Fellinis Casanova

 

In "E la nave va" ("Das Schiff der Träume", 1983) fährt Fellini am Schluss mit der Kamera aus der Totalen des wankenden Schiffs heraus, er verlässt die kuriose Schiffsgesellschaft des Jahres 1914 und bringt das Studio mit seinen technischen Aufbauten, dem Kamerakran, den Kulissen, den Scheinwerfern und der ganzen emsig arbeitenden Filmcrew ins Bild. Damit zeigt er den pulsierenden Kosmos, der die filmische Suggestion erzeugt. Dessen Betriebsamkeit erinnert an einen Zirkus. Sie ist selber filmisch, so wie im Zirkus auch das ganze Drumherum zum Zirkuszauber gehört. Fellini holt uns damit nicht in die Wirklichkeit zurück, sondern inszeniert die filmische Illusionsmaschine als einen Teil ihrer selbst. Er sagt uns: seht her, ich bin der Zirkusdirektor, und das ist mein Zirkus, meine Menagerie, und weil ich der Zirkusdirektor bin, lasse ich euch hinter die Kulissen blicken, wo sich das ganze Spektakel organisiert. Ein Zirkus wäre kein Zirkus ohne das organisatorische Drumherum, das eilige Auf- und Abschminken, das Verstellen der Scheinwerfer, das Hantieren mit Requisiten, das babylonische Durcheinandergerede, das Schreien und Kommandieren, das Herumscheuchen von Tieren und Artisten. Selbstverständlich ist auch das ein Spektakel, nicht nur was im Vordergrund geschieht. Wenn man Fellinis Filme liebt, dann vor allem wegen dieser Unruhe, die immerfort aus dem belebten Hintergrund in die Filmhandlung hineinspielt. 

Diese Unruhe erlebt man in Italien überall. In ihr verbirgt sich nicht nur die typisch italienische Freude am macello (Chaos, Puff, Unordnung). Es verbirgt sich darin auch eine Improvisationsgabe, die Fähigkeit, sich in jeder Situation zu behelfen, sich durchzuwursteln. Es ist dies der Mut zur Lücke und zum Provisorischen. Bei Fellini zeigt sich das besonders in der Inszenierung der Rückseite, wo sich alles noch im Rohzustand befindet und nie wirklich etwas zum Abschluss kommt. Das knirschende und knackende Räderwerk, das die Aufführung in Gang hält, gibt in jedem Fellini-Film den Takt vor. Der dann eben auch ein bisschen aus dem Takt geraten kann. Da kann einiges schiefgehen. Man spürt die Gefahr von Missgeschicken, von Ausrutschern und Abstürzen, geniesst das Wagnis atemloser Improvisation, die auch eine Schein-Improvisation sein kann. Fellini hatte die seltsame Angewohnheit, seinen Schauspielern das Drehbuch vorzuenthalten, sie über alles Mögliche im Ungewissen zu lassen. Aus der permanenten Verunsicherung heraus sollten sie kreativ werden. Sie sollten gezwungen sein, in seinen Kopf zu schlüpfen, um dort nach der richtigen Figur zu suchen. Er führte sie sozusagen ins Dunkle, damit sie einen besseren Tast- und Hörsinn entwickelten. Fellinis Vorstellung von Schauspielerei war ziemlich unkonventionell. Viele Schauspieler - und erst recht die Statisten - erwecken den Eindruck, als wären sie eben mal aus der nächsten Kneipe geholt worden. Oder aus der Umziehkabine eines Grümpelturniers. Andererseits bleibt dann doch nichts dem Zufall überlassen, alles unterliegt einem marottenhaften ästhetischen Kalkül. Jedes Gesicht muss den richtigen Ausdruck haben, den richtigen Schönheitsfehler, ein schielendes Auge oder eine Gesichtswarze als Tüpfelchen auf dem i. Einerseits entspricht jedes Detail einem Bild, das sich Fellini schon zum voraus gemacht hat. Andererseits wird das Drehbuch bewusst strapaziert, zum Beispiel durch Improvisation. Das Improvisieren unter Fellinis Regie ist immer darauf ausgerichtet, den Schauspieler, die Schauspielerin zu einem eigenen Ausdruck zu "ermächtigen" und das Filmkader zu sprengen durch etwas, das beiläufig wirken und die Szene dynamisieren soll. Typisch Fellini: oftmals reagieren die Leute auf etwas, das man gar nicht zu sehen bekommt. Unbefangen wirkt das nicht, aber eben auch nicht gespielt oder einstudiert. Es ist ein Hyperrealismus des Interagierens. Hier vollzieht sich etwas, das sich ständig am Rande des Schiffbruchs, respektive Nervenzusammenbruchs bewegt, ein organisiertes Chaos, meisterhaft choreografiert von einem cineastischen Jahrhundertgenie. Der typische Fellini-Film spielt in einem aufgescheuchten Backstage-Gewühl, in einem Setting aus Gerüsten und Kulissen, in einer Maschinerie des barocken Scheins. Selbst das Meer, Inbegriff von Natur - besonders schön in "El la nave va" zu sehen - ist bei Fellini eine mechanisch betriebene Künstlichkeit, mit Wellen aus Plastikfolie und einem Sprühregen aus der Sprenkleranlage. Fellini hat dem Aussendreh und ganz allgemein dem Bemühen um Realismus misstraut. Schon früh hat er sich vom italienischen Neorealismus abgesetzt. Sein Credo: "Der Visionär ist der einzige wahre Realist." Wo lässt sich eine Vision, ein Traumbild, eine Irrealität besser verwirklichen als in der nüchternen Werkhalle eines Studios? Die meisten Fellini-Filme sind bekanntlich in den legendären Cinecittà-Studios in Rom entstanden, darunter auch "Fellinis Casanova" aus dem Jahr 1976. Fellini hielt grosse Stücke auf diesen Film. Er war der Meinung, dass es sein "vollendetster, ausdrucksvollster und mutigster Film" sei. 

Casanova, gespielt von einem mimisch sedierten Donald Sutherland, verschwindet fast hinter einem Grossaufwand an Schminke, Kostümierung und Korsage. Die Oberflächlichkeit historischer Camouflage könnte man auch dem Plot unterstellen: mehr als jeder andere Fellini-Film springt "Fellinis Casanova" von Schauplatz zu Schauplatz, von Episode zu Episode, und manchmal hat man das Gefühl, einem opulent bebilderten Party- und Städtehopping beizuwohnen, das vor allem für Kostümbildner und Kulissenmaler interessant ist. Die Handlung beruht auf Casanovas Memoiren. Ich habe sie gelesen, vor langer Zeit, und ich weiss noch, dass sie mich fürchterlich gelangweilt haben. Sie lesen sich wie ein Adressbuch. Von erotischer Spannung keine Spur. Genau das hat Fellini sehr gut erfasst, die Eintönigkeit der Aufzählens, des Ableistens und Absolvierens finden wir auch im Film. Casanovas Abenteuer täuschen nicht darüber hinweg, dass er in einer ermüdenden Monotonie gefangen ist. Auch in seinen Illusionen ist er gefangen, in seinen hochfliegenden Plänen und Selbstentwürfen, und hier setzt Fellini an, um aus dieser eigentlich langweiligen, ja stumpfsinnigen Figur einen interessanten Helden zu machen. Oder besser gesagt: Antihelden. Der echte Casanova war Schriftsteller, Philosoph, Chemiker, Alchemist, Spiritist, Mathematiker, Historiker, Diplomat, Kartenspieler, Violinist, Geheimagent und Kleriker, ein Universalgelehrter und Alleskönner. Aber auch ein Langweiler, ein Schwätzer, vielleicht sogar ein Hochstapler. Fellini lässt das zwar hin und wieder anklingen, konzentriert sich jedoch auf den Lebemann, den Mann von Welt. Fellinis Casanova hat vor allem Profilierungsprobleme, ist also ein ziemlich normaler Mann. Im Vertrauen auf Fortuna mogelt er sich durch und glänzt auf dem gesellschaftlichen Parkett. Was seinen Untergang nicht aufhält. In späteren Jahren lässt er sich von Mutter und Tochter Charpillon schikanieren und ausnehmen, es plagen ihn Syphilis, Geldsorgen und Selbstzweifel. Fellinis Casanova gewinnt unsere Sympathie, weil er eben nicht der perfekte Verführer ist. Hie und da verliebt er sich leidenschaftlich, zum Beispiel in Henriette, die ihn sitzenlässt. Er ist kein Herzensbrecher, kein Valmont, kein Don Juan, er handelt nicht aus Kalkül, machte keine Eroberungen, um sich damit zu brüsten, er benutzt die Frauen nicht, eher lässt er sich selber benutzen, er hat echte Gefühle, er gibt sich preis und spielt mit hohem Einsatz, was ihn allerdings nicht davon abhält, sich wie ein Zuchthengst aufzuführen, wenn er dafür ein geeignetes Publikum findet. Derbe Komik wechselt ab mit stillen Momenten. Die schönsten Momente sind diejenigen, in denen Casanova mit seinen Sehnsüchten und Selbstzweifeln durch die Nacht oder den Nebel wandelt. Ein typisches Fellini-Motiv. Hinter dem Klamauk steht die Trauer. Hinter dem Scheinwerferlicht die Dunkelheit. 

Wie die meisten Fellini-Filme handelt auch "Fellinis Casanova" von Abschied und Niedergang. Mit dem Trommelwirbel der Fanzösischen Revolution endet eine Epoche, die schon lange vorher altersmüde war. Diese von Grund auf todgeweihte Epoche, das Rokoko, Casanovas Scheinwelt, landet in der historischen Gerümpelkammer. Und er selber wird zum hoffnungslosen Relikt. Zurück bleibt ein Scherbenhaufen - und sehr viel Wehmut. Seine letzten Jahre fristet Casanova, verbittert und heruntergekommen, als Bibliothekar auf einem bömischen Landschloss. In der Rückblende erzählt er sein Leben, und der Film inszeniert das sehr vielschichtig, weil er - typisch Fellini - das erotische Phantasma, dem Casanova überall nachspürt, in eine mythisch-paradoxe Sphäre hebt. Zum Beispiel in der Episode mit der Zirkusriesin, die zwar als überdimensionales Superweib erscheint, aber eigentlich völlig kindlich ist und in Gesellschaft ihrer beiden Hauszwerge mit Puppen spielt und ein unschuldiges Bad nimmt. Auf der andern Seite veranstaltet die Riesin Schaukämpfe, sie verprügelt also Männer, und auf dem Jahrmarktsgelände kann ein betretbarer hölzerner Walfisch besichtigt werden, die sogenannte grosse Mouna, in der eine Laterna magica Zeichnungen von Roland Topor projiziert, als eine Art Film im Film, ein Schauerkabinett weiblicher Anatomie. Ganz im Sinne der katholischen Morallehre erscheint hier der weibliche Körper als sündhaft, als das Verderben schlechthin.

Zuschauerkritiken sind manchmal recht aufschlusssreich. So sehr Fellini selbst und die Filmkritik diesen Film geschätzt haben, in der Gunst der Zuschauer stand er noch nie besonders hoch. Zumeist bemängeln sie, dass die Demontage oder Selbstdemontage des Frauenverführers oberflächlich sei. So falsch ist dieser Eindruck nicht. Die Oberflächlichkeit ist ja genau das, was Casanova ausmacht, trotz seiner ganze Emphase, die den Eindruck der Hohlheit und Oberflächlichkeit noch verstärkt. Wenn man denn unbedingt Kritik üben will, könnte man sagen, dass der ganze Film genauso hohl und repetitiv sei wie Casanovas Liebesleben. Das muss so sein, kann aber als langweilig oder blöd empfunden werden. Die Sexualität wird hier nicht erhöht oder romantisiert. Sie wird als etwas Stupides dargestellt. Sinnildlich dafür steht die mechanische Spieluhr in Gestalt eines goldenen Hahns, die beim Liebesakt als Metronom dient. Angefeuert von einer dekadent verblödeten Gesellschaft absolviert Casanova einen Marathonlauf durch eine Welt voller Illusionen und hinterlässt überall eine grosse Gleichgültigkeit, bei sich selbst, den Adligen, die ihn begönnern, und seinen Geliebten, die sich meistens als Truggebilde entlarven, als Phantasiegestalten. Casanova jagt einem Phantom hinterher: der perfekten Geliebten, der perfekten Liebe, dem, was er inbrünstig als Amore anbetet. Das hat eine ziemlich schräge Komik. Casanova wird zu einem Don Quichotte des Unterleibs. Die Komik besteht darin, dass da einer um die Liebe einen Kult betreibt und sie gleichzeitig zu einer Gymnastikübung degradiert. Trotz allen Misslichkeiten, die ihm widerfahren, ist er kein tragisch Liebender. Was auf einer tieferen Ebene dann doch auch irgendwie tragisch ist. Wahre Erfüllung findet er nur in den Armen der Automatenfrau Rosalba. Sie darf und muss eine Phantasiegestalt sein, weil sie keine Frau aus Fleisch und Blut ist. Auch hinsichtlich des Zeitgeistes stellt sie für Casanova die Erfüllung seiner Träume dar. In ihr treffen die beiden Pole zusammen, die ihn lebenslang umtreiben: Ratio und Gefühl. Allerdings entpuppt sich dieses Zusammentreffen als Absurdität: als Liebe zur Mechanik, als Symbiose mit der Maschine. Wir befinden uns in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in einem Zeitalter, das widersprüchlicher nicht sein könnte. Das mechanistische Weltbild von Newton steht einem schwärmerischen Spiritismus gegenüber, und Casanova balanciert zwischen diesen beiden Polen wie ein Seiltänzer. Die kalte Rationalität ruft einen billigen Mystizismus auf den Plan, das Licht der Aufklärung kämpft mit Nebelschwaden. Ein Spannungsfeld, das allerlei dubiose Gestalten anzieht: Hochstapler, Quacksalber und Scharlatane wie Alessandro Cagliostro, der im Film einen kurzen Auftritt hat und mit Casanova eifrig über Alchemie und ähnliche dubiose Themen debattiert. Das Artistische, das Sich-Maskieren, das Uneindeutige, damit spielt dieses Zeitalter. Damit spielt auch Fellini. 

Der Film beginnt, wie könnte es anders sein, mit dem Karneval von Venedig. Aus dem Canale Grande soll eine riesige Skultpur geborgen werden: der Kopf der Göttin Luna. Die Zugseile reissen, und der Kopf versinkt wieder in der Tiefe, wo man die Augen der Göttin geheimnisvoll leuchten sieht: ein Leitmotiv, das am Ende des Films noch einmal vorkommt - und in abgewandelter Form auch in späteren Fellini-Filmen. In seinem letzten, 1990 gedrehten Film "La voce della luna" ("Die Stimme des Mondes") kleidet Fellini die Faszination für die Nacht in ein schönes Märchen, das von der Kraft der Poesie, der Macht des Unbewussten handelt. Venedig ist bei Fellini eine Chiffre für den Übergang ins Unbewusste, in die Sphäre des Mondes und des Wassers. Für das Unterschwellige hatte Fellini ein genaues Gespür. In Gesprächen bezog er sich häufig auf Carl Gustav Jungs Archetypen und dessen Idee von einem kollektiven Unterbewusstsein. Archetypen sind Traumbilder, die tief in die Kultur eingebettet sind, psychische Kraftfelder, die man anzapfen und nutzbar machen kann. Manche Archetypen sind äusserst dunkel, andere wiederum erschliessen sich sofort. Ihre Deutung liegt auf der Hand. Venedig ist sicher auch eine Chiffre für Weiblichkeit. Allerdings nicht für die Art Weiblichkeit, die Fellini in der Stadt Rom sehen wollte, die er einmal als "ideale Mutter" bezeichnet hat. Venedig, das ständig dem Wasser trotzen muss, steht auch für Vergänglichkeit, die vergänglichen Freuden des Fleisches. 

Nachdem die Bergung der Skulptur gescheitert ist, begegnen wir auch schon Casanova. Er hat sich unter die Karnevalisten gemischt, und da er wie alle andern eine Maske trägt, ist er eigentlich gar nicht zu erkennen. Trotzdem steckt ihm jemand eine Einladung zu. Auf der Laguneninsel San Bartolo soll er mit der lustigen Nonne Maddalena das Bett teilen, allerdings nicht nur zum eigenen Vergnügen oder dem seiner Partnerin. Der französische Botschafter, der dieses Tête-à-tête arrangiert hat, schaut durch ein Guckloch in der Wand zu. Nachher, als Casanova zur Stadt zurückrudert, kreuzt plötzlich ein Schiff der städtischen Inquisitionsbehörde vor ihm auf. Man hat einen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Inmitten tosender Wellen ereilt ihn sein Schicksal. Die Anklage lautet auf Häresie. Das genügt, um Casanova in die Bleikammern zu schicken, aus denen er dann ausbrechen wird, um als Abenteurer und Glücksritter durch ganz Europa zu reisen. Den Grundton für alle weiteren Abenteuer setzt das Meer, mit dem Casanova schon kurz nach seinem Tête-à-tête zu kämpfen hat. In dieser Episode wütet ein furchtbarer Sturm, und das Meer, das dabei aufgepeitscht wird, ist dasselbe künstliche Meer wie in "E la nave va". Casanovas Boot schaukelt auf Planen oder Plastikfolien, die von Ventilatoren gebläht werden, und dieses Meer ist ungeheuer suggestiv, weil es "mehr ist als Meer“. Es ist nicht das normale, naturgeschaffene Meer. Es ist nicht das Meer von Jacques-Yves Cousteau. Es ist eben mehr als das. Es ist schwarz wie die Nacht, mit gut sichtbaren Reflexionen vom Mondschein, und es hat eine sichtbare Ausdehnung, anders als das reale Meer, das man in einem Film nicht wirklich ins Bild bekommt. Fellinis Meer ist in einem höheren Sinn glaubhaft. Es ist hyperreal, es ist unheimlich und romantisch: so und nicht anders sieht die Lagune von Venedig aus, wenn Fellini sie zum Schauplatz macht. So muss sie in Fellinis Kosmos aussehen. Man sieht sie mit Fellinis Augen, durch das Nachtsichtgerät seiner Phantasie. Diesen phantastischen Verfremdungseffekt - auf ihn trifft das Adjektiv "fellinesk" hunderprozentig zu - finden wir auch bei den historischen Settings. In "Fellinis Casanova" kommt das nirgends schöner zur Geltung als in der Episode, die am Hof des Herzogs von Württemberg spielt, wo auf verschiedenen Höhen an den Wänden Kirchenorgeln angebracht sind. Die Höflinge, die sich hier ganz und gar unhöfisch verhalten, zumeist sind es wild johlend aus Bierhumpen saufende Soldaten, erklimmen die Orgelstühle mit der Behändigkeit von Affen und erzeugen, wie es im Film heisst, "Orgelkanonaden", ein kakaphonisches Gehämmer aus Bässen und Akkorden. Die Selbstverständlichkeit, mit der Fellini zuweilen die Grenze zum Absurden überschreitet, dieser Hang zum "milden Wahnsinn", erinnert an Kafka und gewisse Kafka-Verfilmungen, wie zum Beispiel an "Das Schloss" von Rudolf Noelte aus dem Jahr 1968, mit Maximilian Schell in der Hauptrolle. Da gibt es eine Episode, die im Büro des Gemeindevorstehers spielt. Die beiden Gehilfen des Landvermessers wühlen wie zwei Frettchen in den hochgetürmten Unterlagen und veranstalten dabei ein riesiges Chaos. Höchstwahrscheinlich kannte Fellini diese Verflmung, und sicher hat er sich sehr eingehend mit Kafka beschäftigt. Ein deutlicher Hinweis darauf findet sich in "Intervista", dem phantasievollen Selbstporträt aus dem Jahr 1987, das davon handelt, wie Fellini in den Cinecittà-Studios Kafkas Romanfragment "Amerika" verfilmen möchte und dabei von japanischen Journalisten interviewt wird. In Wirklichkeit hat Fellini nie ein Werk von Kafka verfilmt, schade eigentlich, das wäre zu schön gewesen, aber Anklänge an Kafka lassen sich in seinen Filmen sehr leicht aufspüren. In "Fellinis Casanova" ist es vor allem der Hof des Herzogs von Württemberg, wo das Fellineske auf das Kafkaeske trifft. 

Ich liebe diese Episode, ihre hemmungslose Surrealität, die doch auch etwas sehr Erdiges hat und nicht einfach nur als Riss in der Wirklichkeit daherkommt. Das unterscheidet Fellini von David Lynch und zahlreichen anderen Film-Surrealisten: er bleibt auf dem Boden. Seine Surrealität ist geerdet. Es wird gejohlt, geflucht und gesoffen, es geht zu wie an einem Kegeltreffen. Diese überdrehte, traumartige und doch auch sehr handfeste Künstlichkeit ist der Kern dessen, was einen Fellini-Film ausmacht. Es ist eine Künstlichkeit, die von Glossen, Karikaturen und Trivialitäten lebt. Bevor Fellini Filme gemacht hat, war er Karikaturist und Klatschreporter. Er wusste, dass man nicht sophisticated sein, nicht mit einer Artfilm-Brille herumlaufen muss, um das Herz einer Sache freilegen zu können. Er wusste, dass die besten Einfälle auf der Strasse liegen, dass man nie zu weit suchen darf. Das Gute liegt so nah... Fellini hat das oft genug betont. "Wenn ich mit einem neuen Film anfange, verbringe ich die meiste Zeit am Schreibtisch und tue nichts anderes, als Ärsche und Titten hinzukritzeln." In ihrer Summe bilden solche Kritzeleien den unverwechselbaren Fellini-Kosmos. Sie prägen jedes Detail, jedes Gesicht, jeder Bekleidung und jedes Setting. "Ärsche und Titten" sind bei Fellini nicht einfach nur Obszönitäten. Was sich darin ausdrückt, ist eine phantasiegesteuerte Trivialität, auf der Fellini seinen unverwechselbaren Kosmos aufbaut. 

Auch Autorenfilme sind Spielfilme, und kein noch so fähiger Regisseur und Filmautor kann einen Spielfilm im Alleingang planen oder konzipieren. Oft hat Fellini mit andern Drehbuchautoren zusammengearbeitet, oft sogar mit einem ganzen Scheiberteam, mit vielerlei Beratern, Spezialisten und Stichwortgebern. Beim Drehbuch zu "Fellinis Casanova" fungiert Bernardino Zappanoni als Koautor. Der Film mag Fellinis Namen im Titel tragen, ist aber durchaus nicht nur Fellinis Casanova. In seinem Selbstporträt "Intervista" erlebt man einen Fellini, der die Mitwirkenden offenherzig in das Filmemachen einbindet. Man erlebt aber auch einen Fellini, der seine Phantasie durchsetzt, koste es, was es wolle. Obwohl er von seinen Schauspielern häufig als eitel und schüchtern beschrieben wurde, war er sehr zugänglich. Er konnte Menschen für sich gewinnen, indem er über alle Differenzen hinweg mit ihnen kooperierte. Er war kein Egozentriker. Und trotzdem ist jeder Fellini-Film eine unverfälschte Vision des Meisters: eine durchkomponierte Phantasie, ein Gesamtklang, eine Bildsymphonie, ein atmosphärisches Ereignis, das nur von Fellini stammen kann. Nur von Fellini? Hier werden echte Fellini-Fans natürlich hellhörig. Was ist mit Nino Rota, dem kongenialen Filmkomponisten? Die Musik zu "Fellinis Casanova" kannte ich schon, bevor ich den Film zum ersten Mal gesehen habe. Lange Zeit habe ich sie nicht als Filmmusik wahrgenommen, sondern als eigenständige Kunst, als das Werk eines grossartigen, stilistisch kaum eingrenzbaren Komponisten. So hat mich Nino Rota auf "Fellinis Casanova" vorbereitet. Er hat mich auf die Filmspur gebracht, hat die Spur gelegt, eine schillernde Tonspur, die sich grösstenteils aus klassischen Quellen speist und doch auch das Flair des Zirkusartigen und Komödiantischen hat. Heute, Jahre später, nachdem ich "Fellinis Casanova" mehrmals gesehen habe, schätze ich Fellini mehr denn je. Aber ich weiss auch, wieviel er Nino Rota zu verdanken hat. Der ganze Film ist von Musik durchtränkt, er lebt aus ihr, nährt sich von ihr. Fellini ohne Rota geht nicht. Aber Rota ohne Fellini, das geht sehr wohl. 

Könnte Fellini seine Filme heute noch drehen? Wie würde man mit ihm umspringen, wenn er nicht den Klassiker-Bonus hätte? Würde man ihn in der Luft zerreissen? Ich denke da zum Beispiel an die Männerphantasie aus "Otto e mezzo" ("Achteinhalb", 1963), in der Marcello Mastroianni als Löwenbändiger junge Frauen umherscheucht. Käme das in einem heutigen Spielfilm vor, wäre der Film nach spätestens einer Woche gecancelt, sämtliche Festivals würden ihn aus dem Programm kippen, und der Regisseur müsste Angst haben, er könnte von radikalfeministischen Sturmtrupps entführt und gelyncht werden. Allerdings habe ich die starke Vermutung, dass Fellini eine solche Situation geniessen würde. Das Szenario klingt allzu sehr nach einem Fellini-Film. Chaos zu entfesseln, ist genau nach Fellinis Geschmack. Und wahnsinnig überrascht wäre er wahrscheinlich nicht. In "La città delle donne" ("Die Stadt der Frauen"), ebenfalls mit Mastroianni in der Hauptrolle, hat Fellini 1980 den heutigen Kampf der Ideologien, Identitäten und Geschlechter so selbstkritisch wie bissig vorweggenommen. Fellini war weder Sexist noch Feminist. Er liess sich in keine Schublade pressen, und seine Meinung in politischen und ideologischen Debatten war äusserst diffus. Eindeutigkeit lag ihm nicht. Verlangte man von ihm eine Stellungnahme, blieb er gerne im Vagen, bot seinen ganzen Charme auf, um nicht Partei ergreifen zu müssen. Wenn er dann doch einmal Partei ergriff und Farbe bekannte, ging das nicht ohne Doppelbödigkeit. In "Fellinis Casanova" kommt die Hauptfigur zu erstaunlichen Einsichten: "Wir üben die totale Herrschaft über die Frau aus, eine Tyrannei, die ihr aufzuzwingen wir nur deshalb fähig waren, weil die Frau besser, vernünftiger und grosszügiger als der Mann ist. Aufgrund dieser Eigenschaften möchte man doch meinen, müssten wir die Unterworfenen sein, und doch ist die Frau von unserer Gnade abhängig, obwohl der Mann in Wirklichkeit hundertmal unvernünftiger ist, grausamer, gewalttätiger und von Natur aus dazu geneigt, andere zu unterdrücken...." Fellini legt dieses Statement nicht etwa einem Moralisten, sondern einem selbstverliebten Frauenhelden in den Mund, einem windigen Schwadroneur, dem es immer und überall nur um das eine geht. Der Hang zum Widersprüchlichen kann man bei Fellini auch daran festmachen, dass er sich in seinen Filmen exzessiv mit Frauen beschäftigt hat, mit einem ganzen Kosmos von Frauen, obwohl er als Privatmann alles andere als ein Casanova war. Er war glücklich und brav verheiratet. Die Ehe mit Giulietta Masina verlief ohne Seitensprünge und Eskapaden, ohne jede Krise, und das, obwohl die kleine, pausbäckige Schauspielerin mit den rührenden Kulleraugen von Fellinis Weiblichkeitsideal weit entfernt war. Sie war keine Supergranate wie Anita Ekbert, die dem Trevi-Brunnen als Venus entsteigt. Auf die Frage, was ihn an Giulietta denn so anziehe, antwortete er pfiffig: "Sie bringt mich zum Lachen." 

"Der Visionär ist der einzige wahre Realist." Mit einer alles umarmenden Geste hat sich Fellini beides zu eigen gemacht: Phantasie und Realismus. Das Visionäre liegt bei ihm in der Verschränkung, im Sowohl-als-auch, in einem eigenwilligen Hyperrealismus, der das Kino revolutioniert hat. Klar, Fellini war ein Visionär, vielleicht der grösste, den das Kino je hatte, und in gewisser Weise war er das pure Gegenteil von Stanley Kubrick, dem anderen grossen Kino-Visionär. Während Kubrick seine Visionen planmässig und präzis mit dem Kopf umgesetzt hat, mit dem kalten Blick eines Ingenieurs, hat Fellini ein macello veranstaltet, ein Chaos oder Puff. Der eine war ein Kontrollfreak, der andere ein Chaot. Chaos zu entfesseln und zu bändigen, darin erwies sich Fellini in jedem seiner turbulenten Filme als Meister. Er war einer, der alles zusammenführt, auch Elemente, die einander von Grund auf widerstreben, ein Jongleur zwischen Tragik und Komik, Klamauk und Poesie, Trivialität und Kunst, ein unermüdlicher Synthetiker und Synästhetiker. 

 

2023