Ex-Mann vor Gericht und hinter Gitter gebracht hatte. Im Laufe dieses Dramas zogen die Ruppens aus dem Baumgärtli fort. Die Wohnung blieb dann lange Zeit leer, der Garten verwilderte, und es gab niemanden mehr, der uns zum Grillieren einlud. 

An die Ruppen-Mädchen erinnere ich mich kaum noch. Anders verhält es sich mit den Aenishänslin-Kindern. Thomas und Kathrin von den Aenishänslins wohnten ganz am Strassenende, im Haus neben dem östlichen Wiesenabhang. Bis zu ihrer Einschulung oder ein bisschen darüber hinaus unterstanden sie der Obhut ihrer Grossmutter, der alten Frau Aenishänslin. Die Grosseltern wohnten im gleichen Haus, sie belegten das Untergeschoss. Ihre Schwiegertochter, die junge Frau Aenishänslin, war selten da. Sie war etwas mollig und trug eine Brille, die gut zu Miss Moneypenny gepasst hätte. Sie war ständig in Eile und auf Achse: eine Mutter, die untypischerweise arbeiten ging. Beide Aenishänslin-Eltern gingen arbeiten, und die im Untergeschoss wohnenden Grosseltern wollten die Kinder möglichst nicht im Haus und um sich herum haben, da Grossvater Aenishänslin wegen seines Nachtwächterjobs tagsüber in einem abgedunkelten Zimmer liegen musste wie Graf Dracula in seiner Gruft. Er brauchte unbedingte Ruhe. Die Kinder waren gezwungen, ihren Lärm woanders zu veranstalten, zum Beispiel bei uns, zwei Häuser weiter vorn, im Baumgärtli 6b. Für Mutter eine Zusatzbelastung, die ihr gerade noch gefehlt hatte: mit zwei Kindern, einem knappen Budget und dem Haushalt war sie schon mehr als genug ausgelastet. Schon in aller Herrgottsfrühe, wenn wir noch im Bett lagen, klingelte es manchmal an der Haustür, und natürlich waren es die Aenishänslin-Kinder. Sie wollten uns herausläuten. Drängelnd und zappelnd belagerten sie das Haus. Schon in aller Herrgottsfrühe, während wir uns noch den Schlaf aus den Augen rieben, rannten sie uns die Bude ein und wollten mit uns spielen. Weil es bei ihnen kein Frühstück gab, konnte Mutter sie schwerlich wieder fortschicken, wenn wir in unsern Pyjamas in der Küche sassen und unsere Konfitüren- und Honigschnittli strichen. Gefrühstückt wurde bei uns immer mit der grössten Ausführlichkeit, und die Aenishänslin-Kinder nahmen gerne daran teil. Oft verbrachten sie ganze Tage bei uns, zeitweilig schien es, als hätten wir sie adoptiert. Ohne Stundenplan, Benimmregeln und Kleidervorschriften schmarotzten sie unbekümmert in den Tag hinein. 

Trotz alledem konnte man nicht von einer Vernachlässigung sprechen. Richtige Schlüsselkinder waren sie nicht. Die Grossmutter war jederzeit für sie da. Sie durften nur nicht stören. Der Grossvater brauchte seinen Schlaf. Sein Schlaf war heilig. Als er starb, bekam Graf Dracula eine andere Ruhestätte, und im Hause Aenishänslin war der Kinderlärm wieder willkommen. Die Kinder durften nun das ganze Haus mit Beschlag belegen, sie bekamen sturmfrei, das Treppengeländer wurde zur Rutschbahn und der Stubenteppich oder das Tischtuch zum Zelt mit einem Besen als Zeltstange. Die Grossmutter gewährte ihnen jede Freiheit, versorgte sie mit Süssigkeiten und kochte ihnen desöftern mal etwas Feines, etwas ohne Spinat. 

Doch diese Eintracht war nicht von Dauer. Bei den Aenishänslin-Eltern hing der Haussegen schon seit längerem schief. Und so kam es auch hier zur Scheidung. Die Mutter zog aus, und Vater Aenishänslin holte sich eine Neue ins Haus: eine Asiatin aus dem fernen Osten, die nur gebrochen Deutsch sprach und allem Anschein nach völlig fremd in diesem Land war, eine Japanerin, wurde gemunkelt, die Tsuki, wie sie von den Aenishänslin-Kindern und bald auch von uns allen genannt wurde. In das neue Regime fügten sich die Aenishänslin-Kinder überraschend leicht. Als hätten sie nur darauf gewartet. Plötzlich gab es bei ihnen eine Erziehung. Plötzlich unterstanden sie einer Aufsicht. Plötzlich mussten sie pünktlich zu Hause sein, und wenn sie sich nicht daran hielten, bekamen sie Schimpfis, so nannten wir die Art der elterlichen Ansprache, die im Hause Aenishänslin ziemlich oft zu hören war, seit Tsuki dort das Sagen hatte. Es gab da einen gewissen Nachholbedarf. Hatten sie Grasflecken auf dem T-Shirt oder einen zerquetschen Heugumper im Hosensack, erlebten sie nun selber, was heisst, unter elterlicher Obhut zu stehen. 

Als Tsuki das häusliche Regime übernahm, zusammen mit ihrem Dackel, mit dem sie dreimal täglich Gassi ging, war Grossvater Aenishänslin nur noch ein Porträt an der Wand. Niemand konnte Tsuki den Rang streitig machen. Niemand, ausser der alten Frau Aenishänslin, der Grossmutter. Sie war ja noch da. Mit der neuen Schwiegertochter musste sie sich nun irgendwie arrangieren. Aber wieso eigentlich? mochte sich die alte Frau Aenishänslin fragen. Woher nahm diese Tsuki das Recht, alles an sich zu reissen? Sie erfrechte sich sogar, den Familiennamen zu tragen, Aenishänslin wollte sie genannt werden! Die alte Frau Aenishänslin mochte diese Fremdländerin nicht. Ein Fremdländer, eine Fremdländerin, so nannte die alte Frau Aenishänslin jede Person, die weder schweizerisch aussah noch schweizerisch redete. Und nicht nach Aromat oder Maggi, sondern nach scheusslichen exotischen Gewürzen roch. Manchmal zeigte sie zum Türkenblock und machte dabei ein Gesicht, als würde sie Reissnägel schlucken. Dann hielt sie sich an einer Stuhllehne fest, an einer Kommode oder stützte sich aufs Fensterbrett und jammerte: "Ach, diese Fremdländer. Überall Fremdländer!" Der Türkenblock war ungemütlich nah, gleich beim Langmattweg unten. Dort gab es sie in Massen, lauter Fremdländer, die ein komisches Fremdländisch sprachen, die Nachtruhe nicht immer einhielten, widerliches Couscous-Zeugs kochten, die Abfallsäcke nicht ordentlich deponierten und die Wäsche auf dem Balkon aufhängten, was gegen die Hausordnung war. Es war traurig, aber so sah es in dieser Wohngegend aus! So weit war es also schon! Aus und vorbei mit der alten Chaletgemütlichkeit! Die galoppierende Ausländerinvasion war bis nach Gelterkinden und ins Wohnquartier der alten Frau Aenishänslin vorgedrungen. Oft schlug sie die Hände vors Gesicht und klagte darüber, in welchem Ausmass schon alles überfremdet sei. Und jetzt hatte sie dieses Problem im eigenen Haus und am eigenen Hals! Von dem Moment an, da Tsuki erstmals über die Türschwelle getreten war, lag die Grossmutter mit der neuen Schwiegertochter über Kreuz. Was da in ihr Haus und in das Haus ihres Sohnes eingezogen war, empfand sie als falsch. "Das isch falsch," sagte sie, wenn ihr etwas nicht passte. "Falsch" war alles, was ihr fremdartig vorkam. Tsuki wiederum setzte alles daran, die alte Frau in die Schranken zu weisen und zu schikanieren. Über die Kinder durfte nur noch die Stiefmutter bestimmen, während sich die Grossmutter aus allem herauszuhalten hatte. Sie bekam Hausverbot im eigenen Haus. Das heisst: das untere Stockwerk mit ihrer Wohnung war für die Kinder tabu, genauso wie es für die Grossmutter tabu war, eines der oberen Stockwerke zu betreten. So wurde die alte Frau Aenishänslin von jedem nicht überwachten Kontakt zu ihren Grosskindern abgeschnitten. Dem fernöstlichen Hausregime setzte sie ihre bodenständige Sturheit entgegen. Aus Trotz igelte sie sich ein. Die meiste Zeit verbrachte sie vor dem Fernseher, wo sie strickte, ihr Mittagsschläfchen machte - und auch die Mahlzeiten einnahm. Mit Hilfe eines Serviertabletts aus dem Migros-Restaurant löffelte sie das Essen direkt aus der Pfanne, während sie die Nachrichten oder Rudi Carell schaute. So hielt sie die Stellung, die ihr als Grossmutter zustand, und war doch entmachtet. Zur Lockerung dieses erzwungenen Zusammenlebens wurden einige streng reglementierte Ausnahmen erlaubt. Die Kinder durften das untere Stockwerk mit der fernsehsüchtigen Grossmutter immerhin noch an besonderen Tagen wie Weihnachten, Silvester, Ostern oder dem Bundesfeiertag betreten. Dazu gehörten auch Geburtstage, insbesondere der Geburtstag der Sobo (Grossmutter). In Tsukis Heimat standen die Grosseltern in hohem Ansehen. Es ging auch darum, der Grossmutter anstandshalber die Ehre zu erweisen. Dann aber musste alles sehr förmlich ablaufen, sozusagen mit Knicks und Kratzfuss.

Mutter schaute manchmal bei der alten Frau Aenishänslin vorbei, um ihr etwas Selbstgebackenes zu bringen, und nachher sprach sie dann wieder eine ganze Weile über nichts anderes als dieses häusliche Drama, das von einer Thronerschleichung handelte, einem matriarchalen Machtkampf zwischen zwei Kulturen und zwei hartköpfigen Persönlichkeiten. Die alte Frau Aenishänslin tat uns leid. Es war schade um sie, war sie doch ein typisches Grosi, ein herzensgutes, wenn nun leider auch etwas verdrücktes und weinerliches Grossmütterchen, das oft die Hände rang und mit dünner Stimme die Schlechtigkeit der Welt beklagte. 

Für meine Schwester und mich war das aber nicht die richtige alte Frau Aenishänslin. Wir kannten sie ganz anders. Und dass sie fast nie aus der Wohnung kam, war für uns ein Segen. Sie war immer zu Hause, sie hatte unendlich viel Zeit, und sie freute sich über jedes Bsüechli. Auf dem Schulweg schauten wir gelegentlich bei ihr vorbei, vor allem auf dem Nachhauseweg. Ihr Gartensitzplatz lag ja direkt an der Aussentreppe, auf der wir eine Zeitlang täglich zum Baumgärtli hochstiegen. Durch einen überrankten Torbogen gelangten wir zum Sitzplatz mit dem Schönwettertisch und dem Gartenstuhl, und gleich daneben befand sich die untere Haustür, die weder Glocke noch Namensschild hatte. Es war nur ein Sprung dorthin, ein freundliches Hallosagen und ein kleines Schwätzchen kostete nichts. Und wenn die alte Frau Aenishänslin nicht schon im Gartenstuhl sass, brauchten wir nur ans Stubenfenster zu klopfen, und schon schlurfte sie in ihren gefütterten Hausschuhen durch den Gang und öffnete die Tür, um uns freudig zu begrüssen und über die Schule und die Hausaufgaben auszufragen. 

Im Reihenhaus am Ende des Baumgärtlis wohnte die Familie Vandervolk. Auch hier spielte sich ein Drama ab. Und auch hier gab es eine Person, die bei sich zuhause mehr oder weniger eingesperrt war. Seit seinem Schlaganfall verbrachte Herr Vandervolk die meiste Zeit vor dem Fernseher. Hin und wieder packte ihn jedoch eine unerklärliche Wut, dann stürmte er in seinen Pantoffeln in den Garten hinaus und stapfte dort hin und her, wobei er alle paar Schritte stehen blieb und mit knallrotem Kopf und erhobenen Fäusten herumschimpfte. Pflegebedürftig war Herr Vandervolk nicht, höchstens etwas eingeschränkt. Im Haushalt konnte er nur noch das Nötigste machen. Die Kinder - immerhin waren sie zu dritt - nahmen ihm das Eine oder Andere ab. Sie waren Schlüsselkinder, obwohl der Vater immer zu Hause war. Frau Vandervolk ging arbeiten. Für ihren Mann und die Kinder füllte sie einmal wöchentlich den Kühlschrank. Das war natürlich eher eine Geste als eine Versorgungsmassnahme. Indem sie den Kühlschrank füllte, zeigte sie, dass sie die Mutter war. Ihre eigentliche Aufgabe war es, das Geld nach Hause zu bringen. Am Morgen stöckelte sie geschminkt, in einem Hosenanzug und einem dunkelblauen zweireihigen Mantel auf den Bahnhof, und abends stöckelte sie genauso wieder nach Hause. Sie war im Business tätig, war zackig in der Geschäftswelt unterwegs, und trotzdem war sie auch noch Mutter. Für sie und die Kinder war die häusliche Situation bestimmt nicht einfach. Der Schlaganfall, das Schlägli, wie wir sagten, hatte den schon ziemlich betagten Herrn Vandervolk stark verändert. Er konnte sehr nett und gemütlich sein, aber auch plötzlich wieder ausrasten und im Garten herumschimpfen, ohne irgendein verständliches Wort von sich zu geben. Wir Kinder hatten manchmal etwas Angst vor ihm, aber die Erwachsenen versicherten uns, dass er nicht böse sei und nichts dafür könne. Es sei halt das Schlägli

Die Kinder der Vandervolks hiessen Michi, Oski und Christina. Oski, der Älteste, war schon mit dreizehn oder vierzehn ein Töfflibube, oft traf er sich mit Gleichaltrigen, ebenfalls Töfflibuben, mit denen er durchs Quartier flitzte. Er hatte den Ruf eines Tunichtguts. Christina war sehr still und freundlich, die gute Seele im Haus. Michi, der Jüngste, war ein Jahr älter als ich, und mit ihm freundete ich mich an, als ich ins Schulalter kam. Wir teilten uns einen Detektiv-Kasten und verkleideten uns als Kommissare. Wir durchstreiften die Wiese am Homberg und kletterten auf Bäume. Wir stritten und versöhnten uns. Wir machten alles, was Jungs in diesem Alter so machen. Ich bewunderte seinen Wagemut. Und sicher war da auch etwas Neid dabei. Ich beneidete Michi um seine Freiheiten. Er war ein Schlüsselkind mit weitreichenden Kompetenzen. Und darüber hinaus genoss er auch noch das Privileg, an die Rudolf Steiner-Schule gehen zu dürfen, wo man alles anders machte und alles durfte und es kein Richtig und Falsch gab: ausser in der Polizeilehrstunde, wo man den Strassenverkehr durchnahm. Nie sah ich ein Schulheft auf seinem Schreibtisch, nie musste er etwas ins Reine schreiben, und Noten kannte er nur aus dem Musikunterricht. Die Schule war für ihn kein Zwang und auch keine Zwangsbeglückung, er ging gern zur Schule, was ich kaum begreifen konnte. Er führte ein Lotterleben. Er durfte vieles, das ich nicht durfte. Er durfte zum Beispiel ultrahocherhitzte Milch trinken. Im Kühlschrank, den seine Mutter gelegentlich auffüllte, gab es literweise Packungen davon. Die ultrahocherhitzte Milch (oder UHT-Milch, wie es auf den Packungen hiess) schmeckte mir viel besser als die gesunde Trink- und Frischmilch, die es bei uns zu Hause gab. An der ultrahocherhitzten Milch mochte ich den für mich ungewohnten cremigen Beigeschmack. Ansonsten schmeckte sie ähnlich wie unsere Milch, denn Milch bleibt Milch, wenngleich es eine Ähnlichkeit war, in der sich Fremdes und Vertrautes mischten. Gleichermassen fremd und vertraut war mir auch die Wohnung der Vandervolks. Das Wohngefühl war ein anderes als bei uns, obwohl die Wohnung im Baumgärtli 7b mit unserer Wohnung im Baumgärtli 6b absolut baugleich war, der Grundriss war nicht mal spiegelverkehrt wie bei der Wohnung nebenan im gleichen Haus. Trotz dieser Übereinstimmung betrat ich bei den Vandervolks ein anderes Zuhause, ein Zuhause, bei dem ich schon im Eingangsbereich merkte, dass ich hier nicht zu Hause war. Und es auch niemals sein würde. Das Garderobenkästchen stand am falschen Ort, wie überhaupt alle Möbel nicht dort standen, wo sie eigentlich hingehörten, die Vorhänge waren zu dick, die Seife war parfümiert und stammte nicht aus der Migros, war also keine Schweizer Standard-Seife, die Böden und Wände strömten einen befremdlichen Farb- und Leimgeruch aus, die Küche roch nach unbekannten Gewürzen, die Teppiche fühlten sich ungewohnt borstig an, überall Nippesfiguren, die bei uns sofort im Müll gelandet wären, und die Einbauschränke aus Massivholz strotzten vor Unzweckmässigkeit. Das alles gefiel mir nicht. Das Einzige, was mir bei den Vandervolks gefiel, war die ultrahocherhitzte Milch. 

Michi war nicht mein einziger Freund aus der Nachbarschaft. Die Familie Frei vom oberen Baumgärtli besass einen stattlichen Berner Sennenhund, einen gutmütig daherzottelnden Bären, mit dem ich mich sehr gut verstand. Passenderweise durfte er frei herumlaufen, die Familie Frei machte ihrem Namen alle Ehre. Wabbelnd, schlabbernd und hechelnd sprang er an mir hoch und warf mich um. Ich umklammerte ihn, während wir uns auf der Wiese hin und her wälzten. Wir lieferten uns Ringkämpfe, die ich natürlich immer verlor. Sobald er auf mir droben war, leckte er mich ab. Wir hatten ein echtes Vertrauensverhältnis. Nach jedem Ringkampf war meine dunkelgrüne Parka von oben bis unten vollgesabbert, und ich roch so intensiv nach Hund, als hätte ich in einem Hundezwinger übernachtet. Und das war noch der angenehmste Geruch, den ich bei solchen Gelegenheiten nach Hause brachte. Manchmal wälzten wir uns auf einem frisch gegüllten Acker, und nachher musste ich meine Jacke umstülpen, damit Mutter nichts merkte. 

Oben, gegen die Höfe der Allersegg zu, zweigte, parallel zum unteren Baumgärtli, ein zweites Baumgärtli vom Farnsbergweg ab. Dieses zweite oder obere Baumgärtli war ebenfalls eine Sackgasse, und erst viel später wurde das untere Baumgärtli zu einer Schlaufe erweitert, die oberhalb des oberen Baumgärtlis in den Farnsbergweg einmündet und den heutigen Baumgärtliring bildet. Das obere Baumgärtli, um das diese Schlaufe herumführt, ist eine Sackgasse geblieben und heisst jetzt nicht mehr "Baumgärtli", - so wie früher, als es einfach nur das Baumgärtli war, im Unterschied zum unteren Baumgärtli, dem eine postalische Präposition beigefügt war. Heute heisst das obere Baumgärtli "Im Baumgärtli". Es hat also die postalische Präposition des unteren Baumgärtlis übernommen, wohingegen das untere Baumgärtli heute "Baumgärtliring" heisst, wegen der weiterführenden Schlaufe, die das untere Baumgärtli nun auch von der anderen Seite her mit dem Farnsbergweg und dem oberen Baumgärtli verbindet. Dank dieser Erweiterung führt nun das untere Baumgärtli über die Höhe des oberen Baumgärtlis hinaus, sodass man strenggenommen kaum noch von oben und unten reden kann. Früher aber liefen die beiden Strassen zur Gänze parallel, zwei verschwisterte Sackgassen, die sich am deutlichsten dadurch unterschieden, dass die eine oben und die andere unten war. Um die beiden Strassen - die Strasse namens "Im Baumgärtli" und die Strasse namens "Baumgärtli" - in der Rückschau auseinanderhalten zu können, ist es am einfachsten, man redet vom oberen und vom unteren Baumgärtli. Die Hanglage hat die beiden Baumgärtli nachhaltig definiert. Oben und unten sind irgendwie zeitlos. Schon damals war das obere Baumgärtli oben und das untere Baumgärtli unten, und so ist es bis heute, auch wenn oben und unten nur noch von den Strassenanfängen her definiert werden können. Das untere Baumgärtli ist keine Sackgasse mehr, es hat sich nach oben hin erweitert. So praktisch das für die Autofahrer ist, die nicht mehr rückwärts fahren oder wenden müssen, wenn sie das untere Baumgärtli verlassen wollen, so verwirrend ist es für jemanden, der sich an den früheren Zustand erinnert und das Oben und Unten von damals mit dem Oben und Unten von heute in einen erinnerungstechnischen Vergleich setzt. Obschon die Neubauhäuser der Siebzigerjahre wie auch die etwas nobleren Häuser der Zwischen- und Nachkriegszeit immer noch dort stehen, wo man sie hingestellt hat, hat sich der ganze Hangabschnitt zwischen dem oberen und unteren Baumgärtli, dem Langmattquartier und dem beim Mahrenweg gelegenen Unterwerk Ormalingen stark verändert. Die Siedlungslücken sind geschrumpft, die üblichen Neubauhäuser, quaderförmig, aus Glas und Beton und mit Kübelpalmen auf den Balkonen, stehen wie Origami-Schachteln am Hang aufgereiht. Diskrete Landschaftsverschandelung. Aber vieles ist auch noch wie früher. Zum Beispiel gibt es immer noch die beiden Baumgärtli, die irgendwie zusammengehören und die man gerade deshalb streng auseinanderhalten muss. Heute ist das einfach, weil das untere Baumgärtli zum Baumgärtliring erweitert worden ist. Damals, als das obere Baumgärtli noch Baumgärtli hiess, war es ja so, dass seine Anwohner ihre Adresse mit der postalischen Präposition des unteren Baumgärtlis angaben. Oder besser gesagt: angeben mussten, weil die Sprache gar nichts anderes zuliess. Sie sagten also nicht: "Ich wohne am Baumgärtli." Und noch weniger sagten sie: "Ich wohne im Baumgärtli ohne im." Wenn sie ihre Adresse angaben, sagten sie das Gleiche wie die Anwohner des unteren Baumgärtlis. Sie sagten: "Ich wohne im Baumgärtli." Dabei war das ja eigentlich unsere Strasse! Wir, im Baumgärtli 6b, waren diejenigen, die im Baumgärtli wohnten. Unser Baumgärtli war das untere Baumgärtli, das Baumgärtli, das eben nicht einfach das Baumgärtli war, sondern eine vorangestellte Präposition hatte. Laut Strassenverzeichnis oder Telefonbuch wohnten wir "Im Baumgärtli". Und gleichzeitig nannten wir unsere Strasse "Baumgärtli", ohne uns darum zu kümmern, dass das Baumgärtli ohne Präposition eigentlich das obere Baumgärtli war. Man konnte das drehen und wenden, wie man wollte: die Benennung wie auch die Adressierung war immer nur halb richtig. Wir wohnten zwar, postalisch gesehen, "Im Baumgärtli" und sagten, der üblichen Ausdrucksweise folgend, dass wir im Baumgärtli und nicht am Baumgärtli wohnten: aber das taten eben auch die Anwohner des oberen Baumgärtlis, wenn sie von ihrem Baumgärtli sprachen, dem Baumgärtli ohne Präposition. Dieses Durcheinander, das eigentlich nie ein Problem war, weil es niemandem auffiel, ausser vielleicht dem Briefträger, löste sich klammheimlich auf, als das untere Baumgärtli ("Im Baumgärtli") zum Baumgärtliring wurde. Damit schloss sich ein Kreis, die Strassen konnten umbenannt werden, und seither, da bin ich mir sicher, ist man auf dem Postamt von Gelterkinden heilfroh, dass der Briefträger keinen Hochschulabschluss mehr braucht, wenn er in der Gegend des Hombergs die Post austrägt. 

Das untere Baumgärtli war keine völlig neue Strasse, und auch die Häuser waren nicht alle neu. Neu war nur der hintere Strassenabschnitt, die drei Häuser, in denen wir, die Ruppens, die Vandervolks, die Aenishänslins die Grafs und später auch noch die Vizzardis wohnten, mehrheitlich Familien mit Kindern. Hier ging man zur Schule und pendelte zur Arbeit. Der vordere Strassenabschnitt war schon etwas älter, typische Nachkriegshäuser mit vergitterten Parterrefenstern, gemörtelten Gartenmauern und grossen, baumbestanden Gärten. Hier wohnten die Alten, die Ruheständler. Hier hatte man sich auf sein Altenteil zurückgezogen, besprühte Rosen, pfropfte Bäume, schnitt Hecken, machte dies und das und bekam hin und wieder Besuch von den erwachsenen Kindern, die in den meisten Fällen auch schon Kinder hatten. In den beiden Häusern beim Strasseneingang, oben und unten am Farnsbergweg, wo unsere Wohnstrasse abzweigte, wohnten zwei Brüder, die ich "Schulze und Schulze" nannte. Es waren die Hunziker-Brüder. Einer war das Spiegelbild des andern. Sie glichen sich aufs Haar, bzw. auf die Halbglatze, was umso seltsamer war, als sie gar keine Zwillinge waren. Jedenfalls soweit man wusste. Meine Schwester konnte die Brüder zuverlässig unterscheiden. Nach der Schule, auf dem gemeinsamen Nachhauseweg, demonstrierte sie mir das einmal sehr eindrücklich. Beim Aufstieg zum Baumgärtli kam uns einer der Hunziker-Brüder entgegen, und sofort sagte sie: "Das ist der Untere." Ich stutzte. Ich kam ins Grübeln. Es war mir unmöglich, den Unteren als den Unteren oder den Oberen als den Oberen zu identifizieren - und schon gar nicht aus der Distanz. Meine Schwester war gut im Memory-Spiel. Vielleicht hatte es mit dieser Fähigkeit - einer speziallen Merkfähigkeit - zu tun, dass sie Unterschiede erkennen konnte, wo ich nur Ähnlichkeiten sah. Der Obere oder Untere. Sei das nicht Hans was Heiri? fragte ich sie. Woran sie das denn erkennen könne? - Der eine sei ein bisschen netter als der andere, sagte sie. Eine Antwort, aus der ich beim besten Willen nicht schlau wurde. Der nettere Hunziker wohnte oben, der weniger nette unten, und ich weiss noch, dass am Gartenhag des unteren (des weniger netten) Hunzikers ein paar Johannisbeersträucher standen, von denen wir manchmal naschten. Leider war Frau Hunziker (die Frau des weniger netten Hunzikers) häufig mit Gartenarbeiten beschäftigt, und sobald wir über den Gartenhag hinweg nach den Beeren grapschten, kam sie wie eine Wespe herbeigeschossen und wies uns zurecht. Sie war halt die Frau des weniger netten Hunzikers. 

Der Netteste unter den Alten war zweifellos Alt-Kantonsrat Pfister, der immer fröhlich und mehr als nur oberflächlich nett grüsste, obwohl er direkt neben dem weniger netten Hunziker wohnte. Täglich spazierte er mit seiner Ledermappe, seinem Globi-Béret und einer dampfenden Pfeife im Mund ins Dorf oder zum Bahnhof hinab. Zum Grüssen nahm er die Pfeife aus dem Mund, manchmal lüftete er andeutungsweise sein Béret, und manchmal blieb er stehen, um ein wenig zu plaudern, er wirkte überhaupt nicht gehetzt, obwohl er wahrscheinlich einen vollen Terminkalender hatte. Auch als Ruheständler war er noch lange sehr aktiv und nahm am öffentlichen Leben teil, hatte da und dort einen Einsitz und mischte überall ein bisschen mit, aber immer mit der Pfeife im Mund und einem gelassenen Schmunzeln, als sei das alles nicht so wichtig. Er wusste sehr wohl, dass er sich jederzeit zurückziehen und sich wie die andern Senioren der Rosenpflege widmen konnte. Er wusste aber auch, dass er noch gefragt war, seiner Altersklugheit und politischen Erfahrungen wegen, und die erhöhte Hanglage war der ideale Ort, um sich abzusetzen und trotzdem alles im Blick zu behalten. Der alte Pfister war der Grossvater von Alex, mit dem ich zur Schule ging. Dessen Vater Ueli, Sohn des alten Pfisters, war ein bekannter Anti-AKW-Aktivist. Er war immer mit dem Velo und einem Veloanhänger unterwegs. Und wie alle Alternativen trug er einen weitmaschigen, indiomässig gemusterten Strickpullover aus dem Drittweltladen. Wenn es regnete, trug er unter der Velo-Pelerine einen Poncho aus Alpakawolle, weil er sich weigerte, ein Imprägnierspray in die Hand zu nehmen. Als Alternativer war er stark daran interessiert, die Welt zu verbessern, sie zu einem Ort zu machen, der uns Kindern eine lebenswerte Zukunft ermöglichte. Was ihm noch fehlte, war ein Olivenzweig im Haar. Er war nicht nur für Umweltschutz, sondern auch für Frieden. Als Ronald Reagan zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, sagte Ueli zu seinem Sohn: "Sohn, mach dich auf etwas gefasst, jetzt geht dann bald die Welt unter!" Alex, der diese wichtige Neuigkeit natürlich nicht für sich behalten wollte, erzählte es mir aufgeregt weiter. Und von da an wusste ich, was Sache war. Mit diesem Reagan würde alles den Bach runtergehen. Das eigentliche Dauerthema bei den Pfisters war jedoch das AKW Kaiseraugst. Und ich weiss noch, wie sich vor dem Pfister-Haus ein kleiner Demonstrationszug versammelte, bestehend aus bewimpelten Velos, Strickpullovern, Wollmützen, Araberhalstüchern, Latzhosen und ungekämmten Haarschöpfen, ein Saubannerzug, der sich unter Uelis Führung aufmachte mit Schellen, Rasseln, Trillerpfeifen, Schlauchtrompeten, Blechdosen, Kochlöffeln, Pfannen, Fähnchen und Transparenten das AKW-Gelände von Kaiseraugst zu besetzen. Es war "ein Kampf um die Zukunft unserer Kinder", wie es hiess, und Ueli, langbeinig und hager wie Don Quichotte, warf sich der Atomlobbby und der Staatsmacht trotzig entgegen. Vielleicht war Ueli das Erfolgreichste, was der alte Pfister in seiner langjährigen politischen Laufbahn zustande gebracht hatte, denn das AKW Kaiseraugst wurde nie gebaut. 

Gegenüber den beiden Doppelhäusern, in denen wir und die Vandervolks wohnten, lief eine mit Abflusslöchern versehene Betonmauer bis zum Strassenende, und oben, etwas zurückgesetzt hinter Tamarisken und Atlas-Zedern, verbarg sich die ebenerdige Villa der Dills. Der Garten war nicht riesig, nicht übergross, aber mit seinen ordentlich gepflanzten Büschen und Bäumen doch eine Art Park. Passend dazu fuhr der alte Dill einen riesigen Schlitten, eine Segelyacht auf vier Rädern. Die Garage, eine Doppelgarage mit entsprechend grossem Vorplatz, war das Bootshaus. Um die Yacht, den Schlitten oder Wagen in die Garage hineinzufahren, brauchte der alte Dill eine geschlagene halbe Stunde. Und eine weitere halbe Stunde brauchte er, um die Rückspiegel und die Windschutzscheibe zu putzen. Beim Hinausfahren war es ähnlich. Es zog sich mit ganz bestimmten rituellen Handlungen sehr lange hin. Garagentor aufmachen, mit einem Lappen am Kühler rumfummeln, die Kette bei der Einfahrt aushängen, ins Auto einsteigen, Motor anlassen, Auto rausfahren, Motor abstellen, aussteigen, Garagentor zumachen, wieder einsteigen, den verstellten Sitz richtig einstellen, Motor erneut starten, aus dem Garagenvorplatz rausfahren, Motor abwürgen, aus dem Auto raus, Kette wieder einhängen, ins Auto zurück, Gurt befestigen, Motor an, ein paar Schritte fahren, mit einem Ruck anhalten, Motor ab, Gurt ab, nochmals aussteigen, fluchend, weil das Eingangstörchen noch offen steht, wieder ins Auto zurück, erneut Gurt befestigen, Motor an, Gas geben, nochmals halten, weil die Frau mit dem vergessenen Brillenetui angerannt kommt, Wagenfenster runterkurbeln, Brillenetui in Empfang nehmen, Brille aufsetzen, der Frau Tschüss sagen, Wagenfenster raufkurbeln, Motor anlassen, jetzt aber richtig, Sonnenblende dem Sonnenstand anpassen, Gurt anfassen, jawohl, man ist angegurtet, Hände ans Steuer und endlich, endlich losfahren, raus aus dem Baumgärtli. 

Auf der andern Strassenseite, gegenüber dem Garagenvorplatz der Dills und neben der grossen Pappel, die jeden Frühsommer ihre klebrige Wolle in die umliegenden Gärten verstreute, wohnte die alte Frau Bürgin. An ihren Mann habe ich überhaupt keine Erinnerung. Ich bezweifle sogar, dass ich ihn jemals zu Gesicht bekommen habe. An die dramatischen Autritte seiner Frau erinnere ich mich hingegen sehr gut. Sie bleiben mir unvergesslich. Es ging dabei immer um ihre Tulpen, bzw. um die Zerstörung dieser Tulpen mittels schlecht gezielter Ballschüsse. Der Schütze war meistens Thomas von den Aenishänslins. Er verschoss nicht jeden Ball, aber wenn er einen verschoss, war das Schlamassel angerichtet. Schon ein klein wenig daneben, und es war um die Tulpen geschehen. Thomas war kein Tulpenfreund. Und er war auch kein Freund der Frau Bürgin, die ihre Tulpen so resolut in Schutz nahm. "Das isch kei Tschuttiplatz do!" schimpfte sie, wenn Thomas oder sonst jemand (meistens Thomas) den Ball aus ihrem Garten holen musste. Jahrelang sagten wir: "Das isch kei Tschuttiplatz do!" Das sagten wir immer dann, wenn jemand mit dem Fussball auf die Strasse rauskam. Es war eine ironisch-trotzige Aufforderung zum Fussballspielen und zugleich eine Mahnung, es nicht zu übertreiben. Frau Bürgin lag unfehlbar auf der Lauer, sobald sie das Bäng-bäng des auf dem Asphalt aufschlagenden Fussballs hörte, und wir konnten sicher sein, dass jeder Fehlschuss in der Nähe ihres Vorgartens zum Tulpen-Massaker wurde. Vor allem, wenn der Schütze Thomas Aenishänslin hiess. Mit der Zeit und nach zahllosen Reklamationen gewöhnten wir uns an, das Fussballspielen in den hinteren Teil des Baumgärtlis zu verlagern, wo wir zwar weniger Platz hatten, aber unbeschwerter drauflosbolzen konnten. 

Im Winter hatten wir am Homberg die ideale Abfahrtspiste. Oder besser gesagt Schlittelbahn. Mit unsern Schlitten und Bobs sausten wir vom oberen Baumgärtli zum Langmattweg hinunter, wo wir über das Grasbord hinausschossen und auf den schneebefreiten Asphalt knallten. Steuerten wir nach rechts, wenn wir denn überhaupt zu steuern in der Lage waren, ging es am Brombeerhügel aus aufgeschütteter Erde, den wir den kleinen Mount Everest nannten, jäh ein Stückweit hinauf und mitten in die Dornen hinein. Neben dem kleinen Mount Everest lief der Garten der Aenishänslins auf mehreren Etagen bis zum Kiesweg vor der Bahnböschung hinab. Es war der Garten, der nie fertig wurde, und Vater Aenishänslin war der Gartenbaumeister. Mit der immergleichen dampfenden Pfeife im Mund machte er sich in jeder freien Minute an seinem Lebensprojekt zu schaffen: dem rutschfesten Garten. Immer gab es da etwas umzubauen oder neu herzurichten. Immer gab es etwas zu verbessern oder auszubessern. Immer gab es da etwas zu befestigen oder zu sichern. Immer gab es da etwas, das noch lotterte, schlackerte oder rutschte. Immer gab es da etwas, das noch nicht fest genug gemauert, gehämmert oder eingepflockt war. Oder es gab noch Ergänzungen, Erweiterungen, Sachen zum Aus- und Weiterbauen. Gut war nie gut genug. Und fertig war die Arbeit erst am Sankt Nimmerleinstag. Mit der gleichen Gewissenhaftigkeit, mit der er bei der Dorffeuerwehr das Amt des Brandursachenermittlers versah, verbaute er über Jahre hinweg Sandstein, trug Erde ab, legte Etagen und Unteretagen an, platzierte Findlinge, schlug mit der Pfahlramme Pflöcke und Bahnschwellen ein, errichtete Stützmauern, goss das Fundament des Gartenhäuschens mit Beton aus, strich Schutzlackierungen, verlegte Trittplatten aus Naturstein, schüttete Kies aus, pflanzte Bäume und Hecken - und das alles, um den Hang zu sichern, der laut einem geologischen Gutachten nicht besonders stabil war. Bei starken Regenfällen konnte das Erdreich, wenn es nicht genügend befestigt war, ins Rutschen kommen und alles mit sich ins Tal hinabreissen. Theoretisch musste man mit so etwas rechnen, das Risiko war da: aber eben nur theoretisch. Die andern Anwohner des Baumgärtlis machten sich keinen grossen Kopf um diese Sache. Wieso sollte man wegen einer solchen Unwahrscheinlichkeit besorgt sein? Schliesslich lebte man im Verstrahlungsbereich dreier AKWs, wobei zwei weitere in Planung waren, eines in Kaiseraugst und eines im grenznahen Deutschland. Damit musste man leben, ob man wollte oder nicht, man hatte die Brennstäbe direkt am Hintern, und ein Atomkrieg war auch nicht so unwahrscheinlich. Jederzeit konnte der Dritte Weltkrieg ausbrechen. Früher oder später würde es kesseln, und die Schweiz wäre mittendrin, quasi zwischen den Fronten, wo man mit dem neutralen Schweizer-Fähnlein auch nicht mehr so viel ausrichten konnte. Hier musste man wirklich besorgt sein und Vorsorge treffen. Sobald die Sirenen losheulten und es kein Probealarm war, hatte man klare Anweisungen zu befolgen. Für Leute, die nicht schon durch den Militärdienst oder Zivilschutz eingeweiht und vorbereitet waren, gab es auf der Gemeindeverwaltung informative Broschüren, und sogar im Telefonbuch gab es Anweisungen, wie man sich bei Sirenenalarm korrekterweise verhalten sollte. Im ABC-Schutz-Handbuch - ich blätterte manchmal in einem Exemplar, das Vater aus dem WK (dem militärischen Wiederholungskurs) mitgebracht hatte - stand alles drin, was man dazu wissen musste. Auch mit vielen Hintergrundsinformationen, zum Beispiel über den Verstrahlungsgrad, wie man den einschätzen konnte. Das Wichtigste war der Schutzraum. Jedes Haus hatte einen Schutzraum, und ein Doppelhaus wie unseres hatte sogar zwei Schutzräume, einen für jede Wohneinheit. Das war nichts weiter als ein Keller, kaum grösser als eine Abstellkammer, aber durch dicke Wände geschützt. Hier konnte man im Ernstfall die Panzertür hinter sich zuziehen und die Filterpumpe deplombieren, und jede Familie hatte auf einem Wandregal ein paar Notvorräte eingelagert. Die selber gemachte Ananaskonfitüre zählte natürlich nicht dazu. Wobei das immer noch besser war als nichts. Vor diesem Bedrohungshintergrund erschien das, was Vater Aenishänslin mit seinem Garten anstellte, als harmlose Marotte. Die Nachbarn nannten ihn e Chrampfisiech. Ein Chrampfisiech ist ein arbeitswütiger Mensch, jemand, der alles in seine Arbeit hineinsteckt und trotzdem nie fertig wird damit. 

Nach dem Wegzug der Grafs, eines älteres Ehepaars, an das ich mich nur noch undeutlich erinnere, wurden die Vizzardis unsere neuen Nachbarn: Vater Vizzardi, Mutter Vizzardi, der Sohn Ivan und das Meerschweinchen Wuscheli. Mit den Vizzardis teilten wir nicht nur das Doppelhaus, in dem man Wand an Wand wohnte, unter demselben Dach und mit einem einzigen Kamin für beide Wohnparteien. Oftmals teilten wir auch den Tisch und diverse Gaumenfreuden. Wir luden uns gegenseitig zum Essen ein, und während die Vizzardis bei uns in den Genuss einer gepflegten Schweizer Landküche kamen, mit Spätzli, Rosenkohl, Hackbraten und ähnlichem, war für uns jedes Nachbarschaftsessen wie eine Reise nach Italien. Zwanzig Schritte - und wir waren an der grünblauen Adria, in der nebligen Poebene, in der sonnigen Toskana, im stolzen Latium, im kargen Sizilien oder in den apulischen Bergen. Herr Vizzardi war Apulinese. Seine Frau war eine von hier, eine Handschin, was man aber gar nicht unbedingt merkte. In der Küche war sie eine lautstark hantierende Italienerin, raumgreifend und resolut wie eine Matrone. Ihr Kochlöffel war grösser als ein Nudelholz, und die Kochpfanne glich einem Kannibalentopf. Meistens gab es eine Polenta mit einem saftig geschmorten Ossobuca alla Milanese und dazu (für die Erwachsenen) einen apulischen Rotwein aus einer Plastikgallone mit der Aufschrift "Vino". Und das war erst die Vorspeise. Und so war es immer bei den Vizzardis: sobald man meinte, das sei es jetzt gewesen, kam noch etwas Grösseres auf den Tisch. Sobald man meinte, das genüge jetzt aber so langsam, man bringe keinen Bissen mehr runter, rief Frau Vizzardi aus der Küche: "Sammelt die kleinen Teller ein! Die Hauptspeise kommt!" Der Sohn Ivan, der ganz versessen war auf Tom und Jerry-Filme und lachen konnte wie ein Irrer, wurde für mich und meine Schwester ein unentbehrlicher Spielgefährte. Obschon ein Einzelkind, passte er sich gut ins Baumgärtli ein und war bald überall dabei. 

Hin und wieder kam die Nonna aus dem fernen Apulien angereist, tiefschwarz gekleidet im ewigen Witwenstand und beinahe zahnlos, ein Mütterchen, das gebeugt an einem Stock ging. Sie verbrachte jeweils ein paar Tage im Baumgärtli, für Mutter eine gute Gelegenheit, ihr Italienisch aufzufrischen. Sie hatte es mit den beiden TV-Knetfiguren "Rosso e Blu" auf ein ferientaugliches Niveau gebracht. Der Wortschatz reichte knapp für den Brotkauf oder den Tretbötchenverleih. Mit der Nonna unterhielt sie sich über das Wetter oder die Küche. Oder vielleicht auch über Fussball, ein Thema, für das man 1982 nur drei italienische Wörter zu kennen brauchte: "Vittora! Vittora! Vittora!" ("Sieg, Sieg, Sieg!") 1982 wurde Italien wieder einmal Fussballweltmeister. Die Nonna war auch da, und alles passte. Natürlich sahen wir das Finale bei unsern Nachbarn. Vor dem Anpfiff gab es apulischen Rotwein (für die Erwachsenen) und Polenta mit irgendeinem Hauptgericht. Das Essen war ausnahmsweise unwichtig. Nachher, beim Anpfiff, sassen wir mit dem hausgemachten Mascarpone vor dem Fernseher. Der Ball kam ins Rollen, und die Fieberkurve stieg, als Rossi, Tardelli und Altobelli gegen die Deutschen einen Treffer nach dem andern erzielten. Und dann brach es los, das Erdbeben, von dem auch unser Haus und das Baumgärtli erfasst wurde. Als die letzte Gegenoffensive gescheitert war und der Weltmeister endlich feststand, fiel Vater Vizzardi vor dem Fernseher auf die Knie und küsste weinend die Mattscheibe. Zuerst küsste er die Mattscheibe, und als die Siegermannschaft endlich ausgeblendet wurde, küsste er auch noch seine Mutter. "Mamma mia!" 

 

2019