Familienporträt von 1946. Von links nach rechts: meine Grossmutter Hilda Buess, mein Onkel Traugott  oder Traugi Buess, meine Tante Hilda oder Hildi Buess, mein Vater Walter oder Walti Buess, mein Grossvater Walter Buess

Tanti erzählt

Tante Hilda, die Schwester meines Vaters, ist über neunzig Jahre alt. Ich habe sie mit dem Tonband besucht und sie von früher erzählen lassen. Sie plaudert über die Familiengeschichte der Eltern (meiner Grosseltern) und über die Kindheit und Jugend in Binningen und Basel in den Dreissiger-, Vierziger- und Fünfzigerjahren.

 

Vaters Herkunft 

Mein Vater ist in Wenslingen aufgewachsen. Sein Vater war Küfer, also Fässlimacher, und er hiess Theophil, weshalb man die Familie "s'Theophils" nannte. In kleineren Dörfern war es damals üblich, die Familie nach dem Vornamen des Vaters zu benennen, weil der gleiche Familienname so oft vorkam. Meine Grossmutter Emma, eine Handschin aus Oltingen, hat in Heimarbeit Seidenbändel hergestellt. Wenslingen war ein winziges Bauernnest. Es gab dort nicht einmal eine Kirche, und die Schule war in einer Scheune untergebracht. Im Winter mussten die Schüler Mäntel, Jacken und Fäustlinge anbehalten. Es gab einen Lehrer für acht Schulklassen. Vater hatte zwei Schwestern, Olga und Emma, und einen jüngeren Bruder namens Traugott. Daneben gab es noch zwei Halbgeschwister, Emilie und Theophil. Die erste Frau des Grossvaters starb im Kindbett, worauf er nochmals geheiratet hat. Zu ihren Stiefkindern war Emma Handschin immer ein bisschen gemein. Sie hat sie buchstäblich stiefmütterlich behandelt. Sie mussten auf dem Estrich schlafen. Auf Familienfotos wurden sie weggelassen, und bei Familienfesten mussten sie am Katzentischchen sitzen. Emilie, die man Miggi nannte, war von Geburt auf leicht behindert, geistig wie körperlich. Sie blieb klein und kindlich und ist nie zur Schule gegangen. Für uns war sie die Tante Miggi. Sie war eine liebenswürdige Person. Mein Vater und sein jüngerer Bruder haben sich oft gegen die Mutter gestellt, weil sie Bedauern mit den Halbgeschwistern hatten. Als diese erwachsen wurden, hat Grossmutter sie zu Bauern in der Nachbarschaft geschickt. Miggi durfte in der Küche helfen, Theophil auf dem Feld. Miggi blieb auf dem Bauernhof, bis sie 65 war, bis fast zu ihrem Tod. Für kurze Zeit kam sie dann noch in ein Altersheim. Theophil, ihr Bruder, übernahm ein Gütli irgendwo am nördlichen Dorfrand hinter dem Schwibbogen. Das wurde möglich, weil er die Bauerntochter geheiratet hatte. Die beiden Halbgeschwister waren uns stets präsent. Vater ist mit ihnen in Kontakt geblieben. Sie haben ihn häufig in der Bäckerei besucht. Oder wir sind zu ihnen nach Wenslingen gefahren. Wenn Miggi zu uns auf Besuch kam, ist sie von ihren Leuten in Tecknau auf den Zug gebracht worden, und Vater hat sie dann in Basel abgeholt. Er bezahlte ihr das Bahn- und Trambillett. Sie kam gern zu uns. Sie hing sehr an unserm Papa. 

 

Mutters Herkunft 

Meine Grossmutter mütterlicherseits, eine ledige Schwob, ist in Pratteln aufgewachsen, als Tochter eines Sattlers. Sie hat Plätterin gelernt. Man könnte auch Wäscherin sagen. Sie hat Wäsche gewaschen, geplättet und schön zusammengefaltet. Sie arbeitete in Rheinfelden im Hotel Eden, einem Kurhaus mit Salzwasserbädern. Die Betten mussten immer perfekt sein, die Bettwäsche wurde gestärkt, und die Plätteisen wurden noch mit Kohlen und Briketts erhitzt. Der Grossvater war ein Albiez. Er stammte aus Herrischried im Schwarzwald. In Strassburg hat er die Metzgerlehre gemacht, und sein Metzgerhandwerk hat er dann hauptsächlich in der grenznahen Schweiz ausgeübt, unter anderem in Möhlin und Pratteln. Hilda, unsere Mutter, war die Älteste von vier Geschwistern. Irma war die Jüngste, Emil (Götti Migger) der Drittälteste und Emma die Zweitälteste. Grossvater war sehr temperamentvoll und etwas vierschrötig, ein Choleriker. Als kleiner Bub war Walti einmal bei den Grosseltern zu Besuch. Zum Vergnügen durfte er das Unkraut im Garten ausrupfen. Dabei hat er versehentlich ein junges Pflaumenbäumchen ausgerissen. Das gab natürlich ein Donnerwetter! Ursprünglich kamen die Albiez aus Frankreich, aus einer Ortschaft namens Albiez-le-Vieux in den Savoyen, es waren Bergbauern gewesen. Irgendwann im vorletzten Jahrhundert wanderten ein paar Leute aus dieser Gegend aus und liessen sich im Schwarzwald nieder, wo man die fanzösischen Namen nicht aussprechen konnte und der Einfachheit halber alle Einwanderer aus Albiez als Albiezen bezeichnete. Grossvater hat es freilich nicht lange in Deutschland ausgehalten. Es zog ihn in die Schweiz. Er hat immer gesagt, dass es bei den Deutschen "zu stark rumple". Er meinte damit die deutsche Mentalität, die ihm überhaupt nicht passte, vor allem nach seinen Kriegserlebnissen. Obwohl er schon in Pratteln wohnte, als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde er einberufen und musste an die Ostfront. Er geriet in Kriegsgefangenschaft und floh. Nur durch Glück kam er einigermassen unversehrt zurück. Nach dem Krieg wollte er sich dann endgültig in der Schweiz niederlassen. Er beantragte die Schweizer Staatsbürgerschaft. Er war da schon verheiratet, und er wollte sich bei seiner Einwohnergemeinde einkaufen. Doch in Pratteln wollte man keine Deutschen. Danach ist er von Pontius zu Pilatus gelaufen. Bei verschiedenen Gemeinden rund um Basel hat er ein Einbürgerungsgesuch gestellt. Schliesslich wurde er Bürger von Oberwil, obwohl er in Pratteln ansässig war und dort eine Metzgerei hatte. Diese Metzgerei hatte er gekauft, als er aus dem Krieg heimgekommen war, und mit Grossmutter zusammen führte er daneben einen Restaurationsbetrieb. Ohne seine Frau hätte er das unmöglich stemmen können. Sie war halb in der Metzgerei, halb hinter dem Büffet, sie packte überall mit an. Der Albiez-Grossvater war ein Getriebener. Er hatte wenig Sitzleder. Sechs- bis siebenmal ist er mit seiner Familie gezügelt, und er hat auch nicht immer nur als Metzger gearbeitet. Zwischendurch versah er einen Posten als Jagdaufseher und Forstwart. Das war irgendwo im Schwarzwald auf einem herrschaftlichen Landgut. Mutter und Emma sind noch in Deutschland zur Welt gekommen. Der Geburtsort von Emil (Götti Migger) und Irma war Pratteln. 

 

Die Bäckerei in Binningen 

Grossvater hat mit Vater darüber geredet, was er denn werden möchte. Vater sagte, er wolle Gärtner werden. Grossvater schüttelte den Kopf. Damals war das noch kein Beruf, mit dem man eine solide Basis legen konnte. "Wenn du mal heiraten möchtest," sagte Grossvater, "musst du Metzger oder Bäcker lernen. Fleisch und Brot braucht man immer!" In einem Bauerndörfchen wie Wenslingen Metzger oder Bäcker werden zu wollen, war allerdings wenig aussichtsreich. Die meisten Bauern haben selber gebacken - und auch selber geschlachtet. Um eine Perspektive zu haben, musste Vater in die Stadt oder in die nächste grössere Ortschaft gehen. Als Grossvater starb, fiel Vater die ganze Verantwortung zu. Seine Mutter war in Geldfragen völlig unbedarft, und Vater war darum besorgt, dass die Familie eine Existenzgrundlage hatte. Er suchte sich eine Lehrstelle als Bäcker. Er ging nach Sissach und Liestal, um in den Beizen die Zeitungen durchzuschauen. Es gab noch kein Internet, also ging man in die Beiz und blätterte die Zeitungen durch, die man aus dem Zeitungsständer nahm. So fand er eine Lehrstelle an der Klybeckstrasse in Basel. Dort hat er denn auch gewohnt. Früher hat der Lehrling immer bei der Familie des Lehrmeisters gewohnt. Das war so Brauch - und oft auch eine Notwendigkeit. Für Vater wäre es unmöglich gewesen, von Wenslingen nach Basel zu pendeln. In der Folgezeit war er nicht mehr so oft zu Hause. Sein jüngerer Bruder Traugott, der ebenfalls Bäcker werden wollte, ging noch zur Schule, Emma trug sich mit der Absicht, Krankenschwester zu werden, und Olga war kurz davor, eine Lehre als Schneiderin zu machen. Vater besuchte die Gewerbeschule, die damals am Petersplatz war. Neben der Bäckerlehre absolvierte er eine Ausbildung zum Konditor. Heute sagt man "Confisseur". Als Bäcker hat er sehr gerne Pralinen, Läckerli und andere Süssigkeiten gemacht, seine Spezialität waren Bienenstiche, und er liebte es, Torten zu dekorieren. Er lernte Confisseur, weil er baldmöglichst eine eigene Bäckerei aufmachen wollte, mit einer eigenen Konditorei. Schliesslich kam man überein, dass es für alle das Beste sei, wenn man das Haus und das eigene Land verkaufte und aus Wenslingen fortzog. Mit dem Erlös wollte Vater eine Bäckerei kaufen. Viel Geld konnte er nicht herausschlagen: das Landgut umfasste nur ein paar Kirschbäume und einen kleinen Kartoffelacker. Zusammen mit dem Haus reichte das knapp für die Bäckerei in Binningen, die einer Familie Rudin gehörte. Der Sohn wollte Schreiner lernen, und so mussten die Eltern das Geschäft verkaufen. Es lag an der Hauptstrasse von Binningen und hatte eine grosse Laufkundschaft. 

Am Samstagabend, wenn er den Bäckerladen zugemacht hatte, ging Vater mit seinem Cousin Gusti in die Markthallen-Beiz, um sich zu amüsieren. Die beiden Junggsellen hatten es lustig zusammen. Es gab dort eine Bar und einen Tanzboden. Es war die Zeit, als der Albiez-Grossvater seinen Restaurationsbetrieb aufgegeben hatte und sich nur noch als Viehhändler betätigte. Mutter, die älteste Tochter der Familie Albiez, musste zu Hause nicht mehr mithelfen. Stattdessen ging sie im Restaurant Schlotterbeck arbeiten. Das war genau gegenüber der Markthalle, wo sich die beiden Junggesellen regelmässig verabredeten. Mutter arbeitete hinter dem Büffet, sie polierte Gläser und schenkte Wein aus, und spätabends nahm sie den Zug nach Hause, sie wohnte ja noch in Pratteln. Vater und Gusti sahen Mutter jeweils einsteigen, wenn sie auf dem Perron auf Gustis Zug warteten. Und eines Abends sagte Gusti: "Das wäre doch eine für dich. Komm, die hauen wir an. Vielleicht ergibt sich ja was." So lernten sich meine Eltern kennen. 

Mutter kam in einen Familienbetrieb hinein. Das war für sie nicht einfach. Grossmutter, die bis anhin den Laden geführt hatte, tat sich äusserst schwer damit, das Heft aus der Hand geben zu müssen. Mit seiner Mutter und den drei Geschwistern (Traugott, Emma und Olga) wohnte Vater in dem Haus, in dem auch die Bäckerei war. Vater arbeitete in der Backstube, und Mutter kümmerte sich um den Laden und kochte. Der Laden mit der Aufschrift "Bäckerei - Walter Buess - Conditorei" hatte zwei Schaufenster und bestand aus zwei Räumen. An diese schlossen sich die Küche und ein grosser Aufenthaltsraum an, in dem die Angestellten ihre Pausen machten und die Mahlzeiten einnahmen. Um in die Backstube zu gelangen, musste man einen Hinterhof durchqueren, der zur Hälfte mit Glas überdacht war. Wir hatten einen Lehrling, der im Hinterhäuschen zwei Zimmer hatte. Dort logierten auch die Ausläufer. Von 7 bis 12 Uhr belieferten sie Beizen und Hotels, nachmittags hatten sie frei. Oft waren sie auch zur Privatkunden unterwegs. Oft rief jemand an und verlangte eine Wähe oder einen Gugelhopf. Oder einem Restaurant ging das Brot aus, sodass wir für Nachschub sorgen mussten. Wollte man einen Ausläufer beschäftigen, konnte man sich in Basel auf einem Büro melden. Dort wurden Burschen aus dem Welschen vermittelt, die Deutsch lernen wollten. Vom gleichen Büro wurden auch Dienstmädchen vermittelt. Die Ausläufer trugen Hutten, Tragkörbe, die mit Riemen am Rücken befestigt wurden, und zum Austragen der Backwaren standen zwei alte Militärvelos zur Verfügung. Der Lohn betrug 50 Franken, abzüglich Trinkgeld. Mit Trinkgeld wurde nicht geknausert. Das Dienstmädchen war im ersten Stock des Hauptgebäudes untergebracht. Ein Dienstmädchen hatten wir, weil Mutter mit Arbeit überhäuft war. Am Morgen war der Laden rappelvoll. Alle mussten Brot haben. Es gab noch keinen Discounter mit Lastwagenlieferungen von Grossbäckereien. Und frisch gebackene Frischbackbrötli bis Ladenschluss gab es auch noch nicht. Das Dienstmädchen war ein junges Mädchen, das uns Kinder betreut und den Haushalt besorgt hat. Es musste die Betten machen, die Wäsche besorgen, putzen und einkaufen. Dafür hatte sonst niemand Zeit. Mutter und Grossmutter waren vom Laden in Anspruch genommen, Emma lernte im Bürgerspital Krankenschwester, und sie hat auch dort geschlafen, und Olga, die bei ihrer Mutter blieb, lernte Schneiderin und war ebenfalls sehr beschäftigt. 

Die Bäckerei lief gut, aber hinter den Kulissen hat es manchmal etwas rumort. Seit Vaters Heirat war seine Mutter nicht mehr die Chefin im Laden. Diesen Platz nahm nun die Schwiegertochter ein, und Vater hat sie dabei unterstützt. "Es gibt nichts anderes," sagte er. "Meine Frau übernimmt den Laden!" Grossmutter war nun nicht mehr für alles und jedes zuständig, und Vaters Geschwister mussten ins zweite Glied treten. Es war eine unglückliche Situation, das haben wir Kinder immer gespürt. Mutter hat oft geweint, weil sie von der Schwiegermutter und deren Töchtern schikaniert wurde. Traugott war derjenige, der von diesem Konflikt am wenigsten betroffen war. Er war eben erst aus der Schule gekommen und eiferte nun seinem grossen Bruder nach. Er machte beim gleichen Bäcker wie Vater die Lehre. Er war also nicht mehr permanent zu Hause, kam jedoch öfters mal auf Besuch. Er kannte mich, als ich noch sehr klein war. Er wollte Traugis Götti werden. Doch dazu kam es nicht mehr. Kurz vor Traugis Geburt, im Jahr 1935, ist er tödlich verunglückt, als er mit dem Velo in eine Tramschiene geriet. 

 

Der Zweite Weltkrieg 

Als der Krieg ausbrach, ging ich noch in die Grundschule. Weil Basel eine Grenzstadt war, haben wir den Kriegsausbruch sehr direkt mitbekommen. Und als Grenzstadt zwischen Deutschland und Frankreich war Basel gleich doppelt vom Krieg betroffen. Truppen marschierten auf, man sah überall Uniformen, Militärfahrzeuge und Waffen, die Grenzen wurden geschlossen, und in der Schule lernten wir, in den Keller zu gehen. Für uns war dieser Krieg real. Wir hatten ihn täglich vor Augen. Für die Leute landeinwärts, im Oberbaselbiet oder auch in der Innerschweiz, war das Kriegsgeschehen viel weiter weg. Die Schwaben, wie wir die Deutschen nannten, waren plötzlich im Elsass, sie sind über den Rhein gekommen und mit ihren Bodentruppen bis nach Paris und Nordfrankreich vorgestossen. Das hat uns brutal klar gemacht, was Krieg ist. Frankreichs Kapitulation war ein Schock. Bauernhöfe wurden konfisziert, Elsässer wurden aus ihren Häusern geworfen und mussten im Stall übernachten. Und dann kam der Krieg bis vor unsere Haustür. Wegen der Verdunkelung konnten die Alliierten nicht immer erkennen, auf welcher Seite der Grenze sie ihre Bomben abwarfen. In Binningen traf es ein Wohnhaus am Höhenweg, ein Mädchen aus Waltis Schulklasse, 8 Jahre alt, ist dabei ums Leben gekommen. Das war im Dezember 1940. Vom zerstörten Haus haben wir nicht viel gesehen. Die Unglücksstelle war abgesperrt. Aber an den Einschlag kann ich mich noch gut erinnern. Aus irgendeinem Grund hatte die Luftabwehr keinen Alarm gegeben. Und ich weiss noch, wie ich mit Vater vor unserm Haus stand und nach oben blickte, als die Flugzeuge im Anflug waren. Sie hatten zuerst Basel angeflogen, und als wir schon meinten, die Gefahr sei vorüber, machten sie eine Schlaufe Richtung Binningen. Es war kurz nach elf Uhr abends, eine mondhelle Nacht, und wir sahen, wie die Bomben übers Dach flogen und ein Stück weiter oben runterkamen. "Schnell, Hildi!" rief Vater. "Kopf runter! Wir müssen in den Keller!" Und schon folgte der Einschlag. Es hat richtig gekracht. Vater hatte eine militärische Ausbildung, er war etwas Höheres, Füssilier oder Hauptmann, und mit Bomben kannte er sich aus. Immer, wenn die Alarmsirene losging, setzte dieses unheimliche Geräusch ein, ein Brummen und Surren wie von Riesenhornissen. Dann wussten wir: jetzt kommen die Engländer und Amerikaner. Vater hatte das im Ohr. Er konnte sehr präzise einschätzen, ob es Bomben regnen würde oder nicht. Er sagte zum Beispiel: "Die sind noch zu weit oben, man hört es am Motorengeräusch, die können ihre Bomben noch nicht abwerfen. Die fliegen wahrscheinlich nach Frankfurt oder Köln. Für uns besteht keine Gefahr." Wollte ein Pilot Bomben abwerfen, musste er in den Sinkflug übergehen, und sobald das Bombardement vorüber war, zog er das Flugzeug wieder hoch und nahm die normale Flughöhe ein. 

Als die Generalmobilmachung ausgerufen wurde, musste Vater wie alle andern wehrfähigen Männer einrücken, und der Einrückungsbefehl galt auch für Männer, die zu Hause gebraucht wurden. Mutter verwarf die Hände. "Was machen wir jetzt bloss? Ohne euren Vater können wir doch kein Brot backen!" Vater war mit seiner Kompagnie in Ormalingen stationiert. Zum Glück nicht allzu weit weg. Zu Hause schlug man sich irgendwie durch. Der Lehrling half, so gut er konnte, er war im dritten Lehrjahr und sehr belastbar. Unterstützung erhielt er von der Mutter und der Grossmutter. Auch sie mussten ran. Sie mussten den Ofen einheizen, Säcke schleppen und mit dem Brotschieber hantieren. Zu dritt haben sie die schwere Arbeit verrichtet, die im Normalfall eine Männerarbeit war. Sie konnten nur das Nötigste machen. Eines Tages kamen Leute von der örtlichen Lutschutzorganisation, sie trugen blaue Überkleider und wollten Mutter für den Luftschutzdienst aufbieten. Auch das noch! Die arme Mutter, die noch nie Hosen getragen hatte, musste Vaters Überhosen anziehen und jeden Abend nach Ladenschluss in den Luftschutzdienst einrücken. Sie lernte, wie man Feuer löscht, wie man mit Gasmasken umgeht und Kellerräume zuweist. Nach ein paar Wochen war Mutter am Ende ihrer Kräfte. Vater sprach mit seinen Vorgesetzten und erklärte ihnen die Situation. Seine Frau gehe kaputt. Das könne so nicht weitergehen. Ausserdem müsse die Brotproduktion auch in Kriegszeiten gewährleistet sein. Er bekam eine Ausnahmebewilligung. Abends durfte er in die Bäckerei fahren, um die unumgänglichen Arbeiten zu verrichten, und am nächsten Morgen musste er zeitig wieder einrücken. Kam Vater in seinem Militärtenü nach Hause, musste er gleich in die Backstube. Am Abend musste "gehebelt" werden. Dazu füllte man Salz, Hefe, Wasser und Mehl in eine elektrische Maschine, die den Teig knetete. Oder eben "hebelte". Der Teig hat dann zu "haben" angefangen, d.h. er ist aufgegangen. Währenddessen hat sich Vater zwei bis drei Stunden hingelegt. Frühmorgens hat er dann den Ofen angefeuert. Wir hatten einen Ölofen, aber kriegsbedingt mussten wir mit Holz feuern. Von einem Bauern erhielten wir jeden Monat einen Ster Holz. Bevor er wieder einrückte, hat Vater noch das Brot "eingeschossen", d.h. in den Ofen geschoben. Danach ist er mit dem 6 Uhr-Zug zu seiner Kompagnie zurückgefahren. Für ihn war das alles eine Tortur. Vermutlich hat er da seine Herzkrankheit bekommen. 

 

Gemeinsame Kindheit 

Früh schon habe ich im Laden mitgeholfen. Nicht weil ich musste. Ich habe Spass daran gehabt. Ich habe gerne Verantwortung übernommen, auch den Buben gegenüber, die ich oft zum Spielen begleitet habe. Ich war dann die Aufsichtsperson. Wir sind auf Spielplätze gegangen, und sommers besuchten wir hin und wieder das Planschbecken im Schützenmattpark. Manchmal haben mich die Buben überlistet und sind irgendwohin abgehauen, und ich musste sie suchen gehen. Sie haben gerne Dummheiten gemacht, Traugi manchmal mehr als Walti. Aber was der eine gemacht hat, hat der andere nachgemacht. Im Planschbecken des Schützenmattparks gab es einen steinernen Seelöwen, auf den sie raufgeklettert sind, obwohl das gefährlich war. Und im St. Margarethenpark gab es neben dem Spielplatz einen Weiher mit Goldfischen, und für die Buben war es immer sehr verlockend, nach den Fischen zu greifen. Ständig sind sie über das Gatter geklettert, das die spielenden Kinder vom Weiher hätte fernhalten sollen. Ich musste jeweils einschreiten, sonst wäre noch einer ins Wasser geplumpst. Sie waren halt Buben, immer ein bisschen übermütig. Immer musste man aufpassen und sie zurückpfeifen. Auf dem Spielplatz haben sie es mit dem Schaukeln manchmal arg übertrieben. Sie sind zu hoch geschaukelt und wollten immer höher hinaus, und ich musste mit ihnen schimpfen. "Wenn ihr so weitermacht, fliegt ihr noch auf den Mölli!" 

Einmal, als sie in der Nähe unseres Hauses Versteckis gespielt haben, im Hinterhof einer Schmiede, hat sich Walti im Kellereingang zur Waschküche versteckt, und oben hat ihn Traugi gesucht. Da hat Traugi in den Kellereingang hineingebrünzelt, ohne zu ahnen, dass unten Walti kauerte. Er hat ihm also buchstäblich auf den Kopf gebrünzelt. Die beiden Brüder hätten unterschiedlicher nicht sein können. Walti war extrem ordentlich, Traugi extrem unordentlich. Walti hatte seinen Ordnungsfimmel wahrscheinlich von der Schwob-Grossmutter. Die war auch so. Und von Traugi sagten wir immer, er sei dem Teufel vom Karren gefallen. Er hatte viel vom Albiez-Grossvater. Als die Buben noch ein gemeinsames Zimmer hatten, konnte man immer gleich auf einen Blick erkennen, wer auf welcher Seite war. Auf Waltis Seite war immer alles piccobello in Ordnung, und auf Traugis Seite lagen die Unterhosen auf dem Kasten oder unter dem Pult, und wenn es überhaupt eine Ordnung gab, dann war es eine Sauordnung. Die Mädchen haben Traugi bewundert, weil er stark war und ein freches Maul hatte. Er sagte immer, was ihm gerade durch den Kopf ging, auch wenn es Unsinn war, und er trieb gerne Schabernack. Alle Binninger haben Traugi gekannt. Mit dem Nachbarsbub Peterli hat er manchmal Glockenzügli veranstaltet: läuten und abseckeln. Läuten und abseckeln. Die Erwachsenen fanden das nicht immer so lustig, aber für die beiden Buben war es ein Gaudi. Peterli wohnte vis-à-vis bei der Familie Hasler. Oft nahmen wir Peterli mit, wenn wir irgendwohin gingen, auf einen Buben mehr oder weniger kam es nicht unbedingt an. Und oft war auch unsere Grossmutter dabei. Im Schützenmattpark leistete sie uns gerne Gesellschaft. Sie kam dann mit einer Thermoskanne voll Tee und einem Zvieri dazu. Gelegentlich kam sie auch mit uns mit, wenn wir ins Nachtigallenwäldchen gingen. Sie sass dann auf einem Bänkli und hat gestrickt. Später, als die Buben nicht mehr unter Aufsicht standen, haben sie im Nachtigallenwäldchen Kippen aufgesammelt und sich hinter den Bäumen versteckt, um zu rauchen. Oder sie haben an der Birsig gefischt, mit selber gebastelten Angelruten, und die Fische haben sie gebrätelt. 

Am Birsigufer kamen die Abflussröhren des Zoologischen Gartens heraus. Die Röhren führten unter der Zollimauer hindurch und in die Schwimmbecken der Pinguine und Fischotter. Vorne, fast schon bei der Heuwaage, befand sich das grösste und tiefste Bassin. Es gehörte den Eisbären. Die Wärter warfen Futter und Gegenstände ins Wasser, damit die Eisbären das Spiessli machten und eine Extrarunde schwammen, und das überschwappende Wasser floss dann jeweils in die Birsig ab. Es war mit Fäkalien verunreinigt, eine Stinkbrühe. Traugi wollte unbedingt zu den Eisbären, aber nicht durch den Zolli-Eingang, wo man Eintritt zahlen musste, sondern durch den Hintereingang des Wasserablaufs. Mit zwei Kollegen ist er durch die Röhre gekrochen, bis an die Gitterstäbe des Ablaufs heran. Als die Buben wieder heraus kamen, waren sie dreckig bis zu den Ohren und haben fürchterlich gestunken. Er habe einen Eisbären vorbeischwimmen sehen, erzählte Traugi stolz. Ganz nah dran sei er gewesen! Er habe ihn fast berühren können! Er erzählte das überall herum. Er war gerne der Siebensiech. Eine unterirdische Röhre gab es auch im St. Margarethenpark. Dort sind Traugi und seine Kollegen bis unter die Kunsteisbahn spaziert. Sie haben einen alten Kinderwagen hinter sich hergezogen, der beladen war mit Fundstücken, Taschenlampen und Notproviant. Sie haben richtige Höhlenexursionen durchgeführt. Und dann haben wir noch die Rösslihöhli gehabt. Der Allschwiler Weiher hatte einen Ablauf in die Birsig. Immer, bevor die Gemeindarbeiter den künstlich gestauten Weiher geputzt haben, wurde die Schleuse geöffnet und der Ablauf geflutet. Die Röhre war frei zugänglich - und führte kilometerweit nach Osten. In Binningen ging sie unter der Hauptstrasse durch, und die Gemeinde hatte eine Brunnstube, wo Traugi in die Röhre reinkam. Er musste sich nicht mal ducken. Die Röhre war wie ein Tunnel, man konnte darin stehen. Traugi hat auch die Zu- und Nebengänge erforscht, und plötzlich - weiss der Kuckuck, wie das möglich war - stand er im Weinkeller vom Restaurant Rössli. Da muss er sich wohl die Augen gerieben haben! So ist die Rösslihöhli zu ihrem Namen gekommen. Wenn Traugi mit seinen Kollegen die Rösslihöhle erfoscht hat, bin ich mit Walti obendurch gerannt, und wir haben uns am Ausgang aufgestellt, um die Höhlenforscher in Empfang zu nehmen. Meistens sind dann ein paar verschreckte Ratten herausgehuscht, und erst ein paar Minuten später sind dann auch die Höhlenforscher zum Vorschein gekommen.

Beim Birschöpfli, wo die Birs in den Rhein mündet, befand sich ein beliebtes öffentliches Schwimmbad. Weil sich im Zusammenfluss von Rhein und Birs eine starke Strömung entwickeln konnte, war das Schwimmbad für Kinder und andere Schwimmanfänger nicht so geeignet. Vater ging mit uns lieber an die Birs. Für Kinder war die Birs ideal. Man konnte gemütlich darin bädelen - und musste nicht gegen die Strömung kämpfen. Vater verbot uns das Birschöpfli. Das sei nichts für uns. Für Traugi und Walti erst recht ein Grund, dorthin zu gehen. Im Rhein zu schwimmen, war eben sehr verlockend, ein Abenteuer, mit dem man prahlen konnte. Nachmittags, wenn die Ausläufer frei hatten, schnappten sich die Buben manchmal deren Velos und radelten zum Birschöpfli. Und nachher sagten sie Vater, sie hätten lediglich eine Velotour gemacht. Traugi liess es nicht dabei bewenden. Das verbotene Rheinschwimmen musste er unbedingt an die grosse Glocke hängen. Er prahlte damit, wie stark die Strömung am Birschöpfli sei. Wie er mit ganzer Kraft gegen sie gekämpft habe! Und ein paar Jahre später prahlte er damit, dass er in der Rheingasse in eine Schlägerei verwickelt worden sei. Das war auch so etwas, mit dem er sich wichtig machen musste. Er habe dem Hansli oder Fritzli "eins uf d'Schnure ghaue". Kam er vom Ausgang nach Hause, hatte er immer irgendeine wilde Story auf Lager. Er war bei den Junioren im Fussballclub Basel, und in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag vergnügten sich die jungen Tschütteler hin und wieder auf einer Beizentour. Und oft ging es dabei etwas wüst zu und her. Aber in eine Schlägerei ist er wohl nie geraten. Er kam nie auch nur mit dem kleinsten Kratzer nach Hause. Er hat nie ein blaues Auge oder ein zerrissenes Hemd gehabt.  

Wir haben liebe Eltern gehabt. Sie haben uns viele Freiheiten gelassen. Wir mussten auch nicht mithelfen. Es gab keine Kinderarbeit bei uns. Traugi hat immer erzählt, er habe als kleiner Knirps Brot vertragen müssen. Mit dem Velo und der Hutte. Das ist natürlich Chabis. Das hat er frei erfunden. Als kleiner Knirps hätte er nicht einmal die Pedale treten können, und die Hutte wäre viel zu gross gewesen für ihn. Einmal im Jahr musste er der Pfarrersfrau ein Brot vorbeibringen, das war schon alles. Ich war dann schon eher diejenige, die mitgeholfen hat, auch weil ich die Älteste war. Als Traugi und Walti noch auf den Spielplätzen herumtobten, war ich schon alt genug, um Geld einziehen zu können. Ich tat es aber freiwillig, ich machte mich gerne nützlich. Im grossen und ganzen ist es uns Kindern recht gut gegangen, auch während der Kriegszeit. Dass nicht viel Geld da war, merkten wir allerdings schon. Grossmutter hat uns manchmal unter die Arme gegriffen. Traugi hat sie zum Beispiel ein Paar Schlittschuhe bezahlt. Der Geldmangel wirkte sich spürbar aus. Und das Problem war eigentlich nicht die Bäckerei. Wir hätten mit der Bäckerei ganz gut verdienen können, wenn nicht der Krieg gekommen wäre. 

Nach dem Krieg lag vieles am Boden. Vieles war zerfallen. Es gab kein Geld, und es fehlte an Arbeitskräften. Wir mussten ein Dienstmädchen von der Heilsarmee einstellen. Diese blaubestrumpfte Dame war nicht schlecht, aber sie war halt etwas fromm. Sie musste dauernd mit Traugi schimpfen, weil er immer nur Unsinn im Kopf hatte und wüste Wörter gebrauchte. Obwohl unsere Eltern von früh bis spät gearbeitet haben, waren wir eine Familie, in der man sich Zeit nahm füreinander. Abends nach Feierabend gingen wir öfters zusammen spazieren. Wir besuchten da und dort eine Gartenbeiz. Oder sogar ein gediegenes Restaurant. Am Samstagabend gingen wir häufig ins Hotel Bristol beim Bahnhof. Dort gab es ein tolles Nachtessen. Das Hotel Bristol war ein Kunde von uns. Bevor wir uns dorthin aufmachten, sagte Vater immer: "Wir gehen jetzt zur Kundschaft etwas essen und trinken." Es wurde dort Musik gemacht, Jazz for Dinner, und wir bekamen Pommes Frites und Schnitzel. Dieses Menu gab es vor allem im Winter. Im Sommer gingen wir ins Restaurant Sans-Souci am Morgartenring. Das war ein grosses Gartenrestaurant. Auch dort spielte eine Musik, und es gab Chlöpfer mit Brot, Senf und Süssmost. Die Nachbarskinder haben uns beneidet. Andere Eltern haben selten etwas mit ihren Kindern unternommen. Dass die ganze Familie auswärts essen ging, war eine Seltenheit. 

Was bei uns auch nicht zu kurz kam, war die Unterhaltung. Es gab ja noch kein Fernsehen. Wenn man sich etwas Unterhaltung gönnen wollte, musste man in die Stadt und ins Kino oder ins Theater gehen. Wir hatten das Glück, ein Heimkino zu haben. Vater hatte einen Filmprojektor, und die Filme bestellte er beim Berner Filmverleih. Das machte er mit Hilfe eines Versandkatalogs. Am Samstag bekam er den bestellten Film, und am darauffolgenden Montag musste er ihn wieder zurückschicken. Wir schauten Charlie Chaplin, Dick und Doof, Buster Keaton, alles Stummfilme, und zwischendurch auch einen Schweizer Film, etwas mit Jaggi Streuli, einen Schwank vom Zürcher Bernhard Theater. Samstagnacht, wenn die Arbeit ruhte, liess Vater einen Film über die Leinwand flackern. Für uns Kinder war das grossartig! Vorher hat Mutter noch etwas Feines gekocht. Und oft sind auch noch Leute aus der Nachbarschaft vorbeigekommen. Meistens war die Stube rappelvoll. Alle wollten bei uns Film schauen. 

 

Umzug nach Basel 

Vater plagten gesundheitliche Probleme. Er hatte ein schwaches Herz und eine Mehlstauballergie. Nachdem er ein paarmal ohnmächtig neben dem Backofen zusammengebrochen war, sagte sein Arzt, das könne so nicht weitergehen. Vater müsse seinen Beruf aufgeben. Im Klartext hiess das, dass wir die Bäckerei verkaufen mussten. Im Gundeli fanden wir ein neues Haus. Das war an der Fürstensteinerstrasse, am Abhang des Bruderholzes. Es hatte drei Wohnungen, zwei Wohnungen konnten wir weitervermieten. Vater wollte die Familie versorgt wissen. Deshalb nahm er eine Hypothek auf und steckte fast sein ganzes Vermögen in dieses Haus. Damit schuf er für die Familie eine minimale Sicherheit. Es war aber auch riskant, weil er lange Zeit keine richtige Arbeit mehr fand. Er schlug sich als Hausierer durch, verkaufte Wolle, Kochtöpfe und Bratpfannen. Das lief schlecht. Er verdiente kaum etwas daran. Ich habe die Handelsschule abgebrochen, um meine Eltern zu unterstützen. Ich ging zum Chocolatier Villard, wo ich 330 Franken im Monat bekam. Davon gab ich 300 Franken ab, als Bürgschaft fürs Haus, und die 30 Franken, die mir noch blieben, waren für das Tram-Abo. 

In der Bäckerei hatten wir eine Ablage für die Produkte von Villard gehabt, für Kaffee, Tee und Tafelschokolade. Die andern Schokoladen, etwa von Cahier, Nestlé oder Sprüngli, um nur die bekanntesten Marken zu nennen, waren streng rationiert. Pro Monat gab es gerade mal eine Schachtel, mehr wurde uns nicht zugeteilt, und innert zwei Tagen war alles weg. Dann kam dieser Villard aus Fribourg und anerbot sich, uns jede Woche eine Kiste Schokolade zu schicken, inklusive Kaffee und Tee. So lernte ich alle diese Produkte kennen, lange bevor ich zum Villard kam. Zum Villard kam ich, weil Mutter beim Einkaufen auf dem Marktplatz die fünf Villard-Schaufenster gesehen und spontan den Laden betreten hatte, um zu fragen, ob man eine Aushilfe brauchen könne. Man könne sogar jemanden für eine Festanstellung gebrauchen, war die Antwort gewesen. Trotz der allgemeinen Krise stand der Villard sehr gut da. Das Geschäft brummte. Jetzt, da der Krieg zu Ende war, kamen in Scharen Deutsche über die Grenze, um sogenannte Liebesgabenpakete aufzugeben. Liebesgabenpakete waren Pakete mit Hilfsgütern von Schweizer Privatpersonen für die notleidende Bevölkerung Deutschlands. Die Deutschen haben jedoch schnell begiffen, dass sie solche Pakete auch an sich selber schicken konnten. Das lohnte sich. Laut Zollbestimmungen durfte man nur 125 Gramm Kaffee, zwei Tafeln Schokolade und eine Packung Tee über die Grenze mitnehmen. Mit Hilfe der Liebesgabenpakete konnte man diese Beschränkung umgehen und ein ganzes Kilo zollfreier Villard-Produkte nach Deutschland schicken. Pro Tag hatten wir über 100 Päckchen zu machen. Für jedes Päckchen mussten wir drei Zollformulare ausfüllen. Wir musste das auf der Schreibmaschine tippen, und die Pakete mussten so verschnürt sein, dass die Zöllner bloss an einem Schnürchen zu ziehen brauchten, um den Inhalt kontrollieren zu können. Die Bank gab nichts mehr her, alles ging ans Haus, auch mein Lohn. Ein Sackgeld hatten wir nicht, wir mussten mit wenig auskommen. Für Traugi, der noch zu Schule ging, war es ein Glück, dass er bei der Nationalzeitung einen Ferienjob bekam. Frühmorgens musste er mit einem Leiterwägelchen die druckfrischen Zeitungen zu verschiedenen Tramhäuschen bringen, wo die Austräger die Zustellung und den Verkauf übernahmen. Mutter dachte sich, dass Vater vielleicht einen ähnlichen Job machen könnte, und sie erkundigte sich bei der Nationalzeitung nach einer offenen Stelle. So wurde Vater Kurier bei der Nationalzeitung. Bevor er die Stelle antrat, kaufte er sich eine Vespa, weil er mobil sein musste. Es war keine schwere Arbeit. Als Kurier oder "Mädchen für alles" musste er allerdings sehr zuverlässig und ständig verfügbar sein. Vater brachte die Post aufs Redaktionsbüro und lieferte gelegentlich etwas an die Druckerei aus. Es war auch ein Vertrauensposten. Ein Redaktor, der auf dem Bruderholz wohnte, hat Vater hin und wieder mit einer Geldbörse auf die Bank geschickt. Vater, der eher schlicht daherkam, fast wie ein Bauarbeiter, sah nicht unbedingt wie ein Mann aus, der viel Geld bei sich hat, man musste keine Angst haben, dass er überfallen werden könnte. Eher bestand die Gefahr, dass er nicht überall eingelassen wurde. Ab und zu hat die Frau des Redaktors angerufen und gefragt, ob Herr Buess nicht noch schnell zum Bell gehen und einen Schweinsbraten oder ein Poulet besorgen könne. Für solche Transporte hatte Vater auf dem Gepäckträger seiner Vespa eine kleine Kiste montiert. Jedes Jahr schenkte ihm der Redaktor ein paar Flaschen Rotwein. Seine Kurierdienste wurden sehr geschätzt. Er blieb bei der Nationalzeitung bis zu seiner Pensionierung. 

 

Jugendzeit 

Als Traugi seine Malerlehre begann, wohnten wir bereits in Basel und Vater war noch arbeitslos. Damals wurde man noch konfirmiert, nachdem man schon zur Schule raus war. Der Pfarrer, der Traugi konfirmieren sollte, war nicht mehr der Jüngste, seine Kinder hatten alle studiert, und er besass einen zweifachen Doktortitel. Zwei bis drei Wochen vor der Konfirmation mahnte er seine Schützlinge an die Kleiderordnung. Mädchen sollten in schwarzen oder dunkelblauen Röcken erscheinen, Buben in schwarzen oder dunkelblauem Anzügen. Streng verboten waren Sandalen. Traugi ging das durch den Kopf. Er streckte auf und sagte: "Sie, Herr Pfarrer, ich weiss nicht, ob ich das wirklich möchte. Ich möchte keinen Konfirmandenanzug tragen." - "Warum nicht?" wollte der Pfarrer wissen. - "Mein Vater ist krank und arbeitslos. Und meine Mutter hat kein Geld für solche Spässchen. Ausserdem bin ich ein Spörtler. Ich trage lieber etwas Sportliches." - "Nein, das geht nicht," sagte der Pfarrer. "An der Konfirmation wird ein Anzug getragen. Es ist eine Feier, die man nur einmal im Leben begeht. Geld sollte keine Rolle spielen. Auch andere haben kein Geld und müssen das machen!" Traugi gab es auf, mit dem Pfarrer diskutieren zu wollen. Es war ihm zu blöd. "Ja, leck mich doch am Arsch!" entfuhr es ihm. Dem Pfarrer verschlug es die Sprache, und die ganze Konfirmationsklasse hielt den Atem an. Währenddessen packte Traugi seine Sachen zusammen und ging nach Hause. Der Pfarrer war fassungslos: dass ihm ein angehender Konfirmant so etwas ins Gesicht gesagt hatte! Es war eine Form von Impertinenz, die dem Herrn "Doggter Doggter" noch nie begegnet war. Am nächsten Morgen stand er vor unserer Haustür. Es sei etwas vorgefallen. Vater bat ihn herein. Als auskam, was Traugi gesagt hatte, musste sich Vater das Lachen verkneifen. Man einigte sich auf einen Kompromiss. Traugi erklärte sich einverstanden, einen Anzug zu tragen, aber es sollte ein Anzug nach seinem Geschmack sein, etwas Legeres. In der Freienstrasse durchforschte er mit Mutter zusammen ein Herrenbekleidungsgeschäft. "Ich möchte das Kleid, das Frank Sinatra im Film anhat, der gerade läuft," sagte er, als ihn der Verkäufer fragte, was er sich denn so ungefähr vorstelle. Anzüge mit breiten Schultern, grossem Revers und engen Hosenbeinen waren damals Mode, der letzte Schrei aus Amerika, und so wollte Traugi aussehen. Er wollte ein richtiger Stenz sein. Mit einem solchen Anzug ist er denn auch zur Konfirmationen erschienen. Er fiel auf wie ein bunter Vogel. "Wenn ich genügend Zeit für mehr als eine Freundin hätte, könnte ich mit diesem Anzug locker fünfzig Bräute abschleppen!" prahlte er. Die Burschen, die mit ihm zusammen konfirmiert wurden, klopften ihm auf die Schultern und sagten: "He Traugi, du bisch e Siech." 

Solange ich den Eintritt und das Popcorn bezahlte, war Traugi gerne dabei, wenn ich ins Kino ging. Schon damals waren die grossen Kinos in der Steinenvorstadt, und wir nahmen immer die billigsten Plätze. Die waren in der vordersten Reihe und kosteten 1.50 Franken. Manchmal gingen wir auch ins Tell an der Bruderholzstrasse. Das Tell war ein Quartierkino. Für 1.50 Franken bekamen wir dort die besten Plätze. Im Programm waren alte deutsche Filme, etwa mit Hans Moser, Theo Lingen und Hans Albers, alte Schinken, die in den grossen Kinos schon nicht mehr liefen. In der Steinenvorstadt schauten wir oft Cowboy-Filme mit prächtigen Breitbild-Aufnahmen von Prärien. Dann kam eine Phase mit Gangster- und Halbstarkenfilmen. Wir erlebten mit, wie Marlon Brando zum Star wurde. Dann gab es die Musical- und Tanzrevuefilme, bei denen Traugi gähnen musste. Ich hingegen mochte diese Filme sehr. Ich mochte alles, das mit Musik und Tanz zu tun hatte. 

Nach dem Kinobesuch gingen wir häufig ins Atlantis, um eine Cola zu trinken. Die Alligatoren waren Geschmackssache. Erstklassig war aber die Musik, die im Atlantis geboten wurde. Am Sonntagmorgen war Matinee. Dann kamen Oscar Peterson, Duke Ellington und andere Jazzgrössen und brillierten auf dem Piano, und auf einmal war das Atlantis der Mittelpunkt der Jazzwelt. Der Besitzer hiess Paul Seiler. Er war Grosswildjäger gewesen, und er betrieb das Atlantis zusammen mit seinem jüngeren Bruder Kurt. Schon etwas älter war das Tropic in der Steinenvorstadt, das erste Lokal, das Paul Seiler eröffnet hatte. Auch ins Tropic gingen wie hin und wieder. Unter den gläsernen Tischplatten gab es Vivarien mit Schlangen, und an den Wänden hingen Schrumpfköpfe und Totemmasken. Musik gab es nicht. Es war eine Lokalität, in die Eltern mit ihren Kindern gingen, um die exotischen Tiere zu bestaunen - und sich ein bisschen vor ihnen zu gruseln. Die Hauptattraktion war eine Riesenpython, die der Kellner mit Mäusen fütterte. Sowohl das Tropic als auch das Atlantis waren eher cafémässig eingerichtet, Alkohol wurde nicht ausgeschenkt. Meiner Erinnerung nach war das Atlantis die erste Basler Lokalität, die Coca Cola anbot. Das kam in Eineinhalb-Dezi-Fläschchen auf den Tisch, ein Franken das Fläschchen. Coca Cola war eine Sensation. Alle tranken es wie die Verrückten. Im Atlantis wurde auch viel geraucht, alles war zugequalmt, ich stank immer nach Rauch, wenn ich im Atlantis gewesen war. Von uns hat niemand geraucht, und trotzdem war das Atlantis unser Lieblingslokal. Damals war es noch an der Steinentorstrasse, in einem Haus, das später zugunsten eines neuen Kinos abgerissen wurde. Am Klosterberg war das Atlantis nicht mehr so aussergewöhnlich. Es hiess zwar noch Atlantis, war aber nicht mehr das Atlantis, das wir gekannt hatten. Das Original-Atlantis ist ein maurischer Bau gewesen, alles sehr exotisch und ein bisschen finster. Vor dem Eingang stand ein Mann namens Sa-ub, ein Schwarzer in Uniform, ein Mohr, wie man damals sagte. Er hiess die Besucher willkommen und hielt ihnen die Tür auf, und vor dem Eingang waren Sonne, Mond und Sterne auf den Boden gemalt. 

Traugi mochte Marlon Brando, mit dem er sich gerne verglich. Und er mochte die neue amerikanische Herrenmode, das legere, leicht schnoddrige Outfit eines Frank Sinatra oder Dean Martin. Die trugen nicht mehr die engen Herrenanzüge von früher, und Traugi gefiel das. Er gefiel sich darin, Filmstars nachzumachen. Ihm gefiel überhaupt alles, was mit Schauspielerei zu tun hatte. Und er wollte singen können wie Mario Lanza. Der war klein und ein bisschen korpulent, ein italienischer Auswanderersohn mit Goldstimme. Ein Naturtalent, kein ausgebildeter Sänger. Er sang hauptsächlich Operetten und Schlager, und in den Spiel- und Musikfilmen, in denen er als Star auftrat, war er immer kleiner als seine Filmpartnerinnen, weshalb er Schuhe mit hohen Absätzen tragen musste. Ausserdem musste er für seine Filmrollen 20 Kilogramm abnehmen. Ich hatte etliche Platten von Mario Lanza, und Traugi kam manchmal zu mir in die Wohnung, weil er Mario Lanza hören wollte. Jedes Mal zog er eine Show ab. Er versuchte Mario Lanza nachzumachen. Die Pose brachte er noch halbwegs zustande, nicht aber den Gesang. Traugi war kein Gesangstalent. Er hatte generell kein Musikgehör. Er wollte zum Beispiel Gitarre und Banjo spielen, aber es klappte nicht. Er hatte ein Banjo, das er herumliegen liess, bis er einmal versehentlich hineintrat. Die Fellbespannung platzte auf, und Walti musste sie leimen. Es war hoffnungslos. Aus Traugi wurde einfach kein Musiker. Dabei hätte er gerne bei Walti und seinen Musikantenkumpels mitgemacht. Wenn sein Bruder mit Peter Schmidli (dem späteren Gründer der PS Corporation) und Konsorten unterwegs war, um Musik zu machen, wollte Traugi unbedingt dabei sein und mitmachen. Es war aber nicht die Musik, was ihn da mitzog. Sein Talent lag woanders. Im Fussball hätte er ohne weiteres Karriere machen können. Er hätte vielleicht sogar ein Star werden können. Er war, wie er selbst sagte, "der geborene Spörtler". Er war ja beim FCB. Nach der Malerlehre hätte er die Möglichkeit gehabt, von den Junioren zu den Erwachsenen zu wechseln. Er war da schon ein paarmal auf der Ersatzbank gewesen, man hatte ihn als Ersatzspieler eingeteilt, und er hätte gute Chancen gehabt, weiterzukommen, wenn er nicht nach Südfrankreich gegangen wäre. Auch dort machte er als Fussballer von sich reden. Mit seinen Goals brachte er den Fussballclub Grenoble, der am Boden lag, wieder nach oben. So wurde er doch noch ein Fussballstar, wenn auch fern der Heimat. 

Traugi besuchte in Liestal die Rekrutenschule. Zur gleichen Zeit und in der gleichen Kaserne absolvierte Walti die Unteroffiziersschule. Mit dem Militär konnten beide nicht so viel anfangen. Walti machte nur deshalb weiter, weil sein Vater das auch schon gemacht hatte. Damals wurden die Rangunterschiede peinlich genau beachtet. Es war zum Beispiel ein ungeschriebenes Gesetz, dass die Rekruten nicht in die Stammbeiz der Offiziere gehen durften. Das Restaurant Engel war den Offizieren und anderen hochrangigen Militärs vorbehalten, Rekruten war der Zutritt verboten. Der Zufall wollte es, dass es auch die Stammbeiz des Albiez-Grossvaters war. Fast jeden Tag ging er nach Liestal in den Engel, wo er sich mit den Bauern aus der Umgebung traf. Er kaufte und verkaufte Vieh. Darüber wurde bei einem Schoppen beraten und verhandelt, und jeder Handel wurde mit einem Handschlag und einem Prosit besiegelt. Grossvater kannte den Engelwirt schon lange, sie waren per Du, oft jassten sie zusammen, und oft jassten sie auch mit den Offizieren, die im Engel verkehrten. Grossvater war im örtlichen Jassclub, und sonntags ging er gelegentlich mit Grossmutter in den Engel, wo sie sich ein währschaftes Mittagessen servieren liessen, und früher hatte er auch seine Kinder mitgenommen. Ging er zum Jassen in den Engel, liess er sich immer ein Ruchbrot mit Schweineschmalz und Salz auftischen. Im Ausgang trafen sich nun Walti und Traugi mit dem Grossvater, und der nahm sie mit in seine Stammbeiz. Als sie die Gaststube betraten, sassen dort ein paar Offiziere am Jasstisch, und einer von ihnen erhob sich und fuhr sie schneidig an: "Ich muss schon bitten, meine Herren. Rekruten sind hier nicht erwünscht!" Das liess sich Grossvater nicht bieten. Er polterte los, wie das seine Art war: "Gopferdori! Jetzt spielt euch nicht so auf! Wer zu mir an den Tisch sitzt, ist dann immer noch meine Sache. Das geht euch einen Scheissdreck an. Der Gasthof ist nicht euer Eigentum." Daraufhin setzten sie sich an einen Nebentisch, und der Grossvater bestellte die Getränke. Doch für Traugi und Walti gab es ein Nachspiel. In der Kaserne bekamen sie einen Rüffel. Sie teilten Grossvater mit, dass man sich künftig woanders treffen müsse. Der Engel sei zu heikel. Tags darauf kam der Grossvater während des Hauptappells auf den Kasernenhof gestürmt und benahm sich wie ein Sirach. Er schwang seinen Stock und stauchte die Offiziere vor allen Rekruten zusammen. Für seine Enkel war das sehr unangenehm. Grossvaters Wutanfall machte alles nur noch schlimmer. Walti kam irgendwie durch, weil er sehr korrekt war, aber Traugi eckte immer wieder an. Vor allem weil er Walti, der im Rang über ihm stand, ständig duzte und die Achtungsstellung nicht einnahm, wenn sie miteinander zu tun hatten. Ausserdem konnte er einfach das Maul nicht halten. Wegen seiner dummen Sprüche bekam er mehrmals einen Verweis, und mehrmals wäre er fast in der Kiste gelandet. Wegen eines Rückenschadens, den er sich bei einem Hindernislauf zuzog, wurde er schliesslich aus dem Militärdienst entlassen. Als wir ihn fragten, wie das passiert sei, sagte er, er sei "kopfvoran auf den Grind gefallen".

 

Walti und die Musik 

Grossvater Theophil, mein Bruder Walter und sein Vater, alle sind sie sehr musikalisch gewesen. Das lag in der Familie. Das Harmonium, das bei uns zu Hause stand, hatte Vater von Grossvater geerbt. Schon in Wenslingen hatte es zum Hausrat gehört. Grossvater hatte nie Stunden genommen. Er hatte immer ohne Noten gespielt, hauptsächlich Kirchenlieder, die er mit Improvisationen ausschmückte. Das hatte Vater von ihm gelernt. Er spielte Kirchenlieder wie "Näher, mein Gott zu dir" oder "Herr, wir loben deine Gnade", und er liebte es, auf den feststehenden Akkordfolgen zu improvisieren. Als Jugendlicher begleitete er gelegentlich den Gottesdienst, wenn der Organist von Oltingen krank war und ausfiel. Als er dann mit seiner Mutter und den Geschwistern nach Binningen gezogen ist, hat er das Harmonium mitgenommen. Es stand in der Stube hinter dem Bäckerladen. Ich habe von Vater gelernt, wie man darauf spielt. Ohne Noten oder Notenkenntnise, allein mit Hilfe der Tonleiterschritte Do-Re-Mi-Fa-So-La-Ti-Do. Wie schon Vater und Grossvater lernte ich Kirchenlieder. Beim Üben zog ich alle Register, ich genoss die Klangfülle, die ich aus diesem Instrument herausholen konnte, und auch unsere Kundschaft war davon angetan. Die Leute im Bäckerladen fragten nach Stühlen, damit sie sich setzen und zuhören konnten. Die Buben hatten kein Interesse am Harmonium. Auch Walti nicht. Er wollte Handorgel spielen. Eine Handorgel konnten wir uns zwar nicht leisten, aber Mutter fand in der Zeitung eine preiswerte Offerte von Stebler, einer Musikalienhandlung aus der Steinenvorstadt. Der Stebler bot einen günstigen Musikunterricht an, und die Instrumente konnte man bei ihm mieten, ohne sich in Unkosten stürzen zu müssen. Herr Stebler, der Geschäftsinhaber, kam persönlich bei uns vorbei und erteilte Walti Handorgelunterricht. Das ging flott voran. Auf dem gemieteten Instrument machte er erstaunliche Fortschritte. Er spielte natürlich keine Kirchenlieder, sondern populäre Sachen, Schlager hauptsächlich. Wenn er übte, waren die Leute im Laden ganz hingerissen. Der Bub spiele aber schön, sagten sie. Dann kam der Krieg, und Herr Stebler wurde einberufen. Walti wollte in die Musikschule. Er war auf den Geschmack gekommen. In der Musikschule waren viele Instrumente verfügbar, man hatte eine grosse Auswahl. Die Metallharmonie Binningen spendete der Schule hin und wieder ein ausrangiertes Instrument. So konnte ein Musikunterricht zu günstigen Konditionen angeboten werden, mit Instrumenten, die man auslieh - oder sogar geschenkt bekam. Walti lernte Klarinette. Allerdings weckte bald ein ganz anderes Instrument sein Interesse. Er wünschte sich eine Mundharmonika auf Weihnachten, und als er die Bescherung - ein Schnuregigeli von Hohner - ausgepackt und die ersten paar Töne darauf gedudelt hatte, war es um ihn geschehen. Von da an war er richtig angefressen. Mit Peter Schmidli und anderen Kollegen hat er eine Mundharmonika-Band gegründet. Sie nannten sich Orandos und traten an bunten Abenden auf, an Schulfeiern, Lehrlingsbällen oder Quartiersfesten. Oft übten sie im St. Margarethenpark oder im Nachtigallenwäldeli. Und die Instrumente, die dabei zum Einsatz kamen, wurden immer grösser, immer imposanter. Irgendwann spielten sie auf mehrstöckigen Mundharmonikas, die einen Schieber hatten für die Halbtöne. Es war typisch für Walti, dass er sich das so leicht angeeignet hatte. Um ein Instrument zu lernen, brauchte er bloss einen Anstoss, einen Stupser. Er musste keine Stunden nehmen. Man konnte ihm ein Instrument in die Hand geben, und kurze Zeit später hatte er den Bogen raus. Das war bei ihm auch später noch so, im Erwachsenenalter. Fast im Alleingang lernte er elektronische Orgel zu spielen. Und nach einem Konzert des Panflötisten Edward Simoni rannte er sofort zu Musik Hug und kaufte sich eine Panflöte. Und ein paar Wochen später, an Weihnachten, überraschte er uns alle mit einem kleinen Panflötenkonzert. 

Als Jugendlicher lernte er auch noch Saxophon. Weil er jemanden brauchte, der ihm die Grundbegriffe beibrachte, wandte er sich an den Bandleader der Fred Mannys Band, der ein talentierter Saxophonist war. Seine Band war auch im Ausland bekannt. Mit ihrer Tanzmusik tourte sie durch ganz Europa, und jeden Freitagabend gab sie im Zolli-Restaurant ein Jugenddancing. Das war jeweils ein Probelauf für die nächste Tournee. Mit meinem Tanzschulfreund bin ich da regelmässig hingegangen. Walti ist auch ein paarmal mitgekommen, obwohl er zwei linke Füsse hatte. Der Eintritt kostete genau einen Franken, und man musste zwischen 16 und 25 sein, um eingelassen zu werden. Das Restaurant hat das Trinken serviert, und zum Tanzen durfte man auf eine grosse Terrasse hinaus. Es war schon etwas seltsam, was man da manchmal für Leute angetroffen hat! Als ich einmal zur Musikertribüne sah, bemerkte ich am Klavier Herrn Völker, einen Arbeitskollegen von mir. Von seinem musikalischen Engagement hatte ich gar nichts gewusst. Wie sich herausstellte, war er der Ersatzpianist, und oft ging er auch mit auf die Tourneen. Walti hat dann den Bandleader angehauen und ihn gefragt, ob er ihm das Saxophonspielen beibringen könne. Sie vereinbarten einen Kurs mit zwei bis drei Lektionen. Das reichte schon. So ist Walti zum Saxophon gekommen. 

Als Saxophonist kam er dann natürlich sehr schnell zum Jazz. Während seiner KV-Lehre hat er in einer Jazzband namens Mercury Strutters gespielt. Die Bandmitglieder gingen alle noch in die Lehre und waren begeisterte Amateurmusiker. Sie nutzten jede Gelegenheit, um an Tanzbällen zu spielen. Zu den Auftrittsorten gehörten Lokalitäten wie das Hotel Bären in Birsfelden, das Hotel Rössli in Binningen und das Restaurant Sans-Souci in Neuallschwil. Nicht zufällig lagen diese Tanzsäle allesamt an der Kantonsgrenze. Und nicht zufällig fanden diese Tanzveranstaltungen vor hohen eidgenössischen Feiertagen statt. Dann mussten die Basler Kinos und Nachtlokale vorzeitig schliessen, die Stadt Basel hatte schon vor Mitternacht Sperrstunde, während im Kanton Baselland erst um vier Uhr morgens Sperrstunde war. Deshalb war der Andrang aus der Stadt jeweils sehr gross, und die Einnahmen flossen üppig. Der Eintrittspreis betrug einen Franken und ein paar Rappen, inklusive Billettsteuer, und die Gage war Verhandlungssache. Häufig bekamen die Musiker nach dem Konzert einen Drink spendiert, damit sie die niedrige Gage akzeptierten. Einmal tourten die Mercury Strutters durchs Tessin, mit spontan organisierten Auftritten. Sieben Mann hoch zwängten sie sich mitsamt ihren Instrumenten in einen klapprigen VW Käfer. Mit dieser Schrottmühle kamen sie erstaunlich weit, und nie gab es eine Panne, ausser einmal, als sie zwischen Bellinzona und Locarno eine Autotür verloren.

 

Traugi und die Malerei 

Vater war ein leidenschaftlicher Konditor. Er liebte es, Torten zu dekorieren und aus Marzipan kleine Tierchen zu formen. Es gab bei ihm eine künstlerische Ader, die in seiner Verwandtschaft angelegt war. Einer seiner Cousins mütterlicherseits, ein Handschin, hat in Basel gewohnt und war Kunstmaler. Er hat von seinen Bildern gelebt. Er ist jedoch sehr früh gestorben, mit nicht mal 40 Jahren. Er hatte einen Sohn namens Hanspeter, und die Frau hiess Alice. Wir hatten gelegentlich Kontakt zu ihnen, obwohl dieser Cousin fast nur in Künstlerkreisen verkehrt hat. Bei uns lagen Malbücher herum, neben Farbstiftschachteln. Wann immer er etwas Zeit übrig hatte, hat Vater hat mit uns gemalt und gezeichnet. Dass die Buben - der eine wie der andere - ein gewisses Talent hatten, entging ihm nicht. Während Walti gerne Tiere gezeichnet hat, mit Farb- und Bleistiften und so realistisch wie möglich, war Traugi eher aufs Malen aus. Ihn faszinierten Farben und Farbtöne. Er wollte früh schon mit Farben etwas machen. Ein Nachbar ermutigte ihn, Anstreicher zu werden. Ob er nicht Lust hätte, mit Farben, Lacken und Lasuren zu arbeiten? Ein Freund dieses Nachbarn hatte im Gundeli ein Malergeschäft, dort konnte Traugi eine Lehre machen. Er war ein guter Lehrling. Besonders gut war er darin, Farben zu mischen. Wenn er verschiedene Farben zusammenrührte, bekam er immer den richtigen Farbton hin. Er hatte das im Gefühl. Wie ein Koch, der eine Sauce anrührt und ganz genau spürt, wieviel Salz oder Pfeffer er hineinstreuen muss. Das hat ihn auch an der Kunstmalerei fasziniert. Er tüftelte lange an den luftigen Blau- und Grüntönen von Monet herum. Er wollte herausfinden, "wie Monet das machte", und als er es herausgefunden hatte, malte er einen Monet nach. Er befasste sich auch mit Van Gogh und Pissarro, er  studierte Kunstbücher und ging ins Kunstmuseum. Dadurch ist er in die impressionistische Malerei hineingekommen. Er träumte davon, in die Landschaft hinauszugehen und Landschaftsbilder zu malen. Richtig damit angefangen hat er aber erst in Frankreich. 

Als Traugi seine Lehre abgeschlossen hatte, wollte er sich von seinem ersparten Geld eine Vespa für eine Weltreise kaufen. Er wollte eine Weltreise machen - und erst später eine Stelle suchen. Vater ging mit ihm zum Vespahändler, der Kauf einer Vespa war Männersache, und als sie ein schönes, schnittiges Maschinchen gefunden hatten, montierte Vater eine Kiste hintendrauf. Die war für das Reisegepäck: den Kleiderkoffer mit dem Sonntagsanzug, den Schlafsack, den Kocher, die Gamelle, die Suppenkelle und zwanzig Päckli Fertigsuppe von Knorr. Traugi wollte auf freiem Feld übernachten. Oder am Strassenrand. Die zwanzig Suppenpäckli mussten bis nach Schweden reichen. Auf seiner Weltreise war das die wichtigste Station. Er wollte unbedingt nach Schweden und eine blonde, blauäugige, langbeinige Schwedin heiraten. "Na gut, dann mach das halt," sagte Vater. Er war nicht unbedingt begeistert, aber auch nicht dagegen. Alle haben Traugi ein bisschen Geld und die besten Wünsche mitgegeben. Dass er dann nicht sogleich nach Schweden fuhr, lag daran, dass er wenige Tage vor der Abreise eine Postkarte aus Marseille erhielt. Sie stammte von einem ehemaligen Schulkollegen, der eine Lehre als Elektriker gemacht und sich wie Traugi vorgenommen hatte, vor seinem Berufseinstieg noch ein bisschen herumzureisen. In einem Zirkus, der in Marseille gastierte, war er schliesslich hängengeblieben. Er arbeitete dort als Beleuchter. Traugi wollte ihn da unten besuchen gehen. Nach Schweden wollte er erst nachher. Die Schwedinnen liefen ihm ja nicht davon. Ohne die Familie einzuweihen, fuhr er schnurstracks nach Marseille. Und von dort kam dann eine Postkarte: er sei jetzt im Zirkus Soundso, bei seinem Kollegen Soundso. Er habe einen Job als Beleuchter. Es gehe ihm gut. Schweden sei dann die nächste Station etc. etc. Mit seinem Kollegen sass er jeden Nachmittag und Abend - und manchmal bis Mitternacht, wenn es eine Nachtvorstellung war - hinter den Zirkusscheinwerfern. Sie teilten einen Zirkuswagen, und nach ein paar Wochen beschlossen sie, eine gemeinsame Auszeit zu nehmen. Auf Traugis Vespa fuhren sie der Küste entlang Richtung Nizza und Genua. Zwei Wochen lang hielten sie sich auf Korsika auf. Sie genossen das Meer, die Landschaft, die Badestrände. Wo hätte es schöner sein können? Natürlich in Schweden! Traugi wollte das nun nicht länger aufschieben. Er machte sich auf den Weg nach Schweden, während sein Kollege in den Zirkus zurückging. Traugi fuhr auf die französischen Alpen zu. Kurz vor Grenoble musste er anhalten, weil ihm schlecht wurde. Er fuhr auf den Randstreifen, wo er sich erbrach und ohnmächtig zusammensank. Er lag dort am Strassenrand, bis ein Kleinlaster anhielt. Ein Ehepärchen stieg aus und eilte Traugi zu Hilfe. Die beiden tätschelten sein Gesicht, fühlten seinen Puls. Er kam wieder zu Bewusstsein. Sie merkten, dass er Fieber hatte, und nahmen ihn mit. Die Vespa luden sie in den Laderaum ihres Lasters. Sie wohnten in einem Vorort von Grenobel. Der Mann war Antiquitätenrestaurator, die Frau eine Schweizerin aus dem Jura, sie waren kinderlos. Sie liessen einen Arzt kommen, und die Diagnose war eindeutig: Traugi hatte Paratyphus. Er hatte Glück, dass es nicht Typhus war. An Typhus hätte er sterben können. Wie Typhus kann man sich Paratyphus durch verunreinigtes Essen oder Trinken einfangen. Traugi war lange bettlägerig, alle Haare fielen ihm aus. Er hätte eigentlich ins Spital sollen, aber er wollte nicht. Seine Gastgeber pflegten ihn gesund, und als es ihm wieder etwas besser ging, beschloss er, die Weiterreise zu verschieben. Er ging dem Restaurator zur Hand, er half ihm in der Restaurationswerkstatt und eignete sich dort viele Fertigkeiten an, die er dann später brauchen konnte. 

Eines Tages bekamen wir eine Postkarte. Nicht von Traugi, sondern von seinem Gastgeber, dem Restaurator. Er nannte uns den Zeitpunkt, da er uns anrufen würde: am Soundsovielten drei Uhr nachmittags. Weil von uns niemand gut genug Französisch konnte, wandten wir uns an Herrn Friedrich, unsern Nachbarn. Er erklärte sich bereit, das Telefonat zu übernehmen. Er konnte leidlich Französisch, und er setzte sich gerne für Traugi ein, früher hatte er manchmal mit den Buben Fussball gespielt. Als der Restaurator anrief, sagte er, dass er Angst um seine Frau habe. Sie sei um einiges jünger als er, und er befürchte, dass sie mit Traugi durchbrennen könnte. Damit es nicht so weit komme, sei es vielleicht gut, wenn wir den Sohn und Bruder dazu bewegen könnten, in die Schweiz zurückzukehren... Traugi ging dann von sich aus fort. Er hatte ein Techtelmechtel. Allerdings mit einer anderen Frau, nicht mit der Frau des Restaurators. Genaueres wussten wir nicht. Er hatte ständig etwas am Laufen. Einmal sogar mit einer verheirateten Frau, die zwei Kinder hatte. Mit ihr zusammen ist er dann kurz zurückgekommen, um uns zu besuchen. Er hatte viele Freundinnen dort unten, aber nichts Ernsthaftes. Er lebte sehr unbeständig, ohne festen Job, immer von der Hand ins Maul. In dieser Zeit hat er auch viel gemalt. Häuser und Landschaften, impressionistische Motive. Er war viel mit der Staffelei unterwegs. Trotzdem wurde er in Grenoble ein bisschen heimisch. Er trat in den lokalen Fussballverein ein. Er hat dort Jenny kennengelernt, seine spätere Frau. Mit ein paar Freundinnen besuchte sie regelmässig die Fussballspiele, in denen Traugi gross rauskam. Er schickte mir einen Zeitungsartikel, der ihn lobend erwähnte. Ein Schweizer namens Joe ("Joe le Suisse") sei der neue Spitzensprinter dieser Mannschaft. Mit seinen Goals habe er den Fussballverein vorangebracht. "Joe" war Traugis Übername, die Franzosen nannten ihn so. Und später, als er wieder in der Schweiz war, nannten ihn fast alle so. In Grenoble fand er also diese Jenny oder sie ihn, und sie hat ihn nicht mehr von der Leine gelassen. Vor allem da sie unbedingt in die Schweiz wollte. Allerdings nicht nach Basel. Sie wollte nach Zürich, in jene Schweizer Stadt, in der nach Meinung der Franzosen Milch und Honig floss. Es war ein radikaler Schritt. Weil das von Frankreich aus schwer zu machen war, musste ich für Traugi eine Stelle und eine Wohnung suchen. Es kam ihm zugute, dass er das Handwerk des Restaurators erlernt hatte. Die entsprechenden Fähigkeiten waren sehr gefragt, und so fand er relativ schnell eine Stelle als Vorarbeiter bei einem Zürcher Maler. Bald zog es ihn aber aus Zürich fort. Sie sind nach Binningen gezügelt, schon mit einem Kind im Gepäck, und so hat sich der Kreis geschlossen. Traugi wohnte wieder dort, wo er aufgewachsen war. 

 

Traugi hat ein paar gute und tolle Kunden gehabt. Zum Beispiel die Kohlers vom Modegeschäft Kohler. Das Geschäft, eine bekannte Adresse an der Freienstrasse, verkaufte Damenmode. Haute Couture. Alles exklusiv und nur vom Besten! In Binningen hatten die Kohlers eine Villa, er war Jurist, und sie hat Mode gemacht. Herr Kohler hat die Renovation seiner Villa in Traugis Hände gelegt. Irgendein Kunde von Traugi hatte ihn empfohlen. So lief es immer bei Traugi. Er zog Aufträge an Land, die man unter der Hand erteilte, und oft lief das über Vitamin B, über Kneipenkontakte und gute Kumpels. Traugi machte für jemanden etwas, und der erzählte es weiter und machte daraus eine Empfehlung, und schon stand der nächste Kunde vor der Tür. Als Traugi mit seiner Arbeit für die Kohlers begann, lebte Frau Kohler schon nicht mehr. Herr Kohler wohnte nur noch mit seiner Tochter in dieser Villa, die nicht mehr im besten Zustand war. Die Renovation sollte etappenweise ablaufen. Traugi durfte sich Zeit lassen. Und das hat er denn auch getan. Er hat alles gründlich erneuert, Zimmer für Zimmer und Stockwerk für Stockwerk, und nach etwa zehn Jahren war die Renovation vollendet, und die alte Villa erstrahlte in neuem Glanz. Schliesslich sollte auch noch das Modegeschäft an der Freienstrasse renoviert werden, sowohl der Laden als auch die Büroräumlichkeiten. Während dieser Arbeiten meldete sich jemand von vis-à-vis. Dort war die Bank Sarasin, und Traugi wurde quasi über die Strasse hinweg weitergereicht. In der Bank machte er etliche Anstreicharbeiten. Irgendwann kam die Frage auf, ob nicht auch die Eingangstüre erneuert werden müsste. Das war eine riesige Doppeltüre aus dickem Holz, und man diskutierte darüber, ob man nicht einen Schreiner zuziehen sollte. Doch Traugi winkte ab. Er könne das selber machen. Das sei überhaupt keine Sache. Er wusste, wie man altes Holz behandelt. Er hatte das in Frankreich gelernt. Die Eingangspforte wurde wunderschön, und das kam sogar in der Zeitung. Zum Dank kaufte ihm die Bank Sarasin zwei bis drei Bilder ab. Sie hatte eine Kunstsammlung, in der bekannte Namen wie Hans Erni oder Irène Zurkinden vertreten waren. Und nun gehörte auch Traugi dazu. Was für eine Ehre! 

 

Meine Arbeit bei Radibus 

Drei Jahren nach dem Krieg wurde alles wieder geöffnet, die Wirtschaft belebte sich, man konnte wieder auf Stellensuche gehen, die Bezahlung wurde besser, und es gab Möglichkeiten, Karriere zu machen. Ich hatte das Glück, bei der Radio- und Kabelgesellschaft Radibus einsteigen zu können. Nach dem Krieg arbeitete ich hinter der Theke beim Chocolatier Villard, und ich fragte mich, wie lange ich da noch bleiben sollte. Da ich die Handelsschule gemacht hatte, reizte es mich, in ein anspruchsvolleres Fach zu wechseln. Eines Abends sagte Vater: "Schau mal in die Zeitung, Hildi. Die suchen überall Bürolistinnen." Damals waren das noch keine "Kaufmännischen Angestellten", es waren "Bürolisten" oder "Bürolistinnen". Und meistens wurden Männer gesucht, obwohl das ein alter Zopf war. Sah Vater ein solches Inserat, machte er ein Kreuzchen dahinter. "So eine Stelle wäre das Richtige für dich," sagte er. "Mit dem Lohn einer Bürolistin könntest du dir mehr leisten." Ich hatte soeben meine erste eigene Wohnung bezogen, für die ich Möbel kaufte. Ein höheres Gehalt konnte ich durchaus gebrauchen. Schliesslich stiess ich auf ein Inserat, das mit "Radio- und Kabelgesellschaft Radibus" betitelt war. Das sprach mich an. Die Firma richtete einen Telefonrundspruch für Radiohörer ein. Das war, grob gesagt, ein Radioempfang via Draht, eine Technik, die aus Holland kam und jetzt auch in der Schweiz im grossen Stil eingeführt wurde. Die Nachfrage war enorm. Es gab noch kein massentaugliches Fernsehen. Und viele Leute hatten - so kurz nach dem Krieg - nicht mal das Geld für ein Radiogerät. Deshalb war Radibus ein Boom. Die Technik war sehr zuverlässig. Man brauchte keine Antenne für den Radioempfang, weil alles über Draht kam, parallel zum Telefonnetz, zwar mit eigenen Leitungen, aber in den gleichen Röhren, durch die auch das Telefon ging. Der Vorteil gegenüber Radiowellen: der Empfang war immer gut. Er funktionierte auch bei Gewittern und anderen atmosphärischen Störungen. Kein Knacksen oder Rauschen trübte die Übertragung. Das Abonnement kostete 6.50 Franken im Monat. Dafür bekam man Lautsprecher und einen Anschluss. Aus Konzertsälen wurden Konzerte und aus Theatersälen Theatervorstellungen direkt in die Stuben gesendet. Besonders gefragt waren die Übertragungen aus dem Küchlin, wo das Trummeli stattfand, und dem Zürcher Kongresshaus, wenn dort die Revuegruppen aus dem Lido und dem Moulin Rouge gastierten. Das waren jeweils die Zweitbesetzungen, die mit einer Kopie der grossen Revuen auf Tournee gingen. Es gab auch eine direkte Leitung in die Muba, ebenso wurden Sportanlässe und Bälle übertragen, einfach alles, was akustisch übertragen werden konnte. Man war damals noch nicht so anspruchsvoll und brauchte nicht zwingend ein Bild, wenn man den Ton empfangen konnte. Allerdings blieb das Angebot weitgehend auf Basel und andere Städte beschränkt. Baselland wollte nichts davon wissen. Radibus arbeitete mit dem Basler Bauamt zusammen. Sobald eine Strasse aufgerissen wurde, fragte das Bauamt, ob man eine Leitung für den Drahtrundspruch legen wolle. So wurde das Netz vorzu ausgebaut. 

Dass Radibus mit Musik zu tun hatte, sprach mich an und machte mich neugierig. Beim Vorstellungsgespräch war ein Direktor aus Zürich da, in Zürich war die Hauptgeschäftsstelle, und mir imponierte, dass im ganzen Haus Musik lief, alle Räume wurden beschallt, sogar das WC. Ich wurde sofort eingestellt. Weil ich bei Villard keinen Arbeitsvertrag hatte, konnte ich umstandslos kündigen. 11 Jahre lang sollte ich bei Radibus bleiben. Ich hatte Glück. Eine junge Frau war Chefin in Basel, und mit ihr verstand ich mich ausgezeichnet. Radibus hatte ein Tonstudio mit fünf Studiodamen, den Operatricen oder Ansagerinnen. Dazu zählte zum Beispiel Heidi Abel, die bei Radibus den Grundstein zu ihrer Radio- und Fernsehkarriere legte. Beatrice Schwabe, die auch beim Radio Basel angestellt war, moderierte das Wunschkonzert. Bekannt war auch Elsie Attenhofer. Sie schauspielerte auf der Baseldeutschen Hörbühne. Sie konnte richtig gut "baslern". Im Studio brauchte es Leute mit einem schönen Baseldeutsch! Auf Hochdeutsch wurde damals noch nichts angesagt. Der Rundspruch lief nonstop. Die halbe Nacht durch - von Mitternacht bis um 6 Uhr morgens - lief auf riesigen Bandspulen eine Musik, die man tagsüber aufgenommen hatte. Bei Villard hatte ich 330 Franken verdient. Bei Radibus betrug der Anfangslohn 550 Franken. Vater konnte es kaum glauben. "Du verdienst ja mehr als ich!" sagte er. Die Arbeitsbedingungen waren sehr gut. Wir hatten eine 40-Stunden-Woche und den dreizehnten Monatslohn, allerdings nur 2 Wochen Ferien. Ich arbeitete im Büro und kümmerte mich um die Abonnementsverwaltung. Wegen der vielen Neuabonnenten hatte ich sehr viel zu tun. Wir hatten zehn Einzüger, die von Tür zu Tür gingen und die Gebühren einzogen. Das waren Hausfrauen, die nebenher etwas Sackgeld verdienten. Neue Abonnenten wurden telefonisch angeworben. Dafür waren vier Vertreter zuständig. 

Meine Chefin war mit dem bekannten Bobfahrer Stephan Waser verlobt. Er war Bremser in der 4er-Mannschaft gewesen, die bei der Winterolympiade in Oslo (1952) Gold geholt hatte. Bei einer Trainingsfahrt in St. Moritz erlitt er einen schweren Unfall. Sein Bob kam aus der Kurve, und der Steuermann Fritz Feierabend wurde gegen einen Baum geschleudert und starb. Stephan Waser verletzte sich an den Beinen. Als er aus dem Spital entlassen wurde, konnte er nur noch an Stöcken gehen. Mit seiner Karriere als Bobfahrer war es vorbei. Für meine Chefin eine schwierige Situation. Dennoch wollte sie heiraten. Eines Abends gingen wir zusammen ins Atlantis, und da erzählte sie von der geplanten Hochzeit in Engelberg und dass sie sehr bedaure, mich nicht einladen zu können. DIe Hochzeit müsse ohne mich stattfinden. "Aber wieso denn?" wollte ich wissen. - "Weil du Chefin der Abonnementsabteilung wirst!" sagte die Chefin. "Wir haben dich schon lange beobachtet und finden, dass du dich für den Posten sehr gut eignest!" Ich war noch keine 24 und hatte jetzt auf einmal vier Büro-Angestellte und alle Einzüger und Vertreter unter mir, denen ich den Lohn auszahlen musste. Als Chefin bezog ich den Lohn direkt vom Zürcher Hauptgeschäft. In Zürich war Radibus gegründet worden, und inzwischen gab es Ableger in Basel, Bern, St. Gallen und Lausanne. Ich hatte das grosse Glück, die Blütezeit von Radibus erleben zu dürfen. Die Leute hatten wieder etwas mehr Geld, nach den düsteren Kriegsjahren gierten sie nach Unterhaltung und Vergnügen, und es gab sehr viele Veranstaltungen, die Radibus übertragen konnte. Vor jedem Trummeli gewannen wir 300 bis 400 neue Abonnenten dazu. Die Zahl der Abonnenten wuchs rasant. Der Direktor, ein Herr Günter, wollte, dass ich ihm Bescheid gab, wenn wir die Marke von 70'000 Abonnenten geknackt hatten. Als es soweit war, rief ich ihn sofort an, und er gratulierte mir überschwänglich. Basel stand vor jeder anderen Stadt, was die Zahl der eingeschriebenen Abonnenten betraf. Um das zu feiern, gab die Firma ein Fest auf dem Bürgenstock. Für mich lief damals alles nach Wunsch. Ich hatte einen Bombenlohn, und wenn die Direktion nach Basel kam, wurde ich in ein vornehmes Restaurant eingeladen. Ich blühte auf. Ich belegte KV-Abendkurse in Schnellstenografie und Kopfrechnen. Ja, wirklich: Kopfrechnen. Es gab noch keine Rechnungsmaschinen, geschweige denn Personalcomputer. Man benötigte für alles noch den Kopf. Die Arbeit gefiel mir. Ich musste selbständig arbeiten und hatte etliche Vollmachten. Für mein Alter war das allerhand. 

Eines schönen Tages hiess es, das Fernsehen, in den USA bereits ein Massenmedium, setze sich nun auch in Europa so langsam durch. Wer einen Fernseher hatte, brauchte das Angebot von Radibus kaum noch. Allerdings waren die Fernseher noch sehr teuer. So ein Apparat - von Graetz, Strassfurt, Philips oder Grundig - kostete ein paar Tausend Franken, ein kleines Vermögen. Die Direktion berief eine Sitzung ein. Es war uns klar, dass uns eine Kündigungswelle bevorstand. Wir mussten umdenken und uns der neuen Situation anpassen. Dazu mussten wir zuerst einmal in den Kopf kriegen, was Fernsehen überhaupt ist. Wie funktioniert Fernsehen? Wie kann man dieses neue Medium nutzen? Um konkurrenzfähig zu bleiben, versuchte Radibus, eine eigene Fernsehstation aufzubauen. In Münchenstein mietete die Firma eine ehemalige Fabrikhalle. Dann suchte man Fachleute für Fernsehtechnik. Man stellte ein Team zusammen. Damit kam man jedoch nicht sehr weit. Man merkte schnell, dass das Vorhaben viel zu ehrgeizig war. Und es gab ja auch schon einen Landessender. 1953 sendete die SRG an fünf Abenden pro Woche ein Versuchsprogramm. Und im gleichen Jahr wurde die Krönungsfeier von Königin Elizabeth II. live im Fernsehen übertragen, was dem neuen Medium endgültig zum Durchbruch verhalf. Oje, dachte ich. Die gemütliche Zeit des Musikhörens ist jetzt wohl vorbei! Pro Monat erhielten wir 200 bis 300 Kündigungen, und die Radiogeschäfte begannen, Fernsehapparate auf Abzahlung zu verkaufen. Dadurch wurde fernsehen für die Mehrheit der Haushalte erschwinglich. Radibus schloss mit Grundig einen Vertrag ab, der festlegte, dass jeden Monat ca. 500 Apparate geliefert und auf die fünf Schweizer Städte von Radibus verteilten wurden. Diese Apparate wurden für 18.50 Fr. im Monat zur Miete gegeben, was für die damalige Zeit recht viel Geld war. Radibus vermietete also Fernsehapparate und montierte dazu die Antennen auf den Dächern, und wir mussten viele neue Leute einstellen, vor allem Techniker. Und auf einmal liess die Zahlungsmoral nach, und viele Apparate mussten zurückgefordert werden. Oder es wurden Apparate, die ja nur gemietet waren, an Altwarenhändler vertschuttet. Wollte ich die Zahlungsunwilligen betreiben, bekam ich Verlustscheine. Ich musste ständig aufs Bäumli (Bäumlihof, Betreibungsamt). Ich lief von Pontius zu Pilatus und hatte viel Schreibarbeit, und das Geld bekam ich dann doch nicht. Das passte mir nicht mehr. Jedes Dubeli glaubte einen Fernseher haben zu müssen, aber kosten durfte es nichts! Eines Tages sagte der Chefmonteur: "Frau Buess, wir gehen schlimmen Zeiten entgegen. Ich sehe das mit Radibus nicht mehr so realistisch." Ich sah es auch nicht mehr so realistisch. Bald darauf habe ich gekündigt. 

 

2022 

Grossvaters Bäckerei, 1934