Die Band

 

"I like Beethoven, especially the poems."

Ringo Starr

 

Zweimal wöchentlich hatte ich Unterricht an der Kaufmännischen Schule. Nach jeder Unterrichtstunde ging ich in den Pausenraum und holte mir aus dem Getränkeautomaten einen Becher stark gezuckerten Kaffees. Ich traf dort immer gleichzeitig mit Steiner ein, einem Klassenkameraden, der seine Lehre in einem Musikalien-Vertrieb machte, und obwohl mein Kaffeebedarf enorm war, liess ich ihm jeweils den Vortritt. Er hatte die Aura eines Menschen, der von Genussmitteln lebt, sei das nun Kaffee, Nikotin, Marihuana oder Haschisch. Man spürte, dass er mit solchen Mitteln vertraut war und einen exklusiven Zugang zu ihnen hatte. Er war da in seinem Element. Er brauchte bloss in den Himmel zu schauen, und es regnete Manna. Und auch beim Kaffeeautomaten schien er über irgendeine geheime Zauberkraft zu verfügen. Man wusste nicht, wie er das machte, aber er hatte immer das richtige Münz parat. Er brauchte nie zu wechseln. Es war ein Mittwochnachmittag, und er hatte soeben seinen Kaffee rausgelassen, als er mich fragte, ob ich mitmachen wolle. - "Wobei mitmachen?" fragte ich. Na, er wolle eine Band gründen, sagte er und nahm das Plastikstäbchen aus dem Kaffee, in dem er bedächtig gerührt hatte. Er wusste, dass ich Orgel spielte, ich hatte ein transportables Farfisa-Örgelchen, und er selbst hatte kürzlich auf dem Flohmarkt eine Akustikgitarre gekauft, auf der er sich die nötigen Griffe beibrachte. Er sprach davon, dass er sich demnächst eine Fender und einen Marshall-Verstärker zulegen würde. Das sei der nächste logische Schritt. Und der übernächste logische Schritt sei die Gründung einer Band. Die Frage war wie eine zusätzliche Dosis Koffein. Ob ich mitmachen wolle? Klar wollte ich! Mit dieser Frage und einem Plattentausch fing es an. So kam der Stein ins Rollen. Schon vorher hatten wir uns gelegentlich über Musik unterhalten, und an diesem Mittwochnachmittag tauschten wir unsere Lieblingsplatten. Wir schworen beide auf Vinyl-Platten, die knacksenden und knisternden schwarzen Scheiben mochten wir lieber als die aseptisch glänzenden Compact Discs, die immer sehr schnell kaputt gingen und am Ende ihrer recht kurzen Lebensdauer meistens in einen Rebberg gelangten, wo sie mit ihren regenbogenfarbenen Lichtreflexen die Vögel vertrieben. Ich gab Steiner eine Beatles-Platte, "Revolver" oder "Rubber Soul", und Steiner zog mich damit auf, dass man mit den Beatles wohl jede andere Band wegpusten könne. Mit den Beatles könne man wenig falsch machen, weil denen alles gelungen sei, ausser "Yesterday". Das sei ein Scheisslied. "Hey Alter," sagte Steiner. "Vergiss die Beatles. Paul is dead." Er selber liebte das Risiko. Er setzte auf eine unbekannte Band. The Seeds hiess sie. The Seeds? Kannte ich nicht. Feierlich übergab mir Steiner eine Platte dieser Band, seine Lieblingsplatte, die natürlich nur das widerspiegelte, was er momentan auf dem Radar hatte. Er war ständig auf der Suche, ständig am Aufspüren, Reinhören und Kennenlernen. Auf dem Cover hingen die vier Bandmitglieder mit possierlich verdrehten Armen und Beinen in einem Spinnenetz, eine typische Billig-Fotomontage aus den Sechzigern, so schlecht gemacht, dass es beinahe wieder gut war. Der beste Song auf dieser Platte, Steiners Lieblingssong, war "Mr. Farmer", ein Knaller, der ins Ohr ging und drin blieb. Es war ein Song, den man ausgraben und zur ultimativen Referenz erklären konnte. So etwas wollten wir auch machen. Steiner hatte die Platte auf einem Flohmarkt erstanden, zwischen Barbiepuppen, Zinnbechern und Rehgeweihen. Der Sound wirkte etwas handgestrickt, etwas bekifft, etwas verwuschelt, aber "Mr. Farmer" fand ich ich richtig gut. Der Song handelte von einem Farmer, der Genusspflanzen anbaut. Ich konnte nicht sehr gut Englisch, aber das verstand ich. Es war ein Kiffersong. Und auch Steiner hatte das verstanden. Er verstand es mit jeder Faser seines Wesens. Er hatte null Bock darauf, sich dem Zeitgeist anzupassen und von Drogen abzuraten. Kiffen war für Steiner die logische Erweiterung zu Kaffee und Kuchen, etwas völlig Normales. Er ging gelassen damit um. Er dröhnte sich keineswegs zu. Zuhause rauchte er gelegentlich Bong, eine Wasserpfeife mit Glaskolben, und er rauchte ziemlich hartes Zeug, und für unterwegs hatte er immer genügend Kannabis und Zigarettenpapier in der Tasche. Und im Ausgang war er immer der Erste, der eine Beiz ansteuerte. Er war immer der Erste, der überhaupt eine Beiz sah. 

Er hatte das jederzeit auf dem Radar: das Abbiegen in eine Beiz, das Innehalten bei einem Bier. Wenn keine Beiz in der Nähe war, fehlte ihm etwas, und er begann unruhig zu werden. Wie damals auf dem Friedhof Hörnli, als er mir das Grab seines Vaters zeigen wollte. Ein Besuch sei wieder einmal fällig, sagte er. Aber dann stellte sich heraus, dass er nicht mehr wusste, wo sich das Grab befand, sein letzter Friedhofsbesuch war ewig her, und der Friedhof Hörnli ist nicht nur riesig, sondern auch enorm unübersichtlich. Mit Hilfe des labyrinthischen Lageplans fanden wir wenigstens das richtige Feld, die richtige Parzelle. Wir schritten die Grabreihen ab, lasen die Grabinschriften, und nach etwa zehn Minuten sagte Steiner: "So, das reicht. Schnappen wir uns ein Bier!" Und so machten wir kehrt, weil es auf dem Friedhof kein Bier gab. Im Restaurant Hörnli stiessen wir dann auf Steiners Vater an, und das war auch eine Art Friedhofsbesuch. Nach der ganzen Sucherei kamen wir hier zur Ruhe. "Das Wichtigste am Friedhof ist der Ausgang," meinte Steiner nachdenklich. "Auf einem Friedhof will niemand bleiben, so schön es dort auch ist." Er betrachtete das mit einer gewissen philosophischen Gelassenheit. Wie auch das Biertrinken und Kiffen. Das viele Biertrinken und Kiffen führte bei ihm zu verstärkten Augenringen und einem glasigen Blick. Augenringe habe er schon Natur aus, sagte er. Besonders wenn er etwas unausgeschlafen sei. Was spiele es also für eine Rolle, wenn er sich hin und wieder einen Joint reinziehe? Gut, manchmal sah er tatsächlich etwas verladen aus. Ansonsten war ihm nicht viel anzumerken. Geistig war er immer voll da. "Drogen sind immer nur so gut oder schlecht wie der Mensch, der sie nimmt," pflegte er zu sagen. "Geh mal zu einem indianischen Schamanen und erzähl ihm, Drogen seien schädlich. Er lacht dich aus!" Nach Feierabend trafen wir uns gelegentlich an der Schifflände oder auf dem Barfi, um ein bisschen um die Häuser zu ziehen. Wenn wir eine Weile lang über Musik geredet hatten, überkam uns jedes Mal das Bedürfnis, Platten aufzulegen und in diesen oder jenen Song reinzuhören. Über Musik reden kann man schon eine Zeitlang. Aber irgendwann kommt man mit Reden nicht mehr weiter, die Musik, über die man redet, muss man hören, man muss sie auf die Trommelfelle loslassen. Indem wir genau dies beabsichtigten, wandten wir uns nach Westen, in die Richtung, in der Steiner wohnte. Auf dem Weg dorthin besuchten wir die Johanniter Bar bei der Johanniterbrücke. Hier machten wir kurz Halt, um uns zu stärken. An der blau beleuchteten Bar bestellten wir Bier und Pizza. Wir hatten da immer einen Wolfshunger. Wir zerrupften unsere Pizzas und sahen den Billardspielern zu, und das Ölkännchen wanderte zwischen uns hin und her. Danach gingen wir direkt zu Steiner nach Hause, und der erste Song, den wir uns anhörten, war "Mr. Farmer". Schon nach wenigen Wochen war es Steiner gelungen, mich von meiner Einseitigkeit zu kurieren. Gewohnheitsmässig hörte ich immer nur die besten Sachen, Hochkarätiges wie die Beatles, Kinks, Doors und Who. Mit solchen Bands im Rücken konnte ich alles andere locker von oben herab beurteilen. Wie jemand, der nur Schiller und Goethe liest und vielleicht sogar nur den "Wallenstein" und den "Faust", rümpfte ich häufig die Nase über Sachen, die ich als zu trivial empfand. Oder als sonstwie ungenügend. Doch das war wirklichkeitsfremd. The Seeds waren vielleicht nicht die Band des Jahrhunderts, aber sie hatten etwas Erfrischendes, sie waren hörenswert, und wenn mir Steiner seine neusten Flohmarktplatten vorspielte, seine "aktuellen Scherben", wie er sie nannte, kam ich mir schon sehr bald wie ein Fachmann vor, der bei einer akustischen Degustation mitreden und fachsimpeln konnte. "Nicht schlecht," sagte ich dann etwa, während ich mit einem anerkennenden Nicken die Plattenhülle studierte. "Guter Groove mit feinem Abgang." Ein neuer Horizont tat sich mir auf.

Steiner wohnte in einem betongrauen Kasten, einem Wohnblock in der Nähe des Voltaplatzes. Ein nicht sehr stabiler Lift mit abgegriffenen Knöpfen, die Wände voller Filzstiftkritzeleien, transportierte uns in den vierten Stock. Steiner wohnte dort mit seiner Mutter zusammen, einer Österreicherin, die meistens im Morgenmantel vor dem Fernseher sass, wenn ich auf Besuch war. Manchmal hing sie schlafend im Sofa, mit offenem Mund, die Fernbedienung in der abgewinkelten Hand. Sie war nicht mehr die Jüngste, mit ihren grauen Haaren und ihrem Bürzi hätte sie auch Steiners Grossmutter sein können. Dass wir kifften, störte sie nicht. Das Einzige, was sie störte, war zu laute Musik. "Macht wenigstens die Türe zu!" bat sie uns, wenn Steiner seinen Plattenspieler in Betrieb setzte. Es war auch wegen des Ruhebedürfnisses der Nachbarn. Man musste Rücksicht nehmen. Die Mitbewohner hörten mit, und meistens unfreiwillig. Man wohnte Tür an Tür, und auch oben und unten wohnte jemand, jede Mietpartei in einer Schachtel, umgeben von unzähligen andern Schachteln, die man in schachtelförmige Wohnblocks hineingeschachtelt hatte. Ich wunderte mich, dass es Menschen gab, die diese Schachtelarchitektur bewohnten, ohne depressiv zu werden. Ohne Aussicht auf Bäume oder irgendeine Grünfläche lebten sie wie in Schubladen, und es schien sie überhaupt nicht zu deprimieren. Sie kannten ja nichts anderes. Für sie war es das Normale. Das Hässliche war für sie das Normale. Alles in dieser Gegend war enorm hässlich, enorm heruntergekommen. Die Stadt faserte hier aus und wurde trotzdem nicht grüner. Im Gegenteil. Je näher man der französischen Grenze kam, desto grauer und kahler wurde die Umgebung. Desto grösser wurde die allgemeine Verlotterung. Vom Küchenfenster aus sah man eine Industrieanlage mit Werkhallen und Umladestationen. Güterzüge rangierten in der Nähe, dauernd klingelte das Tram, Autos hupten, und am späten Abend zuckte Blaulicht durch die Strasse, begleitet von auf- und absteigenden Martinshörnern. Es gab hier ein reges Nachtleben, das vor allem aus Unglücksfällen zu bestehen schien. Hinter dem Wohnblock erhob sich eine etwa 5 Meter hohe Betonmauer, und zwischen Rückwand und Mauer gab es einen schmalen Durchlass, wo man sich die Füsse vertreten konnte. Steiner nannte diesen Asphaltstreifen "Ostzone", man fühlte sich da gleich wie in Berlin, man war in einer geteilte Stadt, wenn auch die Schiesstürme fehlten, und je öfter ich Steiner besuchte, desto besser verstand ich seine Neigung zum Punk. Er war kein Punker und kleidete sich auch nicht wie ein Punker, aber seine Wohngegend hätte trostloser nicht sein können. Das färbte ab. An jeder Hauswand prangten Graffitis und hastig aufgesprayte Sprüche wie "Not Future" oder "Fuck the System", die Abfalleimer quollen über, und die Toreinfahrten rochen nach Pisse. Wer das tagtäglich um sich herum hatte, war automatisch ein bisschen auf Punk eingestellt. Das konnte gar nicht anders sein. Mit seinen Flohmarktplatten aus der Ära des Garage- und Psychedelic-Rock bekannte sich Steiner zu einer Schnoddrigkeit, die mit dem Punk in einer innigen Verbindung stand. Und sein Wohnquartier war die passende Kulisse dazu. Es kam auch vor, dass wir in der Innerstadt blieben. Es gab dort genügend Lokalitäten, in die wir einkehren konnten. Einmal genehmigten wir uns drei oder vier grosse Biere und rauchten, um den Dusel zu vervollständigen, auf der Treppe im Martinsgässlein einen extragrossen Joint. Da hatte ich mich wohl übernommen. Als wir anschliessend ins Bhagwan gingen, einen Tanzschuppen, der auch gute alte Sachen spielte, Doors zum Beispiel, und wo man auch nicht unbedingt tanzen musste, sondern sich gegen die Wand lehnen und ein bisschen mit den Füssen wippen konnte, ohne dass man dumm angeschaut wurde, merkte ich noch nichts. Aber da fing es dann an, mir wurde komisch, die Stroboskopblitze fuhren mir in den Magen wie Boxhiebe, der Boden floss unter mir weg, ich wankte oder kroch in Richtung Erfrischungsräume und kotzte das Lavabo voll, und als ich daraufhin blass und zitternd an der Bar sass und Steiner für mich einen Kamillentee bestellen wollte, meinte der Barkeeper, wir sollten uns verziehen. Hinter uns hatte sich bereits ein Türsteher aufgestellt, der uns mit verschränkten Armen ins Visier nahm. Dummerweise vergass ich meine Schultasche, und am nächsten Tag musste ich ins Bhagwan zurück, um sie zu holen, was mir ziemlich peinlich war. Wenigstens war ich da wieder einigermassen beieinander. 

Anfänglich war mir Steiner höchstens wegen seiner Verspätungen aufgefallen. Zu Beginn des Unterrichts war er meistens gar nicht da. Das war der erste Eindruck, den man von ihm hatte: er glänzte durch Abwesenheit. Zum Unterricht erschien er normalerweise erst nach dem Läuten, also mit einer gewissen Unpünktlichkeit, jedoch nicht wie jemand, der unter Zeitdruck steht und sich entschuldigt, weil der Wecker nicht losgegangen ist oder das Velo einen Platten gehabt hat. Er kam ganz gemütlich hereingeschlendert, eine hochgewachsene Gestalt mit leicht verschwollenen Augen, einem überlangen gestreiften Baumwollhemd und hageren Händen, mit denen er dauernd seine Haare verstrubbelte. Er schien keinerlei Veranlassung zu haben, die Beine unter den Arm zu nehmen. Nichts und niemand konnte ihn hetzen. Er ging an einen freien Platz und nahm dort langsam die Schultasche von der Schulter. Dazu machte er ein Gesicht, als wäre sein Zuspätkommen vollkommen in Ordnung. Als liefe seine Uhr halt grundsätzlich anders, langsamer und mit Verspätung, aber im Rahmen dieser Logik durchaus korrekt. Wenn er sich dann endlich hinsetzte, gähnend, sich am Kinn kratzend und in der Schultasche wühlend, begrüsste ihn der Lehrer, die Lehrerin mit einem betont höflichen "Guten Tag, Herr Steiner, sind Sie auch schon da?" Nicht mahnend oder streng, sondern leichthin und spöttisch. Nur nicht aufregen! Dieses Zuspätkommen war etwas Dummes, aber auch etwas Lässliches. Man konnte darüber hinwegsehen. Musste aber nicht. Schwang sich, nachdem die Schulglocke verklungen und die Schüler verstummt waren, um aufnahmebereit von vorne zu blicken, der Lehrer, die Lehrerin auf die Füsse, um die Klasse zu begrüssen und in den Unterricht zu starten, passierte es: just da ging die Tür noch einmal auf, und der letzte Mohikaner war auch schon da. Er störte immer genau den Auftakt. Begann der Lehrer, die Lehrerin nach der Absenzkontrolle und ein paar einleitenden Sätzen mit dem eigentlichen Unterricht, kam als Letzter noch dieser Typ herein wie ein Hirschkäfer, der über die Picknickdecke krabbelt, kaum dass man sie ausgebreitet hat. Musste das sein? Die Lehrpersonen fanden sich zwar damit ab, dass Steiner die Schulglocke und jedes normale Zeitmass ignorierte, plädierten aber trotzdem für die Ordnung, sobald er sich blicken liess. Das lief immer ungefähr gleich ab. Kurzes Gekicher in der Klasse, ach ja, der schon wieder, und alles war gut. Irritierend war Steiner nur, wenn man ihn zum ersten Mal erlebte. Für jemanden, der nicht darauf gefasst war, war sein Zuspätkommen ein Kulturschock. Als er zum ersten Mal im Sortimentskundeunterricht erschien, mit gut zwei Minuten Verspätung, aber ohne Eile, fragte der Lehrer, ein gewisser Herr Erni, der immer auffällige Tiger- oder Gepardfellpantoffeln trug, mit wem er denn die Ehre habe. Darauf Steiner, ohne eine Miene zu verziehen: "Mit mir, soweit ich weiss." Sobald Steiner seinen Sitzplatz bezogen hatte, stieg man in den Unterricht ein und ging zur Tagesordnung über: mit Französisch, Englisch, Deutsch, Korrespondenz, Buchhaltung, Rechts- oder Sortimentskunde. Der Unterricht begann, wenn die Klasse vollständig, respektive die Absenzliste abgehakt war und Steiner zwei- bis dreimal in seine Schultasche gegriffen hatte, um das Schreibzeug und die Bücher und Hefte hervorzukramen. 

Kurz vor seinem Ende, das niemand kommen sah, schaukelte sich der Kalte Krieg nochmals hoch. Während die Schweiz in die Fichenaffäre hineinrutschte, tobte in Basel der Kampf um die Alte Stadtgärtnerei, "die letzte konsumfreie Zone", wie es auf den Flugblättern hiess. Eine Zeitlang gab es fast täglich eine Demo. Es roch nach Krawall. Mein Chef, Ladeninhaber und stramm bürgerlicher EVP-Wähler, bangte um seine Schaufensterscheiben. Am 21. Juni 1988 räumte die Polizei das besetzte Areal hinter dem St. Johannstor, nur wenige hundert Meter von der Evangelischen Buchhandlung entfernt, in der ich meine Lehre machte. Zusammen mit Steiner mischte ich mich unter die Areal-Besetzer und Demonstranten. Die Stimmung kochte. Es war ein Politikum mit vielen Konfliktparteien und Meinungen. Es war schwierig, den Überblick zu behalten. Man wurde vom Geschehen mitgerissen, ohne dass man mit allen Einzelheiten vertraut war. Die Grundidee verstanden wir, und wir teilten sie auch ein Stückweit: es gab das einengende System. Und es gab diejenigen, die dagegen aufbegehrten. Das System war böse, lebensfeindlich, reaktionär. Es war aus Beton und diente sowohl dem Kommerz als auch der bürgerlichen Sonntagsruhe. Und es war gegen die Freiheit, gegen den Wildwuchs. Wir hatten nicht den geringsten Zweifel, für wen oder was wir Partei ergreifen mussten. Die Guten waren die Demonstranten, die Bösen die Drahtzieher hinter der Staatsgewalt, und wir freuten uns auf den grossen Schlagabtausch mit der Polizei. Wir wollten das mal erleben, als Schlachtenbummler und Zaungäste. Wir wollten nicht direkt hineingezogen werden, so politisch waren wir nun auch wieder nicht. Wir wollten lediglich unsere Sympathie für die Demonstranten bekunden und aus Solidarität ein bisschen Tränengas schnuppern. Es war mein freier Nachmittag und der letzte Tag, an dem die Alte Stadtgärtnerei noch existierte, bevor sie vom bürgerlich-kapitalistischen System übernommen und zu einem blitzblank gepützelten Seniorenpärklein umgewandelt werden würde. Abzuwenden war das nicht. Diejenigen, die jetzt schon auf der Verliererseite standen, wollten sich nur nicht kampflos ergeben. Sie waren bereit, das Areal bis zum Letzten zu verteidigen. Die Polizei war in voller Montur angerückt: mit Schlagstöcken, Tränengaspedarden und Plastikschilden. Ein Grossaufgebot. Doch es geschah nichts. Nach einer Stunde geschah noch immer nichts. Jedenfalls nichts Gewalttätiges. Die Stimmung war locker und friedlich, soweit die Stimmung in einem kochenden Kessel überhaupt locker und friedlich sein kann. Ein paar Typen mit Gesichtsverhüllung bastelten Molotow-Cocktails. Wir schauten ihnen interessiert zu. Es war wie an einer Gartenparty, wo der Gastgeber die Grillade und den Sommerbeeren-Punsch vorbereitet, während sich die Gäste auf etwas einstimmen, von dem sie noch nicht genau wissen, was es sein wird. Ein Feuerwerk? Die meisten Links-Alternativen um uns herum schienen nicht sonderlich beunruhigt zu sein, obwohl die Situation alles andere als gemütlich war. Auf der anderen Strassenseite hatte die Polizei eine Formation gebildet, die sich jederzeit in Bewegung setzen konnte. Schild an Schild und Helm an Helm. Es war kein Bluff, obwohl der Zeitpunkt des Losschlagens noch in der Schwebe hing. Sobald man die Strassenseite wechselte, wurde einem der Belagerungszustand bewusst - und man spürte die Anspannung. Aus einem Megaphon plärrte zum wiederholten Male die Aufforderung, das Areal zu räumen, und es war jedes Mal die letzte Warnung, nachdem ein weiteres Ultimatum abgelaufen war. Doch in der Alten Stadtgärtnerei liess man sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Hier war die Welt noch in Ordnung. Jemand spielte Gitarre, und jemand klopfte mit den Handballen indianermässig auf einer Felltrommel herum. Wir rauchten den zweiten Joint. Währenddessen bekamen wir ein bisschen mit, was auf dem besetzten Areal so geredet wurde. Da man viel Zeit und wenig zu tun hatte, wurde viel geredet oder "gequatscht", wie man hier sagte. Man sponn aus dem Nichts die wildesten Sachen aus. Es hiess zum Beispiel, aus Deutschland seien Neo-Nazis im Anmarsch. "Die wollen hier mal richtig aufräumen!" sagte jemand. "Die haben Lunte gerochen, wochenlang haben sie ihre Stellmesser geschliffen!" Und jemand raunte: "Die haben Kontakte zur Basler Polizei, garantiert!" War es wirklich nur ein Gerücht? In einer Situation wie dieser konnte alles passieren. Das sagte sich auch Steiner, der mal von Neo-Nazis angerempelt worden war. "Verdammt. Wenn die hier auftauchen, bin ich raus. Mit denen mach ich kein Fingerhakeln." Grinsend steckte er sich den nächsten Joint an. Die Polizei verhielt sich ruhig, die Areal-Besetzer und Demonstranten verhielten sich ruhig. Alles war friedlich. An ein plötzliches Umkippen glaubten wir nicht mehr so recht. Wir dachten, die Sache wäre gelaufen. Ohne uns noch einmal umzudrehen, trotteten wir in Richtung Schifflände davon. Am nächsten Morgen - es war ein Mittwoch, ein normaler Arbeitstag - kam mein Chef mit der Basler Zeitung auf mich zu. Er war sichtlich aufgebracht. "Wie im Krieg! Unglaublich! Das müssen Sie lesen!" Ich staunte nicht schlecht: Tränengas sei zum Einsatz gekommen, Molotow-Cocktails seien geflogen, ein Polizist habe lichterloh gebrannt, eine "lebendige Fackel" sei er gewesen. Durch einen Sprung in den St. Johannstor-Brunnen habe er sich gerade noch retten können. Ich las das mehrmals durch. Ich konnte es kaum glauben. Wir waren ja schöne Helden! Um nicht mal fünf Minuten hatten wir die Schlacht verpasst! 

Als die Alte Stadtgärtnerei geräumt war und in Basel wieder der normale Alltag einkehrte, holten wir zwei weitere Leute ins Boot und hielten die erste Bandprobe ab. Zweimal wöchentlich trafen wir uns um sieben Uhr abends im Proberaum. Steiner blieb seiner Gewohnheit treu und kam immer etwas zu spät, manchmal ein paar Minuten, manchmal auch eine volle halbe Stunde. Das spielte aber keine Rolle. Wir waren keine Militärkapelle. Und Steiner liess keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sich für diese Band mächtig ins Zeug legte. Ihm verdankten wir schliesslich den Proberaum. In seinem grossen Bekanntenkreis war er auf jemanden gestossen, dessen Cousin oder Schwager einen solchen Raum vermieten konnte. Es war der Hinterraum einer Garage im Gundeldingerquartier, nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt. Von aussen gesehen nichts weiter als ein riesiges graues Garagentor mit zwei kleineren Eingängen. Jede Beschriftung fehlte, kein Firmenschild wies darauf hin, was im Innern vor sich ging, aus dem häufig ein dumpfes Hämmern herausdrang. Für uns war nie so klar, ob diese Werkstatt privat oder gewerbsmässig genutzt wurde. Und woher die Autos und Motorräder stammten, die hier ohne Kennzeichen aufgebockt waren. Zum Teil wurden sie repariert, zum Teil ausgeschlachtet, und zum Teil passierte auch gar nichts mit ihnen. Abends wurde dort kaum noch gearbeitet. Der Garagist - ein Typ namens Alfonso, der immer nur ausweichende Antworten gab, wenn wir ihn über die Garage ausfragten - räumte höchstens noch auf, putzte und ordnete das Werkzeug. Die Wände hatten eine gute Schalldämmung. Bei geschlossener Türe - man musste sie fest zudrücken - drang nichts nach aussen, und nichts drang von aussen in den Übungsraum hinein. Wäre eine Atombombe auf Basel gefallen: wir hätten nichts davon mitbekommen. Wir hätten auch dann nichts davon mitbekommen, wenn wir gerade nicht am Üben gewesen wären. Die Schalldämmung war einfach zu gut. Hier hatten wir unsere Ruhe. Diese Ruhe inspirierte uns zum Bandnamen. Wir nannten uns Hush. Hush wie Stille. Hush wie Ruhe. Diesem Namen machten wir alle Ehre. Oder eben auch nicht. Wir mochten die Ruhe an diesem Ort, es war eine schallisolierte Oase, und der einzige Krach, der uns stören konnte, produzierten wir selbst. Darin lag denn auch die Ironie des Bandnamens: wir mochte es ruhig und liessen es dennoch krachen. Dass jemand, der Deutsch als Muttersprache hatte, bei Hush immer zuerst an Hasch oder Haschisch dachte, lag an einer Homophonie, die wir gar nicht beabsichtigt hatten. Aber sie war uns bewusst, und sie war auch nicht völlig fehl am Platz. Wir waren keine Blaskapelle der Heilsarmee. Wir konnten gut damit leben, obwohl es mich persönlich etwas störte, dass die Leute immer so dämlich grinsten, wenn wir unsern Bandnamen nannten. Husch. Wie doppelsinnig! Wir waren jetzt zu viert, ich an der Orgel, Steiner an der Leadgitarre, und vervollständigt wurde die Band durch einen Schlagzeuger und einen Bassisten, die Steiner in Rekordzeit irgendwo aufgelesen und zum Mitmachen überredet hatte. Steiner übernahm den Gesang. Nicht dass er besonders gut hätte singen können. Es war nur so, dass das Mikrofon dem Mutigsten gehörte, demjenigen mit dem grössten Charisma. Singen konnte von uns niemand. Wir hatten keinen Fred Mercury, keinen Meat Loaf, keinen Bono. Steiner versuchte es trotzdem. Für ihn die gültige Definition von "Sänger in einer Band sein". Seiner Meinung nach musste man nicht unbedingt singen können, um ein Sänger zu sein, gerade das Nicht-Können konnte eine Kunst sein. Wie bei einer Kinderzeichnung oder dem Gekritzel eines Verrückten. Bob Dylan konnte nicht singen, der Sänger von The Seeds konnte nicht singen, Ray Davis, Iggy Pop, Lou Reed und Tom Waits konnten nicht singen. Stefan Eicher, Kuno Lauener und Dieter Meier konnten nicht singen. Und Steiner konnte ebenfalls nicht singen. Er tat es trotzdem. Die Augen geschlossen, den Kopf leicht geneigt, die Arme schlaff herabhängend, sang er zum allerersten Mal einen Song. Er brachte den Mund fast nicht auf beim Singen, aber das machte nichts. In dieser Band, die sich eben erst formiert hatte, zweifelte niemand daran, dass er noch zulegen würde. Seine Songs halfen ihm dabei. Oder besser gesagt: unsere Songs. Steiner tat etwas, das ich auch tat: er schrieb Songs. Ein paarmal trafen wir uns auf der Münsterpfalz, um unsere Songs aufeinander abzustimmen. Unter den knorrigen alten Rosskastanien setzten wir uns auf die Steinbrüstung oder eine Sitzbank. Hier war es nicht ganz so lärmig wie sonst überall in der Stadt. Allerdings wurde die Ruhe immer wieder unterbrochen durch Touristen, die mit ihren weissen Massenkonfektionshütchen und am Hals baumelnden Fotoapparaten grüppchenweise an uns vorüberschlenderten: Engländer, Holländer, Amerikaner, Japaner. Sie alle drängten sich an die Mauer und genossen den Ausblick auf den mächtigen Rheinbogen und die vielen stattlichen Häuser, die ihn säumten. Es schwirrte und schwatzte in allen Sprachen. Mich hemmte das ein bisschen. Steiner war es egal. Hin und wieder sahen uns die Touristen erwartungsvoll an. Wahrscheinlich hielten sie Steiner für einen Strassenmusiker, der seine Akustikgitarre stimmte. Dabei war er schon längst am Spielen. Zu diesen Treffen brachte er immer seine Akustikgitarre mit. Er zeigte mir seine Songs, und ich zeigte ihm ein paar Textzeilen, die ich in einer Schulstunde zusammengeschustert hatte. Take a cab and come to me. Don't spoil the party with your buxom heel. Etwas in dieser Art. Jedes zweite Wort hatte ich aus einem Englisch-Diktionär. Für ein grossartiges Songwriting war mein aktiver Englisch-Wortschatz kaum zu gebrauchen, ich fabrizierte einen Haufen Unsinn. Aber letztlich kam es nur auf den richtigen groove an. Da ich mein Farfisa-Örgelchen nicht mitschleppen konnte, musste ich die Sache vorsummen oder die Akkorde behelfsmässig auf Steiners Gitarre zusammensuchen. Steiner verfasste seine Songtexte häufig beim Biertrinken, die Zeilenanfänge kritzelte er auf die Rückseite des Bierdeckels, den Rest behielt er im Kopf. An der Gitarre nahm er dann den Bierdeckel aus der Jackentasche, kritzelte ein paar neue Wörter hin, strich ein paar Wörter durch - und legte los. Sein Englisch war bei weitem besser als meines, er dachte und träumte auf Englisch. Er hatte sich diese Sprache, die auch für ihn eine Fremdsprache war, so sehr zu eigen gemacht, dass sie ganz natürlich aus ihm herausfloss. Seine Songtexte hörten sich verdammt cool an. Wie auch die Songs selber. Sie waren finster und rau, teilweise ein bisschen punkig, meine zogen eher in Richtung Pop. Unter Pop verstand ich alles, was leicht zugänglich und geschmacklich breit aufgestellt war. Pop konnte scheisse oder genial sein. Pop empfand ich als melting pot, als offen und easy-going: da konnte man nach Herzenslust mixen und ausprobieren, was mir insofern entgegenkam, als ich zum Beispiel auch Jazz mochte. Ich mochte eigentlich fast alles, solange es eine gewisse Natürlichkeit, einen gewissen swing hatte. Steiner war etwas puristischer unterwegs. Er hatte seine Linie, seinen style. Wobei das eben keine Stilisierung war, nichts Gezwungenes oder Gekünsteltes. "Ein Song", sagte er, "muss so authentisch sein wie ein Hustenanfall oder ein Hundegebell." Seine Songs waren ungeschliffen und kantig, meine eher melodiös und verspielt, wobei ich immer darauf schaute, dass die Melodie so catchy wie möglich war. Sie sollte auf dem direktesten Weg ins Ohr gelangen. Raffiniert, knackig und einfach, so musste ein Popsong sein. Das war es, was ich hinbekommen wollte. Ich mochte keinen Schwulst. Meiner Meinung nach gab es davon im aktuellen Musikgeschehen mehr als genug. Was man da am laufenden Band zu hören bekam, war ungemein aufgeblasen. Steiner sah das auch so. Auch er haderte mit dem mainstream, mit dem ganzen kommerzialisierten Schwulst, der Woche für Woche auf den Schwulsthaufen der Hitparade gekippt wurde. "Regel Nummer eins," sagte Steiner. "Schreibe niemals einen Lovesong. Ich weiss, die Weiber mögen das. Aber wir sollten ihnen das abgewöhnen. Ihre ganze Zickigkeit kommt nur daher, dass sie die Realität mit einem Lovesong verwechseln." Obwohl ich tränentriefende Schnulzen genauso verabscheute wie Steiner, sah ich das nicht so eng. Ich hatte sogar einen Song geschrieben, in dem das Wort "Baby" vorkommt. Baby I'm looking at you, that's all I want to do with you. Gut, der Text hätte auch von Peach Weber sein können, in einer einzigen Zeile "you" auf "do" und "do" auf "you" zu reimen, ist vielleicht nicht besonders erotisierend, aber ich mochte die Einfachheit. In diesem Punkt waren wir durchaus gleicher Meinung. Keep it simple, sagten wir uns. Oder: Back to the roots. Wobei sich das in unsern Songs sehr unterschiedlich artikulierte. Der eine malte lieber in Schwarz, der andere in Weiss. Wir ergänzten uns ideal. Ich schrieb ein paar Songs, Steiner schrieb ein paar Songs. Wir wetteiferten ein bisschen. Manchmal schrieb ich etwas Punkiges, um ihm zu imponieren. Worauf er sich revanchierte, indem er sich etwas ausdachte, das nicht einfach bloss hingerotzt war. Wir fühlten uns wie Lennon und McCartney. Mindestens. Darunter machten wir es nicht. Beim Singen liess ich Steiner den Vortritt, ich war froh, dass er mir das abnahm. Sein Tonumfang war bescheiden. Aber wie gesagt: darauf kam es nicht an. Wir wollten ja nichts Gekünsteltes. Und die Stimme war gut. Sie hatte Charakter. Mit dieser Stimme hätte er auch Moderator werden können, Sportreporter oder sowas. Sie gab etwas her. Sie hatte eine starke Präsenz, wie man so sagt, sie lief vorneweg, wenn die Band spielte, und das war wichtig. Steiner war nun auch unser Sänger. Gleichzeitig zu singen und Gitarre zu spielen, war für ihn noch schwierig. Das musste er noch üben. Und auch das Zusammenspiel war noch eine Herausforderung. Jeder klebte noch an seinem Instrument, hörte die meiste Zeit nur sich selbst und suchte unentwegt nach den richtigen Griffen oder Taktschlägen. Es gab kein Patentrezept für ein gutes Zusammenspiel, und es gab auch keinen Dirigenten, der ein bisschen Ordnung in die Sache hätte bringen können. Es gab viel zu tun, viel zu lernen. Und dafür hatten wir nun diesen Raum.

Wir spielten anfängerhaft, viel Krach und wenig Musik. Wenigstens hatten wir einen Marshall-Verstärker, der für die nötige Lautstärke sorgte, und ein Mischpult für Demo-Aufnahmen, und vor allem hatten wir zwei Mitmusiker, die zu hundert Prozent mitmachten: Schäppi am Schlagzeug und Rolf am Bass. Schäppi war der Sohn eines Immobilienmoguls. Er arbeitete aushilfsweise auf der Post, lebte jedoch von den monatlichen Zuwendungen des Herrn Papa. Die waren nicht gerade üppig, aber ausreichend. Und wie immer in solchen Fällen waren sie an Auflagen gebunden. Schäppi junior musste sich abseits halten. Er wurde von der Nachfolge und allen Firmenentscheidungen ausgeschlossen. Er war das schwarze Schaf in der Familie, Die Immobilienverwaltung, die als Familiensache gehandelt wurde, war für ihn eine Nummer zu gross. Er durfte da nicht mittun. Und er wollte es auch nicht. Er konnte weder mit Bewirtschaftungsfragen noch mit Verantwortung umgehen. Er hatte zwei Geschwister, die ihm das abnahmen. Sie hatten sich in der Chefetage fest installiert. Dank ihren Qualifikationen waren sie dazu bestimmt, die Nachfolge in der Schäppi-Dynastie anzutreten. Der Schäppi junior, der bei uns Schlagzeug spielte, war nicht besonders hoch qualifiziert. Er konnte nichts ausser saufen und trommeln. Jedenfalls sagte er das über sich selbst. Er wusste, dass er diese Meinung haben durfte. Dass er damit kokettieren durfte. Er genoss die Narrenfreiheit des Ausgestossenen. Er war schwierig und lieb zugleich, eine Seele von Mensch, ein Kumpel, wie man sich ihn nur wünschen konnte, und doch auch jemand, mit dem man öfters hadern musste. Für das "gemeinsame Feeling", wie er die entspannte Gruppenstimmung nannte, die beim Proben manchmal aufkam, wäre er durch sämtliche Feuer gesprungen, was uns die längste Zeit darüber hinwegsehen liess, dass er als Schlagzeuger hinter den Erwartungen zurückblieb. Nicht dass er nicht hätte wirbeln und auf die Pauke hauen können! Einleitungen, Übergänge und Tuschs beherrschte er perfekt. Sein Problem war, dass er Mühe hatte, den Takt zu halten. Sobald seine Konzentration nachliess, kam das Taktgefüge ins Wanken, und jeder, ausser Rolf, der nicht zu beirren war, stolperte nur noch vor sich hin. Im Grunde war Schäppi kein Schlagzeuger, sondern ein Fasnachtstrommler. Er war es gewohnt, Teil einer Truppe zu sein, die ihn hob und schob wie ein Papierschiffchen, das auf einer Welle reitet. Um im Takt bleiben zu können, musste er in einem marschtüchtigen Takt aufgehen. Sich aufgehoben fühlen in einem bunten Gelärm, mitmarschieren, mittrommeln: darauf zielte seine tiefste Sehnsucht. Ausserhalb der Fasnacht gab es für ihn kein richtiges Trommeln. Oder nur ein Trommeln, das die Fasnacht herbeitrommeln sollte. Ohne Fasnacht fehlte ihm etwas, es fehlte ihm das Zugseil, das ihn mitzog, seine Konzentration liess allzu schnell nach, allzu schnell liess er die Schlägel sinken. "Ich pfeife aus dem letzten Loch, obwohl ich ein Trommler bin. Seht, wie ich schwitze! Seht, wie meine Trommlerhände zittern! Es ist das Wetter. Das Wetter macht mich fix und fertig!" Das war seine normale Erklärung, wenn er nicht weiterkam. Wir redeten ihm gut zu, und plötzlich ging es wieder. Plötzlich raffte er sich zu neuem Schwung auf, und alles kam wieder in Fahrt. Er sei halt eine Gemütswurzel, sagten wir. Er bestehe aus lauter Gemütszuständen und Hirngespinsten. Dazu gehörte zum Beispiel auch seine Fasnachtssehnsucht. Er machte nicht wirklich Fasnacht. Er hatte mal Fasnacht gemacht. Er war mal in einer Clique gewesen, hatte aber mit den Verbindlichkeiten gehadert, die das Vereinsleben so mit sich bringt. Er war ausgetreten, und jetzt hatte er seine eigene Fasnacht, eine Traumfasnacht. Was nicht heisst, dass er überhaupt nicht mehr Fasnacht machte. Wenn es in Basel wieder so weit war und es in der ganzen Innenstadt zu pfeifen und zu scheppern begann, kroch er aus seinem Bau hervor wie ein Dachs, der seinen Winterschlaf loswerden will, und ging ein bisschen auf die Gasse, ganz für sich alleine, mit einer Trommel und einem alten Blätzlibajass-Kostüm.

Rolf, ein Postangestellter aus Allschwil, war der typische Bassist. Mit seinem Bass stand er wie ein Fels in der Brandung. Auch im grössten Durcheinander ging kein Ton daneben, kein Lauf wurde verzögert oder ausgesetzt. Was er mit seinen Griffen zusammenfügte, war solid gemauert und widerstandsfähig, ein Sound aus Backsteinen. Auf Rolf war Verlass. Anders als Steiner war er keine Diva. Und er war auch keine Gemütswurzel wie Schäppi. Und mit mir hatte er schon gar nichts gemein. Er war anders als wir. Jeder von uns stand etwas schräg in der Landschaft. Etwas windschief, könnte man sagen. Auf Rolf traf das nicht zu. Er war grundsolide, ein Kasten von Mann, es fehlte ihm jede Kompliziertheit, und trotzdem sahen wir zu ihm auf. Er war der Einzige von uns, der eine feste Freundin und sogar Kinder hatte, zwei Mädchen im Vorschulalter. Seine Freundin hatte sie mit in die Beziehung gebracht, und er war nun der Vater. Nicht auf dem Papier, aber im realen Leben. Er ging mit ihnen in den Zolli und in die Badi. Und in der Badi schmiss er sie ins Sprungbecken und liess sie den Hundeschwumm machen. Er war für sie da und trug Verantwortung. Eine Rolle, die ihm lag. Trotz Lederjacke, Ohrpiercings und Stiernacken. Und trotz gelegentlichem Geschwindigkeitsrausch. Er fuhr eine Kawasaki, die kräftig röhrte und sich wie bei einem Trophy-Rennen in die Kurven legte, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir wohl Heavy Metal gemacht. Wir hätten die dicksten Pflöcke eingeschlagen. Heavy Metal passte zu Rolf, weil man da immer wusste, woran man war. Im Heavy Metal war alles gradlinig und sauber. Ohne jede offene Fuge. Auf A folgte B, und auf B folgte C. Ein Mann, ein Wort. Harte Schale, weicher Kern. Die Machart war bodenständig und robust, aber letzten Endes doch auch etwas schlicht. Es entsprach voll und ganz Rolfs Wesensart. Nichts Gewundenes, keine doppelten Böden, keine Halbheiten, nichts Seltsames, Konfuses oder Kompliziertes, nichts, bei dem man den Kopf anstrengen musste. Und immer die volle, unironische Männlichkeit, die hauptsächlich darin bestand, dass man den Unterkiefer vorschob und seine Muckis zeigte, egal, ob man welche hatte oder nicht. Metal war damals schwer in Mode. Steiner und ich reagierten immer etwas ungehalten, wenn jemand sofort und automatisch eine verstärkte Gitarre mit Heavy Metal in Verbindung brachte und diese Musikrichtung über alles andere stellte. Für uns gab es nichts Uncooleres als Metalheads und Metal-Musiker. Das waren Leute, die bei jeder Gelegenheit mit ihrer Grimmigkeit posierten. Mit einem furchteinflössenden Getue und Aussehen. Dabei waren sie so bärig-bieder und konservativ wie die letzten Holzfäller aus Kentucky. Die einzigen Ausnahmen, die wir gelten liessen, waren AC/DC und Lemmy Kilmister. Als wir "Bleach" hörten, die erste Platte einer unbekannten Underground-Band aus Seattle, war uns sofort klar, dass es hier eine Schnittfläche gab. Die Kluft zwischen Heavy Metal und Punk, Heavy Metal und Pop und nicht zuletzt auch zwischen Pop und Punk war hier auf einmal kein Thema mehr. Die Band hiess Nirvana. Ein Geheimtip. Steiner war auf sie aufmerksam geworden, als er an einer Plattenbörse nach neuen Sachen gesucht hatte. "Bleach" hatte die Härte von Heavy Metal und war doch etwas Besonderes. Man konnte dieses Karacho nicht so richtig einordnen. Es war eigenwillig, roh, furios, genialisch. Und trotzdem irgendwie auch Heavy Metal. Etwas zwischen Heavy Metal, Punk und, naja, der Sorte Musik, die Steiner auf dem Flohmarkt ausgegraben hatte. Da und dort hörte man sogar ein bisschen die Beatles heraus. Inmitten ruppigster Gitarren sprangen die Harmonien auf einem phantastischen Hochtrapez herum, mit unerwarteten Akkordwechseln, die einen fast verrückt machten. Hier kam jeder von uns auf seine Kosten. Wir mochten diesen Sound, und auch Rolf mochte ihn. Es war unser Glück, dass er kein Purist war. Er war sehr anpassungsfähig, sein eigener Geschmack war ihm nicht so wichtig. Er wollte lediglich Bass spielen. Und vor allem wollte er wie ein Bassist aussehen. Er wollte eine gute Figur mit seinem Bass machen - und nachher ein Bierchen mit uns trinken. Vor jeder Probe schaffte er zwei Sixpacks heran. Er stellte sicher, dass wir uns wohl fühlten. Wir waren die Band, seine Band, und die Band war ihm wichtig. Und er wollte auch wichtig für die Band sein. Fast überaufmerksam machte er sich am Proberaum zu schaffen. Er war unser Raumpfleger. Er sorgte für eine behagliche Atmosphäre, wischte den Dreck auf, leerte die Aschenbecher und sammelte die leeren Bierflaschen und Bierbüchsen ein. Wie auch Fastfood-Reste, übrig gebliebene Pizzaschachteln und leergefutterte Pommes Chips-Packungen. Wenn es im Proberaum aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen, beschwerte er sich nicht, sondern machte sich gleich an die Arbeit. Schon nach der ersten Probe hatte er Abfallsäcke besorgt und ohne viel Aufhebens hinter uns hergeräumt. Er machte das automatisch, als wäre es seine Pflicht. Und wir nahmen es als selbstverständlich und verliessen uns darauf. Er war die Mutter der Garnison. Sah man ihn Bass spielen, ohne ihn näher zu kennen, glaubte man einen hartgesottenen Typen vor sich zu haben. Einen stahlharten Rocker. Sobald er den Bass jedoch weglegte, war er wie verwandelt und völlig harmlos Ohne Bass konnte er sehr charmant sein. Er plauderte und scherzte, klopfte uns auf die Schultern und lud uns zum Grillieren auf seinen Balkon ein. Beim gemeinsamen Grillieren lernten wir denn auch Rolfs Anhang kennen, seinen "Weiberzirkus", wie er ihn nannte. Wozu auch zwei halbwüchsige Katzen gehörten. "Was wäre ein Zirkus ohne Löwen?" witzelte Rolf. Die Wohnung lag in der idyllischen Einflugschneise von Allschwil, nicht weit vom Dorfzentrum entfernt, und wir besuchten ihn dort ein paarmal, um zu grillieren oder uns bekochen zu lassen. Er war der Einzige von uns, der die Band bei sich zu Hause verköstigen konnte. Trotz des Fluglärms hatte er ein wohnliches Zuhause, ein vorzeigbares Zuhause, kein Loch wie Schäppi, keine Gettowohnung wie Steiner, keine Studentenmansarde wie ich. Er alberte mit den Kindern herum, fütterte die Katzen, half der Freundin in der Küche. Es war rührend. Im Vergleich zu ihm waren wir ziemlich verwahrlost. Er liess es krachen, wenn er in die Saiten griff, nicht vorher und nicht nachher. Abseits der Sphäre, in der er Bass spielte, erschreckte er niemanden, nicht einmal seine Katzen. Er war der bünzligste Mensch, den man sich vorstellen konnte. Kann sein, dass er die Band als Ausgleich brauchte, zum Dampfablassen. In der Garage lernten wir, laut zu spielen, mit steigendem Selbstbewusstsein drehten wir den Pegler am Hauptverstärker jedes Mal ein bisschen weiter auf, weil die Schalldämmung das zuliess, und Rolf kam das natürlich sehr gelegen. Sein Bass musste in die Magengrube fahren wie ein Hubkolbenmotor, das war ihm wichtig. 

Der Garagist und Garagenbesitzer, ein Algerier, den wir Alfonso nannten, weil er wie ein Italiener aussah, hielt uns für einen Chaotenhaufen. Er war überzeugt davon, dass wir nichts konnten, nichts taugten. "Ein Sauhaufen seid ihr," sagte er. "Bis zum Beweis des Gegenteils gehe ich davon aus, dass nichts aus euch Säcken wird! Nein, aus euch wird nie was." Immer wieder fragte er nach "Smoke on the water." Das wäre doch zur Abwechslung mal ein guter Song! Ausserdem sei das ein Prüfstein für jeden Gitarrenanfänger! Das enttäusche ihn aber schon ein bisschen, dass wir "Smoke on the water" nicht im Repertoire hätten. So etwas gebe es doch eigentlich gar nicht! Wir sagten, dass wir keine Cover-Band seien. Dass wir vorwiegend eigene Songs spielten. "Hey Alter, jetzt hab dich nicht so," sagte Steiner. "Wir machen uns die Mühe, kreativ zu sein. Wir spielen etwas Eigenes. Das ist der Anspruch, den wir haben." - "Aha," meinte Alfonso spöttisch. "Etwas Eigenes. Die Herren ziehen es vor, Eigenkompositionen zu spielen, nicht schlecht..." Er verschwand kopfschüttelnd in seiner Werkstatt, während er sich die Hände an einem Lappen abrieb. Und keine fünf Minuten später tauchte er dann wieder auf und streckte seinen Kopf zur Tür herein, weil er durch die Schalldämmung hindurch etwas gehört zu haben glaubte, das ihn an Heavy Metal erinnerte. Sein Verlangen nach Heavy Metal war so stark, dass er zuweilen halluzinierte. Er fiel auf eine Gehörtäuschung herein - und war dann buchstäblich enttäuscht. Sobald er bei uns hereinhörte, war da keine Spur mehr von Heavy Metal oder Hardrock, stattdessen ein schwammiges Durcheinander aus verzerrter Gitarre, kesselndem Schlagzeug und wabernden Orgelklängen. Das war laut, misstönend und chaotisch, aber nicht hart. Es war kein Heavy Metal, nichts, wozu Alfonso mit seinen langen Haaren headbangen konnte. "Spielt doch mal etwas Bekanntes," schnaufte er. "Eigenkompositionen, das soll einer klug daraus werden! Das kann ich auch! Irgendeinen Scheisskrach veranstalten - und dann behaupten, es sei eine Eigenkomposition!" Er tolerierte uns, weil wir Miete zahlten. Zumindest anfänglich klappte es mit den Einzahlungen noch recht gut. Der Proberaum war eine Chance, die wir zu nutzen gedachten. Wir waren auf Kurs und machten Fortschritte, was Alfonso nicht davon abhielt, sich über uns lustig zu machen. Er lachte sich ins Fäustchen, weil er zu wissen glaubte, dass Typen wie wir noch nie auf einen grünen Zweig gekommen waren. Hoffnungslos. Wir schafften es ja nicht mal, "Smoke on the water" zu spielen, einen Song, der jeden Heavy-Metal-Anfänger inspirierte und zum ausführlichen Headbangen verleitete, was ihm die Zustimmung derer einbrachte, für die Heavy Metal das Mass aller Dinge war. Weil wir keine primitiven Headbanger waren und unbescheiden daran festhielten, eigene Songs zu spielen, manövrierten wir uns ins Abseits. Wir machten zwar Krach, aber keinen Heavy Metal. Das war es, worüber sich Alfonso aufregte - und worüber er die ganze Zeit den Kopf schüttelte. Es gab kein Headbangen bei uns, nur Kopfschütteln. Wir verschmähten das Elementarste, das es auf dem weiten Gebiet der verstärkten Gitarren überhaupt gab. Sobald man einen Marshall-Verstärker an die Gitarre anschloss und ein paar Probegriffe machte, kam man wie beiläufig auf "Smoke on the water", respektive den bekanntesten Gitarrenriff der Rockgeschichte. Natürlich war "Smoke on the water" Hardrock und nicht Heavy Metal, aber Hardrock war nun mal die Mutter von Heavy Metal, und wer Heavy Metal machte oder sich mit seiner verzerrten Gitarre auch nur im entferntesten in diese Richtung bewegte, geriet unweigerlich in das Gravitationsfeld von "Smoke on the water". Es führte kein Weg darum herum. Ausser bei uns. Bei uns war das anders. "Scheisse. Was tun die hier eigentlich?" murmelte Alfonso vor sich hin, wenn er davonschlurfte, um in seiner Werkstatt weiter aufzuräumen. Wennschon Krach, dann sollte es wenigstens Heavy Metal sein! Wir machten nichts, wozu man headbangen konnte. Schon jetzt fielen wir durch. Schon jetzt bekamen wir einen nach unten gerichteten Daumen vorgezeigt. Wenigstens brauchten wir uns nicht zu schämen. In diesem Raum, dem Hinterraum einer dubiosen Garage, konnte wir tun und lassen, was wir wollten. Wir waren niemandem Rechenschaft schuldig. Wir konnten kiffen und Bier saufen, mit Rückkopplungen experimentieren, das verlorene Plektrum auf dem Boden suchen oder dumm herumquatschen. Wir konnten stundenweise abhängen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, wir konnten einen Bong rauchen, wenn uns danach war, oder gar eine Runde schlafen, wir konnten auch die Unlust kultivieren, die totale Passivität, wir waren unter uns, und der Einzige, der hin und wieder hereinschaute, war ein Algerier, der nichts dagegen hatte, dass wir ihn Alfonso nannten. Einmal - ein einziges Mal - besuchte uns jemand aus der Aussenwelt. Es war Marcel Aeby, der Leadgitarrist von More Experience, einer bekannten Jimi-Hendrix-Coverband, die damals häufig im Atlantis auftrat. Er war ein Kumpel von Alfonso. Eines Abends kam er ganz plötzlich hereingeschneit, weil er sich für unsern Verstärker interessierte. Steiner hatte ihn schon mal im Atlantis gesehen und machte ziemlich grosse Augen. Wir andern wussten nicht, wer das war, wir dachten, es wäre irgendein Penner. Aeby verlor nicht viele Worte. Er schloss seine Gitarre an, schmetterte ein paar virtuose Läufe hin, diskutierte kurz mit Alfonso und machte sich wieder davon. "So, und jetzt seid ihr an der Reihe!" meinte Alfonso spöttisch, als wir ein paar Minuten später immer noch mit offenen Mündern dastanden. Das war eindeutig nicht unsere Liga! Dabei legte Alfonso die Latte gar nicht so hoch. Es hätte ihm schon genügt, wenn wir "Smoke on the water" gespielt hätten, das Mitgröllied aller Headbanger. Hätten wir uns dazu durchgerungen, "Smoke on the water" zu spielen, hätte er uns vielleicht mit Wohlwollen bedacht. Und vielleicht hätte er dann vor seinen Kumpels mit uns geprahlt und uns als die ultimative Cover-Band angepriesen. "Die spielen Deep Purple in meiner Garage! Ich muss die ganze Zeit headbangen. Ich komme kaum noch zum Arbeiten. Hammermässig!" Zu allem Überfluss zog er uns auch noch damit auf, dass Deep Purple in den späten Sechzigern, einige Jahre vor "Smoke on the Water", mit dem Song "Hush" die Hitparaden gestürmt hatten. "Schon allein euer Bandname verpflichtet euch dazu, etwas von Deep Purple zu spielen," meinte Alfonso. Wir fragten ihn, ob er denn nicht selber eine Band gründen wolle, eine Deep Purple-Cover-Band für die Headbanger der ersten Headbanger-Generation. Was uns selbst betraf, so hatten wir keinerlei Interesse am Covern, und schon gar nicht von Songs, die sich jemand wie Alfonso - ein langhaariger Headbanger mit tätowierten Oberarmen - aufs Znünibrot strich. Der einzige Song, den wir coverten, stammte von der englischen Underground-Band The Purple Gang, und das war eben nicht Deep Purple. Es war eine Band aus den Sechzigern, die völlig in Vergessenheit geraten war. Nicht einmal Steiner, der sich in diesen Bereichen recht gut auskannte, hatte je von ihr gehört. Als er zufällig eine Platte von ihr in die Hände bekam, war das daran anschließende Hörerlebnis wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Vermutlich war diese Band schon damals - zu ihrer aktiven Zeit - nicht mit Erfolg gesegnet gewesen. Vielleicht weil der Sänger bei seinen Auftritten immer eine Strumpfmaske getragen hatte. Vielleicht aber auch, weil der Sound seltsam zeitverschoben wirkte, als wäre die Band aus einem Stummfilm von Buster Keaton herausgepurzelt und hätte im Tonstudio zuerst einmal herausfinden müssen, wie eine elektrische Gitarre funktioniert. Steiner hatte die Platte - wie alle seine "Scherben" - auf dem Flohmarkt ausgegraben. Gleich darauf kam er zu mir. Er hatte eine grimmige Begeisterung im Gesicht. Wie konnte eine solche Band nur in Vergessenheit geraten! "Hey Alter, das ist pures Gold! Ich weiss, wir haben die Regel, keine Songs zu covern. Aber hier wäre eine Ausnahme mehr als angebracht!" Wir entschieden uns für den fünften Song auf der A-Seite. Er hiess "Mr. Aldred Jones", und es war eine gute Entscheidung. Die Schuhgrösse passte. 

Alfonsos Geringschätzung brach uns keinen Zacken aus der Krone. Bevor wir uns auf die Aussenwelt einlassen konnten, auf Headbanger wie Alfonso, mussten wir zuerst einmal mit uns selbst klarkommen. Der zusammengewürfelte Haufen musste eine Band werden, in der man am gleichen Strick zog. Hätten wir mit diesem Teamgeist eine Bank überfallen, hätten wir uns wahrscheinlich schon beim "Hände hoch!" verheddert, weil die einen ihre Strumpfmaske nicht aufhatten und die andern wild um sich schossen. Und dann war da noch unser Sorgenkind. Ein Spezialfall. Ein treuherziger Kumpan, aber als Schlagzeuger zum Davonlaufen. Wie sollten wir mit Schäppi umgehen? War es richtig, ihn mitzuschleifen, obwohl er nahezu unverbesserlich war und uns immer wieder Probleme bereiten würde? Obwohl er nach jedem Fortschritt einen Rückschritt machte, sodass man kaum vom Fleck kam? Sollten wir ihn schonen, härter drannehmen oder rauswerfen? Ermutigen oder zusammenstauchen? Mit Schäppi war es nicht gerade einfach. Es gab Tage, an denen er wacker den Takt hielt, und es gab Tage, an denen er alles abbremste und zum Stillstand brachte, als ginge ihm die Luft aus. Wie verlässlich er spielte, hing von seiner Tagesform ab. Bei einem Formtief benötigte er eine Sonderbehandlung mit sehr viel Schonung und Anschub. War er gut drauf, rief er nach jedem Song "Hösch, das war aber super!" und lobte sich selbst, indem er darauf hinwies, dass er heute wirklich gut drauf sei. So wurstelte er sich durch, und er hatte auch stets eine Erklärung parat. Für alles, was bei ihm schiefging, machte er die aktuelle Wetterlage verantwortlich. War der Luftdruck hoch, lag es an der Höhe. War er tief, lag es an der Tiefe. Bei Regen war der Regen schuld und bei Sonnenschein die Hitze. Irgendein Wetter ist ja immer. Zum Glück gab es in all dieser Zeit keinen Hagelsturm, sonst wäre Schäppi noch ins Koma gefallen. Mehrmals blieb er uns das Geld für die Miete schuldig. Wenn er blank war, was hin und wieder vorkam, weil die väterlichen Zuwendungen keine Extravaganzen erlaubten, blieb uns nichts anderes übrig, als seinen Anteil mitzutragen und irgendwie unter uns aufzuteilen. Was zu allerlei Konfusionen führte. Im Grunde hatte niemand wirklich den Überblick. Niemand wusste, wieviel Geld von wem in den Proberaum floss. Und ob es am Ende des Monats überhaupt reichte. Steiner, der für das Finanzielle zuständig war, tätigte die Einzahlungen zu spät, nur teilweise oder gar nicht. Ein Punkt, bei dem Alfonso nicht mit sich reden liess. Und es nützte uns auch nichts, dass wir gut mit ihm auskamen. Irgendwann hatte er die Nase voll und stellte uns auf die Strasse.

Steiner blieb indes nicht untätig. Er entsandte Sendboten und zog Erkundigungen ein. Er knüpfte Verbindungen, die bis zur Tante der Schwägerin der Freundin eines Kollegen reichten, und so kam es, dass wir fast ohne Unterbruch weiterproben konnten. Wir brauchten bloss einen fliegenden Wechsel zu machen: wie Matrosen, die von einem sinkenden Schiff direkt auf ein anderes Schiff springen und dabei nicht einmal den Kurs ändern müssen. In Birsfelden, direkt am Birsufer, im Untergeschoss eines Wohnhauses, in dem sich auch eine Coop-Filiale befand, ging es weiter mit den Proben und dieser Band, die immer noch Hush hiess. Hush wie Stille, Hush wie Ruhe. Hush wie Hösch. Hush wie husch husch. Husch wie huch! Und Hush wie Hasch. Die Wände hatten keine Schalldämmung, das Licht war schlecht und der Boden nackt und kalt. Die Vermieterin, eine Frau Rüfenacht, die im Stockwerk darüber wohnte und uns bei der Schlüsselübergabe im Nachthemd, mit Trockenhaubenwicklern im Haar und einer brennenden Zigarette gegenübertrat, liess uns freie Hand. Solange wir die Bausubstanz nicht antasteten, die Leitungen und tragenden Elemente nicht beschädigten, durften wir mit dem Raum anstellen, was wir wollten. Und ja, selbstveständlich mussten wir auf die Lautstärke achten. Trotz der Coop-Filiale, die sich auf der Strassenseite, im vorderen Gebäudeteil befand, waren wir mitten in einem Wohnquartier. Ringsum seien Nachbarn, die die Ruhe schätzten, meinte Frau Rüfenacht, und sie selbst schätze die Ruhe auch. Bei allem Verständnis für die Bedürfnisse von uns Jungen: das Letzte, was man hier brauchen könne, sei ein Krawall nach Feierabend, eine Partymeile im Hinterhof. Es stehe uns aber frei, eine Schalldämmung anzubringen, da hätten wir freie Hand und die volle Zustimmung aller Anwohner. Steiner wälzte einen Plan nach dem andern. Er studierte an einer kostengünstigen Schalldämmung herum. Wir waren uns nicht recht einig: Eierkartons, Bastmatten oder Schaumgummi. Oder gar nichts und den Nachbarn zuliebe in Zimmerlautstärke spielen. Während wir uns noch beratschlagten, hatte Steiner schon eine Lösung in Sicht. Er kontaktierte einen Kollegen, der auf dem Bau arbeitete und ohne allzu viele Formalitäten eine Ladung Glaswollematten auftreiben konnte, Ausschussware für drei Franken das Stück. Mit einem Lieferwagen brachte er das Zeug nach Birsfelden, wo sich Steiner sofort an die Arbeit machte. Das war mitten in der Nacht, und am nächsten Morgen - es war ein Sonntag - war die Schallisolation schon fast hergerichtet. Bei den letzten Matten legten wir Hand mit an, widerwillig, weil uns Steiner damit überrumpelt hatte. Er hatte uns in aller Eile zusammengetrommelt, damit wir noch mithelfen konnten. Aber es war nicht mit uns abgesprochen gewesen. Steiner hatte sich eigenmächtig für Glaswolle entschieden - und jede andere Meinung  ignoriert. Nicht nur deswegen grollten wir ihm. In seinem Übereifer - seinem Do-it-yourself-Wahn - hatte Steiner etwas Wichtiges übersehen. Glaswolle ist kein unbedenkliches Material. Es ist krebserregend. Damals war das zum ersten Mal ein öffentliches Thema. Es gab Berichte über Handwerker, die vor dreissig oder vierzig Jahren solche Matten verlegt hatten und die längste Zeit symptomfrei geblieben waren, und auf einmal bekamen sie Krebs, nachweislich verursacht durch mikroskopische Glassplitter, die über die Lungen ins Blut gelangt waren. "Und jetzt?" fragte Rolf. "Nehmen wir den Scheiss wieder runter? Protzen wir alles ab und vergiften uns noch mehr?" Wir atmeten flach, um weniger davon abzukriegen. Das konnte natürlich kein Dauerzustand sein. Steiner besorgte einen Stapel Bettlaken und Tischtücher und deckte sämtliche Wände und die Eingangstüre damit ab. Die Situation war jetzt nicht mehr ganz so schlimm. Aber immer noch schlimm genug. Nach wie vor juckte die Glaswolle am ganzen Körper. Sie verteilte sich sehr fein. Man hatte das Zeug überall, in den Haaren, in den Kleidern und am ganzen Körper. Es war wie Konfetti oder Sägemehl. Wegen Hautreizungen, die mich fürchterlich gejuckt hatten, war ich erst kürzlich beim Arzt gewesen. Ich hatte ihn gefragt, ob es eine Lebensmittelallergie sein könnte. Oder eine Infektion. Oder eine Kapillarblutung. Nach einem flüchtigen Blick auf meine gesprenkelten Oberschenkel sagte er: "Vielleicht duschen Sie etwas zu viel. Es könnte das Duschgel sein." Als ich das Duschgel fortwarf, verschwanden die Flecken ziemlich schnell. Einmal mehr musste ich mir eingestehen, dass ich ein schlechter Patient war. Schon mehrmals war ich auf einen falschen Alarm hereingefallen. Man hatte mich schon von oben bis unten geröngt und abgeklopft, weil ich "etwas Komisches gespürt" hatte, und dann stellte sich heraus, dass der Bund meiner Hose zu eng war oder dass ich den obersten Hemdknopf nicht hätte zuknöpfen dürfen. Das Leben ist umständlich. Ständig läuft man Gefahr, etwas falsch zu machen und sich in irgendwelchen Misslichkeiten zu verstricken, die einen derart destabilisieren, dass man beim Anblick des eigenen Schattens erschrickt. Auch deshalb hasste ich die Glaswolle: weil sie einen falschen Alarm auslösen konnte. Da ich um die Langzeitwirkung dieses heimtückischen Materials wusste, rechnete ich damit, dass sich meine Lebensdauer drastisch verkürzen würde. Angesichts der langen Latenzzeit ging ich davon aus, dass ich das vierzigste Lebensjahr vielleicht noch knapp erreichen würde. Das ist immerhin die durchschnittliche Lebenserwartung eines Schimpansen. Als besonders schlimm empfand ich das nicht. Was mir Angst machte, war die Krankheit, nicht der Verlust an Lebenszeit. Wenn ich nur schon an die nächsten zehn Jahre dachte, glaubte ich eine Unermesslichkeit vor mir zu haben. Bis zum ersten runden Geburtstag jenseits der Dreissig erstreckte sich eine Zeitspanne, die ich mir gar nicht richtig vorstellen konnte. Das waren zwanzig Jahre, die ich nicht versauen durfte, weil es keine Ewigkeit war. Und trotzdem war es eine riesige Spanne Zeit, genügend Zeit für alles, was ich noch machen wollte. Regelmässig wandern und schwimmen gehen, wenig arbeiten, hin und wieder schwarzfahren und den Nervenkitzel geniessen. Solche Sachen. Und vor allem in einer Band spielen! Das vor allem. Das hatte ich doch schon immer gewollt! Und eben jetzt war es im Gange, ich war mittendrin und voll dabei. Damit hatte ich eine gute Zukunftsaussicht, egal, wieviel Zeit mir noch bleiben würde. Die Glaswolle würde mich umbringen, da war ich mir sicher. Aber Angst machte mir das nicht. Es war vollkommen in Ordnung. Wenn ich dann einmal an den Spätfolgen der Kontamination erkranken würde, unheilbar, versteht sich, und mein letztes Stündlein schlüge, würde ich wenigstens gelebt haben, mit kreativem Elan und tausend Ideen. Und hätte nichts zu bereuen. 

Er kam herein, hob seine Pranke und rief: "Tschau zämme. Ich bin der Hagi!" Hagi oder Hagentaler stiess zur Band, als es fast nicht mehr weiterging. Schäppi riss uns mal wieder den letzten Nerv aus. Wir waren nahe daran, ihn aus der Band zu werfen. Die Entscheidung war schon fast getroffen. Es stand Spitz auf Knopf. Wir hatten auch schon einen Kandidaten, der als Ersatz in Frage kam. Nur war das eben kein Schäppi, und es war uns sonnenklar, dass Schäppi besser zu uns passte als jeder andere Schlagzeuger. Weshalb wir dann eben doch nichts taten und die Sache vorerst auf sich beruhen liessen. Hagi oder Hagentaler kam zum richtigen Zeitpunkt. Und er war der Richtige für uns, das merkten wir gleich. Schon wie er die Tür aufstiess und die Jacke hinschmiss: das war sorglos und geradeheraus, es versprach frischen Wind. Hagentaler spielte Mundharmonika, Kazzooflöte und ein bisschen Ukulele. Er stammte aus einer Familie, in der man Sonnenblumenkerne von Alnatura knabberte und gelegentlich einen Bergbach aufsuchte, um Gold zu waschen. Er wohnte noch bei seinen Eltern, und im elterlichen Garten hatte er ein Baumhaus, in das er sich gelegentlich zurückzog, um zu meditieren. Er war gegen Atomkraft und für Magic Mushrooms. Er hatte einen Schwingstab, mit dem er täglich trainierte. Falls man das so nennen kann. Es war kein Sport. Es war eher ein Tanzen, eine Art Gymnastik zwischen Geschicklichkeitsübung und Selbstausdruck. Mit wirbelnden Bewegungen zeichnete er eine geometrische Figur oder, was häufiger vorkam, etwas ohne Ecken und Kanten in die Luft, etwas wie eine Lotosblume. Mit geschickten Bewegungen brachte er sie zum Erblühen, nur um sie gleich darauf wieder auszuwischen. Er spielte auch Diabolo, mit einem Kunststoff-Kegel, den er auf einer straff gespannten Schnur in der Luft hielt und zwischendurch immer wieder hochschnellen liess. Ob er in einem Zirkus aufgewachsen sei, fragten wir ihn. Nicht ganz, war die Antwort. Aber es komme der Wahrheit ziemlich nahe. Er sei an einer anthroposophischen Schule gewesen. Er beschrieb sie als Robinson-Spielplatz. Jedes Kind habe dort den Freiraum, den es brauche. Jedes Kind lerne dort, sein kreatives Potential auszuleben. Auf ihn traf das jedenfalls zu. Sein kreatives Potential lag bestimmt nicht brach. An der Rudolf-Steiner-Schule war aus ihm ein Mensch gemacht worden, der die Verwirklichung seines Menschseins als ewig unabgeschlossene, akrobatische Übung betrachtete. Er schwärmte für die Erziehung der Nicht-Erziehung, die Erziehung zur Freiheit. Dass ihn Steiner (unser Steiner) in die Band hatte ziehen können, war kein Wunder. Einem Steiner konnte Hagentaler nichts abschlagen. Er witzelte gerne darüber. "He Rudolf! Was geht? Was machen die Aktien?" Trotz des anthroposophischen Hintergrunds, der ihn, wie er sagte, geformt, aber nicht verformt habe, machte er nicht gerade einen vergeistigten Eindruck. Er war breit gebaut, kraushaarig blond, unerwüstlich rot im Gesicht und verfügte über eine kräftige Baritonstimme. Man hätte ihn sich gut als mittelalterlichen Bänkelsänger vorstellen können. Er war ein Fan von Mani Matter. Jedem von uns überspielte er eine Kassette "mit allen Mani-Matter-Liedern drauf". Er selbst hatte diese Lieder so oft gehört, dass er sie alle auswendig konnte. Mit seiner Baritonstimme brachte er sie gerne zu Gehör, und bei Bedarf sogar alle zusammen. Nur zu gerne trug er sie aus dem Stegreif vor, wenn er von Leuten umgeben war, die dieser ausufernden Gratisdarbietung etwas abgewinnen konnten. Sein Liedgedächtnis war phänomenal, wie auch sein Wald- und Wiesengedächtnis. Er kannte unzählige Vogel- und Pflanzenarten. Besonders bewandert war er in Pilzkunde. "Je kleiner die Pilze, desto mehr fahren sie ein," pflegte er zu sagen. Das komme vom hochkonzentrierten Psilocybin, man könne es rauchen, essen oder mit kochendem Wasser aufgiessen. Wir staunten. Hatte er das an der anthroposophischen Schule gelernt? Er gab uns den Tip, getrocknete Bananenschalen zu rauchen. Davon werde man high wie ein Haifisch. Ich probierte es zu Hause aus. Ich bekam einen Hustenanfall, eine andere Wirkung spürte ich nicht. Einmal stürmte er ganz aufgeregt in den Proberaum. Er konnte kaum an sich halten. Sein Kopf war knallrot. Er sei in Zürich gewesen, sprudelte es aus ihm heraus. Er sei mit dem Zug schnell hingefahren, um uns ein paar Micros zu besorgen. Er habe da so eine Adresse, eine erstklassige Bezugsquelle... Micros? Wir sahen uns ratlos an. Was war das? "Lebt ihr eigentlich hinter dem Mond!" lachte Hagentaler. "Das sind Gelatineplättchen mit LSD drin! Die schluckt man hinunter, und ab geht die Reise. Und stellt euch vor: der Spass hat nur 200 Franken gekostet!" Jedem von uns gab er so ein Plättchen, wobei er seines sofort in den Mund schob. Wir zögerten. Das Plättchen sah nach nichts aus, es war winzig klein und ohne jede Färbung. Nach einigem Hin und Her schluckte jeder sein Plättchen hinunter. Ausser Rolf, der mit bewusstseinsverändernden Substanzen nichts zu tun haben wollte. Vermutlich wollte er für seine Kinder ein Vorbild sein. Wir andern machten es uns bequem und warteten ab. "Spürst du etwas?" - "Nein. Und du?" - "Nein, auch nicht. Komisch. Vielleicht ist die Dosis zu schwach." - "Na sowas." Hagentaler hatte sich über den Tisch ziehen lassen. Er war kein Stadtmensch. Seine Karriere als Drogen-Guru beschränkte sich auf den Wald-und-Wiesen-Bereich. Er war sehr naturverbunden, ein ehemaliger Pfadfinder, der immer noch gerne am Lagerfeuer sass, mit einem Filzhut auf dem Kopf und einer Cervelat am Stecken, die er fachgerecht anschnitt. Darin war er gut. Weniger gut war er, wenn es darum ging, einen coolen Eindruck zu machen. Seine Angewohnheit, mit dem gleichen Nastuch, in das er sich hineinschnäuzte, die Brillengläser zu putzen, amüsierte uns. Ihm war das anscheinend egal. Es war ihm auch egal, dass er mit seinen von Flicken übersäten Knickebockern und seiner Militärmütze, an die er ein paar neckische Plaketten mit dem Peace-Zeichen angesteckt hatte, wie ein Second-hand-Clown daherkam. Er fiel auf. Er war auch weit und breit der einzige Mensch, der sich Kautabak ins Maul stopfte. Sofern er nicht Kaugummi kaute oder auf einem Zahnstocher herumbiss. Was man über ihn dachte, war ihm egal. Dass man über ihn grinste, war ihm egal. Er hätte sich eine bajuwarische Tracht angezogen und Tuba gespielt, wenn wir das von ihm verlangt hätten. Soweit gingen wir jedoch nicht. Mit seiner Mundharmonika, seiner Kazzooflöte, die wir "Arschtröte" nannten, und seiner Ukkulele war er schon auffällig genug. Er war ein Musikclown. Aber auch ein Könner. Wir hätten ihm eine Kakao-Büchse in die Hand drücken können, und er hätte uns damit glatt an die Wand gespielt. Für uns war seine Unterstützung nicht schlecht, brachte er doch etwas Rustikalität in die Band. Und eine zusätzliche Singstimme konnte nicht schaden. Neben Steiner hatte er zweifellos die grösste Klappe in der Band. 

Abends traf ich mich gelegentlich mit Schäppi und Steiner, weil sich das so ergab. Weil wir sowieso in der Stadt waren. Wir kamen alle von der Arbeit, und irgendwo in der Mitte trafen wir uns. Das war ungefähr der Marktplatz. Hier warfen wir eine Münze. Bei Kopf gingen wir ins Gifthüttli. Bei Zahl in die Hasenburg. Und ich weiss noch, dass die Münze nicht ganz unparteiisch war. Sie schickte uns öfter ins Gifthüttli als in die Hasenburg. Steiner meinte, das sei kein Zufall. Es müsse ein Schicksalswink sein. Wie sich zeigen sollte, traf das voll und ganz zu, zumindest was sein eigenes Schicksal anging. Grundsätzlich war es uns egal, ob uns die Münze ins Gifthüttli oder in die Hasenburg schickte. Sie hätte uns auch in die Kunsthalle oder in die Brötlibar schicken können. Hauptsache an einen Ort, der warm und trocken war. Es ging jetzt auf Ende Jahr zu. Es war Herbst und sehr regnerisch. Die Leute hüllten sich in Mäntel und zogen sich Kapuzen über den Kopf, und schon um halbsieben, wenn ich aus dem Laden kam, glommen überall Lichter. Es war schön in der Stadt. Maroni-Stände dampften, und Velos zischten durch Pfützen. Die Herbstmesse stand vor der Tür. Im Gifthüttli schlossen wir Bekanntschaft mit einer hübschen, grossgewachsenen und wuschelhaarigen Servierdüse. Sie knallte uns das Bier auf den Tisch und sagte kein Wort zu viel. Wann sie Feierabend habe? wollte Steiner von ihr wissen. Sie tat, als hätte sie die Frage überhört. Sie kratzte sich kurz an der Schläfe, nickte jemandem zu, der nach ihr verlangte, und verliess uns mit einem Gesichtsausdruck, der nichts ausdrückte. Steiner grinste in sein Glas hinein, schüttelte den Kopf und begann zu trinken. Beladen mit Gläsern und Flaschen ging sie dauernd hin und her, und immer, wenn sie an uns vorübereilte, streifte uns ein Luftzug, und wir sahen kurz auf. Aber da war sie schon vorüber. Es war schwierig, mit ihr in einen näheren Kontakt zu kommen. Nicht nur, weil sie viel zu tun hatte. Sie arbeitete erst seit ein paar Tagen in der Bedienung. Sie war noch gar nicht richtig eingearbeitet. Einer wie Steiner hatte ihr gerade noch gefehlt. Der liess nicht locker. Er verhielt sich recht merkwürdig. Einmal wurde er direkt ein bisschen übergriffig: er wurde poetisch. Er rief die Servierdüse an den Tisch, schaute ihr forschend ins Gesicht und sagte, grün, ihre Augen seien grün, flaschengrün, jetzt sei es offiziell, er habe richtig geraten. Später, beim Bezahlen, stellte er sich absichtlich etwas blöd an. Er zählte das Geld falsch hin und meinte, dass er heute kein Trinkgeld geben könne, weil er mit dem falschen Fuss aufgestanden sei. Sie schob die Unterlippe vor und zögerte eine Sekunde. Dann gab sie die überzähligen Münzen zurück, strich das Geld ein, klappte das Portemonnaie zu und verschwand hinter dem Tresen. Als wir uns die Jacken übergestreift hatten und hinausgingen, drehte sich Steiner noch einmal um und rief quer durch die Gaststube: "Tschüss Grünauge, bis zum nächsten Mal!" Einige Tage später waren wir wieder im Gifthüttli, und wieder war es ein Abend voller Merkwürdigkeiten. Zeitweilig schien Steiner die Servierdüse überhaupt nicht zu beachten, er stellte sich blind und taub, wenn sie in der Nähe war. Er verhielt sich genauso gleichgültig wie sie. Man hatte fast den Eindruck, als hätten sie das miteinander abgemacht, als hätten sie ein Stillhalteabkommen getroffen. Doch hie und da erwachte Steiner plötzlich aus seiner Gleichgültigkeit und wedelte wild mit dem Arm, um die Servierdüse an den Tisch zu rufen. Kam sie dann herbeigeschossen, rang er die Hände und krümmte sich auf seinem Stuhl, als müsste er ganz dringend eine kolossale Sache vorbringen. "Zwiebelfische? Habt ihr das?" Sie sah ihn unbeweglich an, bis es ihm selbst zu blöd wurde. "Was? Ihr habt keine Zwiebelfische? Schade..." Schäppi und ich wunderten uns, dass die junge Frau die Nerven behielt. Sie hatte ja weiss Gott Wichtigeres zu tun, als sich mit einem solchen Idioten abzugeben! Nach drei oder vier weiteren Abenden voller Merkwürdigkeiten wollte Steiner mit einer Tausendernote bezahlen. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Die Servierdüse schnappte hörbar nach Luft. Sie stützte sich mit den Händen auf den Tisch und fixierte Steiner wie einen Hund, dem sie gut zureden musste. Ob er das eigentlich absichtlich mache? fragte sie. Und die Art, wie sie das fragte, war nicht etwa gereizt oder zornig, sondern belustigt. Vielleicht sogar ein bisschen triumphierend. Als hätte sie ihn jetzt endlich erwischt. Als wäre jetzt der Moment der Abrechnung gekommen. Sie wollte, dass er Farbe bekannte und aufhörte - womit auch immer. Und Steiner reagierte darauf mit einer erstaunlichen Gelassenheit: als wäre das alles ein abgekartes Spiel gewesen, das man jetzt beiseite lassen konnte. Der Bann war gebrochen, das Ziel erreicht. Von da an herrschte zwischen Steiner und der Servierdüse, die Monika hiess, das beste Einvernehmen, und sie wurden sogar ein Paar. Drei oder vier Monate lang waren sie zusammen, und es war eine ziemlich lockere Beziehung. Steiner machte weiter, als wäre nichts gewesen. Weiterhin traf er sich mit uns und kam auch regelmässig zu den Bandproben. Er stellte die Band also keineswegs zurück. Sie war ihm wichtiger als die Freundin. Was diese überhaupt nicht zu stören schien. Wie Steiner hatte sie ihren Kopf ständig woanders, und wie Steiner war sie überhaupt nicht der Typ für eine feste Beziehung. Kurz gesagt: die beiden waren ein Traumpaar.

Jetzt, da er mit Monika zusammen war, brauchte er nicht mehr ins Gifthüttli zu gehen. Das Gifthüttli hatte sich erledigt. Es wäre unnötig gewesen, Monika weiterhin zu belästigen, und sie brauchte Steiner auch nicht mehr wie Luft zu behandeln. Aus Rücksicht auf Steiner warfen wir die Münze, bis Zahl kam. Zahl hiess Hasenburg. Allerdings mussten wir die Münze unzählige Male hochschnippen oder hochwerfen, bis endlich Zahl kam. Die Zahl machte sich rar.  Es war wie verhext. Es war, als hinge die Münze an einem Zaubertrick-Faden, der die Zahl bei jedem Wurf entwischen liess. Geht nicht in die Hasenburg! schien uns die Münze zu sagen. Geht, wohin ihr wollt, aber nicht in die Hasenburg! Das Orakel rät euch davon ab, auch nur einen Fuss dahinein zu setzen! Das ist kein Ort für euch, weil es ziemlich absehbar ist, dass es euch dort zu wohl wird. Und ich kenne euch: wenn es euch zu wohl wird, dann lasst ihr euch gehen, verstrickt euch in wilde Diskussionen, und am nächsten Morgen habt ihr dann einen fürchterlichen Brummschädel und bereut es bitterlich, nicht auf das Orakel gehört zu haben! Die Hasenburg war natürlich legendär. In der Hasenburg musste man mindestens einmal gewesen sein. Nur um sagen zu können, man sei in der Hasenburg gewesen. Oder im Chateau Lapin, wie man in Basel häufig sagte. Die Französisierung war kein Zufall. Was in Paris der Montparnasse war, war in Basel die Hasenburg. Allerdings trank man in der Hasenburg eher Bier als Wein. Schon Nietzsche hatte hier sein Bier getrunken. Und Dieter Roth hatte hier seinen Stammplatz gehabt. Und wer kennt nicht das berühmte Hasenburg-Bild von Niki Stöcklin? Schäppi war ganz vernarrt in dieses Bild, auf dem ein paar Fasnachtsgestalten trommelnd und pfeifend durch die düstere Morgenfrühe wandeln. Ein Spuk wie die ganze Fasnacht. Wir liebten die Hasenburg. Und wir taten uns viel darauf zugute, dass wir diesen Ort mit der gleichen Beiläufigkeit behandelten wie alle andern Kneipen auch. "Na los, gehen wir in die Hasenburg!" sagten wir. Und wir sagten es mit der gleichen Beiläufigkeit, mit der man in Paris sagen könnte: "Gehen wir auf den Montparnasse. Ist ja nur ein Katzensprung. Mal schauen, was Picasso so treibt." In der Hasenburg lernten wir Simon kennen, der gleich nebenan in einem Buchantiquariat arbeitete. Er spielte Querflöte, und wir konnten nur mutmassen, wie gut er darin war. Querflöte spielte er nur für sich selbst. Niemand von uns hatte auch nur den leisesten Schimmer, wie sich das anhörte, wenn er Händel oder Tchaikovsky spielte. Das waren seine Lieblingskomponisten. Unter guter Musik verstand er etwas anderes als wir. Und trotzdem war das gegenseitige Interesse sofort da. Er wusste von unserer Band. Dass wir eine Band hatten, war kein Geheimnis, es war aber auch keine Sensation. Es lief uns die ganze Zeit hinterher. Und zuweilen lief es uns sogar voraus. Es war die Dauerpräsenz des Abwesenden. Dauernd sprachen wir darüber. Seit längerem war uns klar, dass das Darüber-Sprechen wichtiger war als die Sache selbst. Die Band lebte von ihrem Ruf, von dem, was wir über sie zu erzählen hatten. Was wäre die Schlacht von Troja ohne Homer gewesen? Was wäre unsere Band gewesen, wenn wir sie nicht ständig zum Thema gemacht hätten? Auch in der Hasenburg drehte sich alles um diese Band, die immer noch Hush hiess. Hush wie Stille, Hush wie Ruhe. Hush wie Hösch. Hush wie husch husch. Husch wie huch! Und Hush wie Hasch. Hundertmal mussten wir erklären, wie wir auf diesen Namen gekommen waren. Oder was er zu bedeuten hatte. Und worin jetzt genau die Mehrdeutigkeit bestand, die wir beabsichtigt hatten - oder eben auch nicht. Die Band war das verbale Hintergrundrauschen, das Thema des Abends, und selbst an den Nebentischen bekamen alle irgendwie mit, dass es da um etwas ganz Grosses ging, in dem wir beflissen herumrührten wie in einem riesigen Fonduekessel. Über nichts anderes sprachen wir so beharrlich, kein anderes Thema wurde bei uns am Tisch so ausführlich erörtert, und wer immer mit uns zu tun hatte, war zwangsläufig daran beteiligt und gab mehr oder weniger freiwillig seinen Senf dazu. Wenn wir so weitermachten, da waren wir uns sicher, würde unsere Band berühmt werden, ohne dass wir jemals wieder unsere Instrumente zur Hand nehmen mussten. Es genügte, dass wir die Band waren, die in der Hasenburg verkehrte, und es genügte, dass wir uns frei phantasierend den Sound ausmalten, den diese Band idealerweise liefern sollte. Wobei es immer wieder Diskussionen darüber gab, wie dieser Sound denn genau klingen sollte. Und je weiter der Abend voranschritt, desto hitziger wurden diese Diskussionen, desto eifriger beteiligten sich auch die Leute an den Nebentischen daran. Und am Schluss lief es meistens darauf hinaus, dass sich zwei unversöhnliche Fraktionen bildeten, dass die einen "Beatles!" riefen und die andern "Stones!". Und manchmal rief dann noch jemand "Beach Boys!" dazwischen, weil man die nämlich immer vergisst. Simon fand das spannend. Es amüsierte ihn, dass man sich darüber streiten konnte, ob die Beatles oder die Stones die Besseren waren. Die Beatles seien mittelmässige Musiker gewesen, und die Stones hätten es nie über das Niveau einer billigen Blues-Band gebracht. Er fand beide Kacke, im Vergleich zu Frank Zappa zum Beispiel. Simons Urteil hatte Gewicht, und er war sichtlich davon angetan, dass wir ihm ein Mitspracherecht gewährten. Wir wussten ja, dass er einer war, der "drauskam". Als Diskutant in Sachen Musik war er sehr kompetent. Seine Diskussionsbeiträge waren interessant und bereichernd. Manchmal spitzfindig, manchmal spöttisch, aber immer sehr klug. Und wie sich herausstellte, mochte er Glenn Gould. Auch ich mochte Glenn Gould, seine Goldberg-Variationen hörte ich rauf und runter, wie auch die Klavierstücke von Erik Satie und die Kinderszenen von Schumann. Ansonsten war ich kein Klassik-Fan. Doch Simon war glücklich darüber, dass wenigstens einer in dieser Band eine Ahnung von Glenn Gould hatte. Manchmal sonderten wir uns von den andern ab und diskutierten - zwei Kenner unter sich - mit der grössten Ernsthaftigkeit über Glenn Gould, seine komische Sitzhaltung, seinen lallenden Singsang, seinen Traum, in der Antarktis Klavier zu spielen, seine Tablettensucht. Die andern liess das gleichgültig. Sie hörten uns kaum zu. Insgeheim dachten wir wohl beide: du liebe Güte, wir sind von lauter Barbaren umzingelt. Die wissen nicht einmal, wer Glenn Gould ist! Und manchmal geriet ich mit Simon in einen kleinen, freundschaftlichen Streit, weil er der Meinung war, dass Rockmusik anspruchsvoll sein müsse. "Anspruchsvoll? Was soll das denn heissen!" ereiferte ich mich. "Läuft das nicht auf Künstelei hinaus? Auf Bombast? Auf Kitsch und Schwulst? Weisst du, was an den Beatles so grossartig gewesen ist? Sie haben nie das Bewusstsein verloren, eine einfache Band zu sein, die unbeschwert drauflos brettern kann. Stets haben sie ihre Pfiffigkeit bewahrt, ihren robusten Witz. I like Beethoven, especially the poems, soll Ringo Starr gesagt haben. Das bringt es doch gut auf den Punkt." Simon gehörte nun zur Band, wenn auch nur an der Hasenburg-Peripherie, und wir fragten ihn mehrmals, ob er mit seiner Querflöte nicht bei uns einsteigen wolle. Er wollte nicht. Er verzichtete darauf, weil er musikalisch nicht aus sich herausgehen konnte. Ihm fehlte die Unbefangenheit, ohne die man bei uns nicht mitmachen konnte. Manchmal muss man eben den Mut haben, seine Perlen vor die Säue zu werfen. Seine Querflöte war eine Rarität, die er nach dem Spielen wegschloss, eine Kostbarkeit, die er hütete wie seinen Augapfel. Wenn er Händel oder Tchaikovsky spielte, war das nichts Kommunes. Er spielte auf einem Niveau, das uns verschlossen war. Auch mir, der ich früher einmal - während der Gymnasialzeit - Tanzmusik gemacht hatte, um etwas Taschengeld zu verdienen. Ich war der Einzige in der Band, der ein bisschen Noten lesen und einen Violin- von einem Bassschlüssel unterscheiden konnte. Doch an Simons Können reichte das natürlich nicht heran. Er war am Konservatorium gewesen. Allerdings nicht sehr lange. Er war auf hohem Niveau gescheitert. Er war durch eine Zwischenprüfung geflogen, worauf er das Studium geschmissen hatte. Eine weitere Krise durchlitt er, nachdem sein bester Kollege direkt vor seinen Augen in den Tod gestürzt war, bei einer Dachparty, wobei vermutlich Drogen im Spiel gewesen waren. Von da an verschmähte er jede weitere Ausbildung, er wurde zum Dandy und beschränkte sich darauf, das Leben mehr oder weniger zu verbummeln. Anstrengungen vermied er, wo er konnte, im Leiterspiel des Lebens blieb er, weil er die Würfel verloren hatte, irgendwo untätig sitzen und machte die Faust im Sack. Für sogenannte Lebensziele hatte er nur noch Spott übrig. Er sass in gewissen Lokalitäten, unterhielt sich mit gewissen Leuten und erging sich in Betrachtungen über das Leben und die Kunst. Er tat das, weil er genügend Zeit und Anschauungsmaterial hatte. Er beobachtete seine Umgebung sehr genau: wie eine Eule, die den Kopf unausgesetzt nach allen Richtungen dreht. Hin und wieder gab er eine kleine boshafte Bemerkung von sich. Fein und spitzig durchstach sie die Schädeldecke, und erst wenn einem das Lachen verging, weil man einen Kloss im Hals bekam, merkte man, wie boshaft das wieder einmal gewesen war. In der Hasenburg war Simon der Hausphilosoph. Er ging den Dingen auf den Grund. Lapin heisse eigentlich Kaninchen und nicht Hase, gab er zu bedenken. Das zeige wieder einmal, wie schlecht man in Basel Französisch spreche! Aber egal, ob Hase oder Kaninchen: es war ihm eine Freude, dem Tier das Fell abzuziehen. Alles und jedes rückte er in ein zweifelhaftes Licht. Trotzdem waren wir bei ihm an der richtigen Adresse. Er verstand uns besser als irgend sonst jemand. Womöglich verstand er uns sogar besser, als wir uns selbst verstanden. Die Selbsteinschätzung war für uns ein Problem. Woher wussten wir so genau, was in unserm Proberaum vor sich ging? Das Paradoxe an Musik ist ja, dass man sie nicht hört, wenn man sie macht. Man kann sie zwar auf Tonband aufnehmen, aber auch dann hört man nur sich selbst - und nicht die Musik. An der Musik hört man vorbei, sobald man sich selber hört. Vielleicht konnte uns Simon da weiterhelfen. Mit einem gewissen verschämten Stolz gaben wir ihm ein Tape mit ein paar Songs drauf. Ausser ihm hätten wir das niemandem gegeben. Simon war der Richtige dafür. Er war derjenige, der uns den Segen erteilen konnte. Ihm trauten wir das zu. Seine Kommentare waren kritisch, aber auch wohlwollend. Er gab uns eine Chance. Eine "minimale Chance", wie er sagte. Aber immerhin. Er wollte uns nicht heruntermachen, aber auch nicht in den Himmel loben. Er wollte auf Abstand bleiben und sich nicht einmischen. Und trotzdem fühlte er sich dazu berufen, unser Motivator zu sein. Oder besser gesagt: wir erlegten ihm diese Berufung auf. Wir machten sie ihm schmackhaft. Irgendwann hatten wir ihn soweit, dass er bei uns reinhören wollte. Er kam in den Proberaum. Er besuchte uns mehrmals, weil er Fortschritte hören wollte. Er setzte sich hinter das Mischpult oder in den einzigen Polstersessel, der im Proberaum herumstand, den Chefsessel, wie wir ihn nannten, und hörte uns kopfnickend zu. Bei ihm war das Kopfnicken kein Headbangen, er liess sich nicht mitreissen, zeigte keinerlei Begeisterung. Hinter dem Kopfnicken verbarg sich ein Kopfschütteln. Das war keine Ablehnung, eher ein skeptisches Abwägen. Eine innere Distanznahme. Weil er selber nicht mitspielte, erkannte er das volle Ausmass der musikalischen Stümperhaftigkeit, die in dieser Band eine viel zu selten hinterfragte Normalität war. Wir brauchten ihn, weil wir jemanden brauchten, der unsere Selbsteinschätzung nach unten korrigierte. Er war ein genauer Zuhörer. Gelegentlich rang er sich ein Lob ab. Wenn er sah, dass wir uns anstrengten, wirklich anstrengten, kam er uns mit seinem Urteil entgegen und überreichte uns eine Rose. "Gut gemacht, Leute, weiter so." Allerdings hatte diese Rose immer ein paar Dornen, an denen wir uns stachen, während wir noch den süssen Blütenduft einsogen. "Gut ist relativ. Über eine Latte zu springen, die am Boden liegt, ist wahrlich kein Kunststück." Er sorgte dafür, dass wir bescheiden blieben. Gaben wir uns Zukunftsvorstellungen hin, in denen wir eine Band mit Konzerten und einem Plattenvertrag waren, bekamen wir einen Nasenstüber oder eins auf den Schädel, und die Bodenhaftung war wieder da. Das konnte dann schon ein bisschen nervig sein. Eine Nervensäge war Simon, ein Besserwisser, vielleicht sogar ein Klugscheisser. Er wollte dabeisein und zumindest von der Seitenlinie aus einen gewissen Einfluss auf uns ausüben, aber auf dem Spielfeld war nichts von ihm zu wollen. Wasch mich, aber mach mich nicht nass. Nur ganz selten nahm er mal eine Rassel in die Hand, mehr aus Langeweile als aus dem Bedürfnis heraus, etwas Ernsthaftes zur Musik beizutragen. Wir hatten seine Sympathie, aber unsere Band war nichts, wofür er sich hergeben wollte. Seine Liebe galt der klassischen Musik. Ohne jedes Schamgefühl ging er in die Oper. Was bei uns Kopfschütteln auslöste. Diese Liebe war ihm mit dem silbernen Löffel eingeflösst worden. Bei ihm zu Hause ging man an Symphoniekonzerte (Basler Sinfonietta, Basler Symphonieorchester) und in die Oper. Er sei ein Gourmet, kein Vielfrass, sagte er. Eine Oper pro Saison genüge ihm. Er besuchte auch Theatervorstellungen, pickte sich hin und wieder eine heraus, den Spielplan studierte er wie eine Speisekarte. Mit seinem Bubengesicht versuchte er manchmal einen ermässigten Eintritt zu erschwindeln. Doch ohne Studentenlegi (er hatte noch eine, aber die war abgelaufen) musste er dann doch den vollen Obulus entrichten. Einerseits lebte er recht bescheiden, wie ein Student von der Hand in den Mund, andererseits gab es Extravaganzen, auf die er nicht verzichten mochte. Etwas Tragisches umwitterte ihn, obwohl er ganz und gar nicht absturzgefährdet aussah. Er trug immer ein adrettes Gilet, scheitelte die Frisur exakt in der Mitte und gab sich gerne oberklug. Wer ihn sah, dachte an einen Examensprüfling oder Konfirmanden. Solange er nichts Boshaftes sagte, vermittelte er den Eindruck lupenreiner Seriosität. Stolz zeigte er uns seine Visitenkarte, auf der er sich als "Musikus" anpries. Eigentlich hätten wir ihn gerne als unsern Manager oder Coach gehabt. Aber irgendwann kam er nicht mehr in den Proberaum, und in der Hasenburg sah man ihn nur noch selten. Vielleicht lag es daran, dass er seine Teilzeitstelle im Antiquariat aufgegeben hatte. Er hatte dort seit längerem nur noch halbherzig gearbeitet. Als er dann überhaupt nicht mehr auftauchte, erzählte uns jemand, Simon mache eine neue Ausbildung, er wolle sich zum hauptberuflichen Philosophen umschulen lassen. Das war natürlich als Witz gemeint. Aber wir hofften trotzdem, dass es stimmte. Es wäre das Beste für ihn gewesen.

Eines Abends waren wir wieder einmal in der Hasenburg gewesen, und Schäppi hatte etwas zu viel getrunken. Das war nichts Ungewöhnliches bei ihm. Er hatte auch nicht unbedingt mehr getrunken als Steiner, aber da er nicht über Steiners Widerstandskraft verfügte, schlug der Alkohol bei ihm viel früher durch. Er war etwas beduselt, nicht mehr klar im Kopf, aber durchaus in der Lage, selbständig den Heimweg anzutreten. Er wohnte an der Austrasse Richtung Allschwil. Zu Fuss war das in einer Viertelstunde zu schaffen. Wir liessen ihn ziehen. Weder Steiner noch ich dachten, dass es irgendein Problem geben würde. Schäppi war schliesslich erwachsen. Er brauchte kein Kindermädchen. Was dann geschah, erfuhren wir erst später. Auf Umwegen, die kein Mensch je verstehen wird, kam er in die Elisabethenstrasse, wo er vermutlich zur Heuwaage abzweigen wollte. In der Elisabethenstrasse befand sich eine Bar mit einem Ligusterbäumchen vor dem Eingang. An sich ja nichts Ungewöhnliches. Und niemand hätte sich darüber gewundert, wenn Schäppi in diese Bar hineingegangen wäre, um sich einen Absacken zu genehmigen. Oder vielleicht auch nur ein Mineralwasser. Stattdessen machte er sich am fraglichen Bäumchen zu schaffen. Er riss es aus dem Topf, obwohl es fast zwei Meter hoch war und rund 60 Kilogramm wog. Er musste das tun, weil das Bäumchen da war. Eine bessere Erklärung gab es nicht. Das Bäumchen war da, also musste es ausgerissen und mitgenommen werden. Beim Wegschleppen hinterliess er eine sichtbare Dreckspur. Diese zog sich in Schlangenlinien über etliche Strassen und Plätze und reichte bis vor seine Haustür. Er bugsierte das Bäumchen in die Wohnung hinein und stellte es in den Flur. Unterwegs hatte er auch mal kurz das Tram genommen, nur eine Station weit, sodass die slalomartige Spur an einer Tramstation aufhörte und an der nächsten weiterführte. Als die Polizei bei ihm klingelte, war er immer noch leicht neben den Schuhen. Er verstand nicht, was los war. Die Polizisten - sie waren zu zweit, einer war gross und hager und der andere klein und dick wie in einem komischen Film - konfiszierten das Diebesgut und hielten Schäppi eine Strafpredigt. Der Barbesitzer habe Anzeige erstattet, und was das eigentlich für eine bescheuerte Aktion gewesen sei? Ob er denn unbedingt habe beweisen wollen, dass er Bäume ausreissen könne? Damit war die Sache aber noch lange nicht erledigt. Als die Polizisten seine Personalien aufnehmen wollten, brannte ihm eine Sicherung durch. Er pöbelte herum, zerschlug Geschirr und warf Stühle an die Wand. Die Polizisten drückten ihn auf den Boden, bis er aufgab. Dann nahmen sie ihn mit und steckten ihn in eine Ausnüchterungszelle. Tags darauf wurde er an die PUK überwiesen, zwecks psychologischer Abklärung. Es war eine Zwangseinweisung. Er kam ins Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen. Dort blieb er ein paar Wochen in Behandlung. Es war wie vom Erdboden verschluckt. Sein Verbleib war uns ein Rätsel. Auf der Post, wo er einen Aushilfsjob hatte, hiess es lediglich, er sei krankgeschrieben. Erst nach und nach sickerte durch, was wirklich geschehen war. "Keine Angst," sagte Rolf. "Er wird das Schlagzeugspielen schon nicht verlernen. Falls er es denn jemals gekonnt hat." Wir hielten unsere Bandproben ohne Schäppi ab. Es war seltsam, ihn plötzlich nicht mehr hinter dem Schlagzeug zu haben. Seine Wehwehchen und Ausreden fehlten uns, ohne seine Unzuverlässigkeit war es einfach nicht mehr das Gleiche. Als er entlassen wurde, dekorierten wir das Schlagzeug mit Papierschlangen und besorgten einen hübschen kleinen Bonsai, den wir Schäppi als Willkommensgeschenk überreichten. Er umarmte jeden von uns. "Danke," stammelte er. "Vielen Dank." Dann liess er sich auf seinen Hocker plumpsen, nahm die Trommelschlägel, zählte den ersten Song an und spielte so unzuverlässig wie immer. 

Die Jahre zogen ins Land. Die Mauer fiel, der Ostblock löste sich auf, Saddam Hussein besetzte den Kuwait, die Amerikaner besetzen ihrerseits den Irak, und kurz darauf kollabierte die UdSSR, und der Kalte Krieg war auf einmal Geschichte. Die Welt war aus den Fugen. Nur bei uns in Basel verlief noch alles in den gewohnten Bahnen. Noch immer trafen wir uns zweimal wöchentlich zu einer Bandprobe. Noch immer befand sich unser Proberaum in Birsfelden neben der Coop-Filiale. Noch immer hatten wir eine Schalldämmung aus Glasmatten. Und noch immer spielten wir in dieser Band, die sich Hush nannte. Hush wie Stille, Hush wie Ruhe. Hush wie Hösch. Hush wie husch husch. Husch wie huch! Und Hush wie Hasch. Und noch immer fragten wir uns, ob Schäppi der richtige Schlagzeuger für uns war. Ob es nicht besser wäre, einen Ersatzmann zu suchen. Zumindest klappte es mit der Raummiete besser als auch schon. Steiner hatte ein Konto eingerichtet und eine feste Regel aufgestellt: der Mietbetrag musste drei Monate zum voraus einbezahlt werden. An die Möglichkeit eines Auftritts dachten wir kaum noch. Vor Publikum zu spielen, einen Gig oder ein Konzert geben, das wäre ja schön gewesen. Aber es schien uns einfach nicht in Reichweite zu sein, und Steiner, der immer alles so zielstrebig organisiert hatte, erwies sich in diesem Punkt als wenig ehrgeizig. Anstatt sich umzuhören und Kontakte zu knüpfen, liess er die Zügel schleifen, als wäre da sowieso nichts auszurichten. Man könne das nicht erzwingen, sagte er. Man müsse es geschehen lassen. Es sei wie der Wurf einer Münze: man könne Glück oder Pech haben. Wenn es einem nicht zufalle, dann entfalle es halt. Und dann kam uns tatsächlich der Zufall zu Hilfe. Im Jugendtreff Allschwil sollte ein Konzert stattfinden, etwas Lockeres und Frisches mit einer Band aus der Region. Rolf kannte die Organisatoren, und als sie ihm von dem Vorhaben erzählten, rückte er verschämt damit heraus, dass er in einer Band spiele. Einer jungfräulichen Band, wie er sagte. Sie habe noch nie ein Konzert gehabt. Sofort waren wir engagiert. Zwar nur als Vorgruppe, aber immerhin. Die Hauptgruppe war eine Mundart-Rockband aus dem Oberen Baselbiet namens Fadechrüz. Zuerst Hush, dann Fadechrüz, so stand es auf dem Programm. Mundartrock war nun ganz und gar nicht unsere Sache. Nicht einmal Hagentaler schwamm auf dieser Welle, auch er hörte weg oder stellte leiser, wenn Polo Hofer im Radio kam. Mundartrock fanden wir anbiedernd, seine Nestwärme behagte uns nicht. Aber immerhin hatten wir jetzt mal die Möglichkeit, vor Publikum zu spielen: eine Chance, die wir packen mussten. Der Termin war gesichert. Jetzt lag es an uns, etwas daraus zu machen. Zum ersten Mal übten wir im Hinblick auf etwas Konkretes. Zum ersten Mal hatten wir eine Deadline. Und zum ersten Mal befiel uns ein Anflug von Panik, wenn wir einen Song nicht richtig hinbekamen. Auch wenn das Konzert keinen Eintritt kostete, hatten die Menschen dort ein Anrecht darauf, sich nicht fremdschämen zu müssen. Wir stellten ein Repertoire zusammen und intensivierten die Proben. Und es wäre auch ganz flott vorangegangen, wenn Schäppi nicht gewesen wäre. Sollten wir ihn opfern, um den Sprung nach vorn zu schaffen? Den Sprung ins Rampenlicht? Es war eine schwierige Entscheidung. Da niemand Lust hatte, den Rausschmeisser zu spielen, zögerten wir sie endlos hinaus. Nach und nach machte sich eine gewisse Resignation breit. Schäppi blieb am Schlagzeug, und wir hofften das Beste. 

Oberhalb von Pratteln, nicht weit vom Restaurant Eglisgraben entfernt, das auch ein Reithof war, besetzten wir eine kleine Waldhütte. Vor dem Konzert, das immer näher kam, wollten wir noch einmal die Band sein, die wir lange Zeit gewesen waren: ein kleiner, bunt zusammengewürfelter Haufen, der etwas zusammen unternahm und etwas Gutes hinbekommen wollte. Ohne Zwang und ohne Druck. Jetzt, in Sichtweite des ersten Konzerts, war die Band plötzlich etwas, das uns auf die Probe stellte. Und deshalb wollten wir die frühere Unbeschwertheit noch einmal zurück haben. Wenigstens für eine Nacht. Die Waldhütte war der richtige Ort dafür. Sie hatte weder Fenster noch Türen, geschweige denn eine Steckdose. Sie war nichts weiter als ein gedeckter Sitzplatz aus angekokelten Holzlatten, unauffällig platziert zwischen einer Waldkrete und einer Tannenschonung, über die sich eine Hochspannungsleitung hinwegschwang. Eine Feuerstelle und ein Halbkreis aus Baumstrünken machten die Hütte, die für sich gesehen kaum Beachtung gefunden hätte, zu einem beliebten Picknickplatz. Wir hatten vor, die Nacht hier draussen zu verbringen, am Waldrand, unter Bäumen. Wir wollten durchfeiern. Steiner hatte seine akustische Gitarre dabei, Hagentaler seine Ukulele und Mundharmonika, und jeder hatte in seinem Rucksack irgendein Gesöff, dazu etwas zum Bräteln und Knabbern. Schlafsäcke brauchten wir nicht, es war September und immer noch sommerlich warm. Man konnte bis zum Morgengrauen um ein Feuer sitzen, ohne am Rücken zu frieren, und da es nur mässig bewölkt war, würde man die Sterne sehen, die Schlieren der Milchstrasse, und man würde andächtig werden und sich ganz winzig vorkommen. Während sich das Feuer, das schon kein Feuerchen mehr war, durch dicke Buchenäste frass und hinter den Baumwipfeln das letzte Sonnenlicht zartrosa dahinschwand, waren wir wieder mit uns selbst im Einklang. Wir spielten und sangen unsere Songs unplugged, so locker und nebenbei, wie sie eigentlich gemeint waren, und häufig mussten wir husten, weil uns Rauch in den Hals kam. Wir waren keine Band mehr, die fieberhaft für ihr erstes Konzert üben musste. Wir brauchten uns nicht mehr mit der grossen Elle zu messen. Hier zählte nur noch die Gegenwart. Das Hier und Jetzt.

Ein paar Tage später regnete es in Strömen, und es war der Tag, der auf dem Konzertzettel gross angekündigt war, und selbstredend auf Englisch, weil das die Jugendlichen besser verstanden. Nine Eleven. Two Bands, one Concert! Den Regen hätten wir als schlechtes Omen deuten können. Aber das Wetter spielte keine Rolle. Das Konzert fand drinnen statt, in einer grossen Halle. Man hatte eigens eine Bühne hingebaut, ein stabiles Gerüst, das an eine Rampe anschloss. Am Eingang verkaufte jemand Cola und verteilte Ohrenstöpsel, und ein Sozialarbeiter spielte den Platzanweiser und Ordnungshüter. Grüppchenweise strömten sie herein, Schüler in Hoodies und Windjacken, zum Teil noch halbe Kinder. Bekanntlich sucht man sich sein Publikum nicht aus. Hoffentlich halten sie sich im Zaum und bewerfen uns nicht mit Teddybären, dachte ich. Rolfs Freundin war auch da, und sie hatte die Kinder dabei. Rolf platzte fast vor Stolz. Es gab eine Eisnebelmaschine, die jetzt schon die Bühne einnebelte, und die Beleuchtung war unangenehm rot und schummrig. Anscheinend brauchte es diese Beleuchtung, damit man das Geschehen auf der Bühne würdigen konnte. Allerdings gab es auch ein Spotlicht, das man auf den Sänger richten konnte, und Leuchten, die rhythmisch an- und ausgingen. Der Beleuchter scheute keine Mühe. Er war schon ganz aufgeregt. Wahrscheinlich machte er das zum ersten Mal und wollte alles möglichst perfekt hinbekommen. Nach dem Soundcheck verschwanden wir in einem Nebenraum. Rolf rieb sich die ganze Zeit die Hände, Hagentaler putzte seine Brillengläser, und Schäppi trommelte auf einer Stuhllehne herum. Der Einzige, der in dieser Situation noch daran dachte, einen Joint zu bauen, war Steiner. Er hätte auch einen Joint gebaut, wenn er auf einem sinkenden Schiff gewesen wäre. Allerdings hatte niemand Lust, sich so kurz vor dem Konzert noch einen Dusel zu holen. Wir waren hier nicht im Proberaum, wo man spielen und pausieren konnte, wie es einem gerade passte, und so liess er den Joint, nachdem er ihn sorgfältig gerollt hatte, diskret in der Jackentasche verschwinden. Wir soffen Eptinger, kein Bier, und spotteten über Musiker, die vor dem Konzert Lockerungsübungen machten. Nach zwanzig Minuten - das Publikum klatschte und pfiff, der Sozialarbeiter, ein drahtiger Typ mit Adidas-Turnschuhen, machte die Ansage und zog mit einem Gerede, das viel zu lange dauerte, den Spannungsbogen etwas an - kamen wir auf die Bühne zurück. Ich schaltete die Orgel ein, Rolf hängte sich seinen Bass um, Hagentaler griff nach seiner Ukulele, Schäppi vollführte einen Trommelwirbel, wodurch er allen zeigte, wie gut er drauf war, dass man trotz Regenwetter und tiefem Luftdruck hundertprozentig mit ihm rechnen konnte, und Steiner stellte sich mit seiner Gitarre vors Gesangsmikrofon. Nicht ohne Stolz registrierten wir, wie unser Frontmann an die Front ging, wie er ganz vorn an der Rampe seinen Kopf hinhielt, um uns den Weg zu bahnen. Er fischte das Plektrum aus dem Hosensack und schaute unter der flachen Hand hindurch ins Publikum, das fast augenblicklich still wurde. Das Spotlicht blendete ihn. Es war direkt auf ihn gerichtet. Er liess ein paar Sekunden verstreichen. Schliesslich war die Stille so tief, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Dann murmelte er: "Hallo zusammen. Wir heissen Hush. Und Hush heisst Stille." Und dann begann er, indem er aufreizend langsam die Töne zusammensuchte, mit dem Intro zum ersten Song. 

Zwei Stunden später war das Konzert vorüber. Wir hatten es überstanden, und die Erleichterung war gross. Gleichzeitig machte sich eine gewisse Leere breit. Als wäre die ganze Spannung mit einem einzigen grossen Knall entwichen. Als hätten wir ein unwiederholbares Wunder vollbracht. Wir sassen bei Rolf auf dem Balkon, und die kühle Nachtluft tat uns gut. Wir waren erhitzt und müde, aber auch ein bisschen grüblerisch. Wie war das Konzert gelaufen? War es gut oder schlecht für uns gelaufen? Schwer zu sagen. Das hing von den Erwartungen ab, den Ansprüchen. Der eine war zufrieden, der andere nicht. Der eine fühlte sich grossartig, verteilte Komplimente, und der andere steckte voller Zweifel und war kleinlaut. Jedenfalls hatten wir vorderhand genug. Jeder sagte sich: lass es gut sein. Mit der Begründung, uns erholen zu müssen, setzten wir die nächsten paar Bandproben aus. Steiner nahm sechs Wochen Urlaub und verschwand nach Südostasien. Hagentaler leitete ein Ferienlager im Bergell. Ich selber blieb zwar in Basel, begann mich jedoch für Jazz zu interessieren und traf mich sporadisch mit einem Kollegen, der ein guter Jazztrompeter war. Schäppi steckte wieder einmal in Schwierigkeiten, und man hörte die seltsamsten Geschichten über ihn. Rolf fand das alles unmöglich, er wollte vorwärtskommen, und vielleicht war ihm das erste Konzert ein bisschen zu Kopf gestiegen. Er wollte nun "echten" Heavy Metal machen. Und so tat er sich mit Böni zusammen, einem Arbeitskollegen, der auf Heavy Metal aus war und die Statur von Meat Loaf hatte. Und der auch singen konnte wie Meat Loaf. Und so brach die Band auseinander. 

Über dreissig Jahre ist das jetzt her. Ja, man wird älter. Jeder ist in seinem Leben, seinen eigenen verworrenen Angelegenheiten verschwunden. Ich nehme an, dass Steiner heute in einem Büro sitzt, brav sein Geld verdient und keine Gitarre mehr anrührt. Vielleicht ist er sogar ein pünktlicher Mensch geworden und besucht regelmässig das Grab seines Vaters. Lebt seine Mutter noch? Keine Ahnung. Vielleicht hat er geheiratet, vielleicht auch nicht. Und vielleicht raucht er nur noch ab und zu einen Joint, aus alter Gewohnheit und um die Nerven zu beruhigen, und ziemlich sicher hat er sich in seinem Leben gut eingerichtet, hat viele Kontakte geknüpft, die er zu nutzen versteht. So einer mauschelt sich durch, findet immer einen Weg. Das ist ja schon damals seine Stärke gewesen. Wenn so einer nicht Rockstar wird, dann wird er etwas ziemlich Normales. Kurios ist nur, dass er trotzdem etwas Bleibendes hinterlassen hat. Etwas, das ich tagtäglich höre, wenn ich im Tram oder im Zug unterwegs bin. Steiner war nämlich der Erste, der seine Kollegen mit "Alter" angesprochen hat. "Hey Alter, was geht?" Das war seine übliche Begrüssung. "Hey Alter, was läuft?" Damals fiel das auf. Niemand sonst sagte das. Es klang cool und salopp, wie aus einem Film. Dabei war es Steiners Erfindung, seine persönliche Marotte. "Alter, hast du heute schon was vor?" Auch in Gesprächen und flüchtigen Anreden betitelte er sein Gegenüber gerne als "Alter". In seinem Freundes- und Bekanntenkreis wurde das bald übernommen. Es begann sich auszubreiten. Immer mehr Leute sagten: "Hey Alter, was geht?" Und heute, Jahrzehnte später, höre ich das andauernd, wenn ich ein Gespräch unter Jungen belausche. "Hey Alter." Und immer denke ich dabei an Steiner und unsere Band.

 

2022