Die Mansarde

 

 

Mit Kugelschreiber kringelte ich das Inserat ein und setzte ein Ausrufungszeichen dazu. Mansarde mit Kochabteil und Bad, möbliert, WC auf dem Gang, 380 Franken monatlich. Das war es, diese Wohnung musste ich haben! Ich pendelte täglich in die Stadt, verharrte jedoch immer noch auf der Schwelle. Ich war noch immer ein Landbewohner. Irgendwo hatte ich gelesen, dass im Gehirn eines Stadtbewohners sehr viele Betawellen erzeugt würden. Betawellen entstehen durch erhöhte Umweltreize und sind für Wachheit und Kreativität zuständig. In anderen Worten: wer kreativ sein will, muss in die Stadt ziehen. Das war mir klar. Mein Entschluss stand fest. In der Stadt gab es etwas zu erleben. In der Stadt war etwas los, da war Highlife. Ich wollte aus dem Elternhaus ausziehen und eine Stadtwohnung mieten. Ich hatte keine übertriebenen Ansprüche. Wohnen hiess für mich, dass man zwischen vier Wänden Platz genug hatte, um zwei bis drei Schritte zu machen und die nötigsten Sachen (Tisch, Stuhl, Bett) um sich zu haben. Im Idealfall hatte man eine Aussicht auf Dächer, Häuserfronten, Vorgärten, Veloeinstellplätze und eine Strasse mit zwei Baumzeilen, man lebte in einem schönen Stadtviertel und hatte die entsprechende Fensteraussicht. Meine Traumwohnung war in die helle, schöne Luft gebaut, ein Nest unter einem wunderbaren Stadthimmel. So etwas wollte ich mir ergattern, damit ich das Elternhaus endlich hinter mir lassen konnte. Viele Lehrlinge taten das. Mit dem ersten eigenen Lohn wandten sie dem Elternhaus den Rücken und verliessen den gemeinsam Esstisch. Bei mir, der ich vom Land kam, war dieser Drang umso grösser. Endlich zum Stadtbewohner werden, endlich "normal" werden! Die Lehrlinge, die vom Land kamen, brauchten immer eine Zeitlang, bis sie den Stallgeruch, den Dorfdisco-Mief, die Bratwurst-Mentalität ihrer Herkunft abgestreift hatten. Dann aber klappte es recht gut. Die neue Lebensumgebung sog sie auf. Die Stadt war wie ein Strudel, der die Neuankömmlinge erfasste und nicht mehr losliess. Mit einer Lehrstelle, einem neuen Freundeskreis und den üblichen Exkursionen ins Nachtleben fing für sie ein aufregendes Leben an. Es war der Sprung in die Selbständigkeit, und die Stadt war das Sprungbrett. Soweit ich das von der Berufsschule her mitbekam, war dieser Sprung gar nicht so schwer. Wer eine Lehre machte, stand mit einem Fuss schon im Wohnungsmarkt. Und somit auch im Erwachsenenleben, wo man eigenständige Entscheidungen treffen musste und durfte. Man war volljährig. Man war unterschriftsberechtigt. Man kochte selber, machte selber die Wäsche und kam für die Miete auf, und am Monatsende musste man die Zahlungen tätigen, und niemand war da, der einem sagte, was man zu tun und zu lassen hatte. Eine Wohnung fand man leicht. Und man wohnte nicht etwa in billigen Mietskasernen, sondern in lauschigen, alten Wohnungen unter Dachgiebeln und Schornsteinen. So etwas wollte ich auch. Ich war neidisch. Meine Mansarde (es war schon "meine", obwohl ich erst das Inserat gelesen hatte) war für meinen Lehrlingslohn allerdings zu teuer. Kein Hinderungsgrund. Nach einem Jahr und der ersten Lohnerhöhung würde ich mir die Wohnung definitiv leisten können. Und bis dahin würde ich einfach etwas weniger essen, den Gürtel enger schnallen. Und vielleicht würde ich mich sogar dazu durchringen können, etwas weniger Vynil-Platten zu kaufen. Das hätte ich tatsächlich auf mich genommen. Ich war bereit, ein Opfer zu bringen. 

 

Am Karl-Barth-Platz stieg ich aus. Ich bewunderte die Blumenrabatten, die schönen Häuser ringsum. Über dem Platz prangte eine Art Bahnhofsuhr, damit man beim Flanieren die Zeit nicht vergass. Der Sekundenzeiger fehlte. Und ich fragte mich, ob sich der Minutenzeiger überhaupt jemals von der Stelle bewegte. In diesem Quartier war alles so merkwürdig ruhig: als wäre die Zeit stehengeblieben. Jedenfalls brauchte ich mich nicht zu beeilen, ich war noch früh dran. In der Nähe war ein bunt angeschriebenes Geschäft von AGFACOLOR mit einem Schaufenster voller Stadtansichten. AGFACOLOR war ein Photogeschäft und natürlich auch eine Markenname. Im Schaufenster präsentierte sich ein buntes Panoptikum aus teils bekannten, teils überraschenden Basler-Sujets. Das waren Eindrücke, wie man sie in der Stadt tausendfach erhielt: Winkel und Ecken alter Gebäude, öffentliche Plätze, Reklameschilder, Schaufenster, Taubenschwärme, Brücken, Dachgiebel etc. etc. Als ich das so anschaute, nahm ich mir vor, unter die Photographen zu gehen. Als Stadtbewohner würde ich dauernd etwas sehen und photographieren können. Eindrücke, wie ich sie hier im Schaufenster von AGFACOLOR versammelt sah, würden mit Wucht auf mich einstürmen und mein Gehirn mit Betawellen überschwemmen. Das würde mich immens beleben und beflügeln, und infolgedessen würde ich einen ungeahnten Elan entwickeln. Endlich würde ich aus meinem Schnakenloch herauskommen und "Anschluss finden", auf welche Weise auch immer. An meinem baldigen Umzug hegte ich nicht den geringsten Zweifel. Die Zeit war reif dazu. Wenn man weiterkommen und dazugehören wollte, musste man in die Stadt ziehen. In der Stadt war man jemand. Oder hatte wenigstens die Chance, jemand zu werden. Und jemand zu werden, war für einen Achtzehnjährigen ein wichtiges Lebensziel, vielleicht das wichtigste überhaupt. Und je grösser die Stadt, desto grösser die Verheissung. Gut, Basel war nicht New York. Man blieb hier im grossen und ganzen auf dem Boden, und ein Neuzuzügler musste nicht Angst haben, er könnte aus Versehen ins falsche Stadtviertel geraten. Basel war eine wohlanständige Zwergenstadt, aber immerhin eine Stadt. Das Haus, das ich schliesslich mit Herzklopfen betrat, lag am Sonnenweg, nicht weit vom Karl Barth-Platz entfernt. Es bestand aus weissen und roten, etwas grob gefügten Backsteinen, die an Legosteine erinnerten. Trotzdem strahlte es eine gewisse Gediegenheit aus. Es war nüchtern und vornehm, kein bisschen verschnörkelt, aber reizvoll wegen seiner Zweifarbigkeit. Frau Moret, die Vermieterin, wohnte im Parterre. Sie zeigte mir die Mansarde im vierten Stock. Es kam mir so vor, als hätten wir die Wohnungsübergabe bereits verabredet. Als sei das schon beschlossene Sache. Ich schaute mich kurz um und sagte "Ja". Und Frau Moret sagte: "Schön, dann wohnen Sie von jetzt ab hier." 

 

Die Wohnung bekam ich, weil ich nach Einschätzung der Frau Moret der einzige seriöse Mensch war, der sich auf das Inserat hin gemeldet hatte. Das hatte letztlich den Ausschlag gegeben. Ich sah ja selbst, welche Wirkung das Inserat hatte. Die billige Wohnung zog die dubiosesten Gestalten an. Als ich vor der Wohnungsbesichtigung das Haus betrat, kam mir aus der Dunkelheit des Flurs ein langhaariger Typ entgegen, bucklig und in abgerissenen Jeans. Während ich ihm die Tür aufhielt, streifte er mich mit einem Blick, der mich zusammenzucken liess. Er duckte sich an mir vorbei und ging dann leise fluchend davon. Wahrscheinlich ahnte er, dass ich ihm die Wohnung vor der Nase wegschnappen würde. Frau Moret gestand mir, dass sie glücklich und erleichtert sei, die Wohnung in guten Händen zu wissen. Meine Mitbewerber seien allesamt durchs Raster gefallen. Sie habe nämlich ein Raster, einen Mindestanspruch. Unvorstellbar, was sich da manchmal bei ihr melde! Ein vergammeltes Volk aus Drogensüchtigen und Säufern! Sie sei doch keine Wohlfahrtseinrichtung! Wenn sie eine Wohnung vermiete, wolle sie einen anständigen Mieter, keinen randständigen Mieter. Ich wusste genau, was sie meinte, wenn sie von einem anständigen Mieter sprach. Sie meinte einen Mieter wie mich, einen Hans Mustermann. Ich präsentierte mich wie ein Stück Toastbrot, wie für ein Passfoto zurechtgemacht. Ich trug meine Harold-Loyd-Brille, meine Haare waren zu diesem Zeitpunkt ziemlich kurz, ich hatte mir vorher noch schnell einen Scheitel reingekämmt, und mein kariertes Hemd, das ich sonst immer schlabbrig über den Gürtel hinabhängen liess, hatte ich mir ausnahmesweise in die Hosen gestopft. So machte ich auf Anhieb einen guten Eindruck. Ich musste mich nicht mal verstellen. Ich vertraute auf mein Äusseres. Auf meine Kleider und mein ehrliches Gesicht. Freilich durfte ich mich nicht auf eine Befragung einlassen. Es gab Dinge, die ich für mich behalten musste. Dass ich rauchte wie ein Schlot, verschwieg ich. Ich verschwieg es auch deshalb, weil ich nicht danach gefragt wurde. Meine Vermieterin schöpfte keinen Argwohn. Das Zimmer lag zur Hälfte unter der Dachschräge, und es hatte ein Erkerfensterchen auf den Vorgarten und das Quartiersträsschen hinaus. Mir gefiel das. Auch die spartanische Möblierung war ganz nach meinem Geschmack. Ein Fauteuil, ein Stubentisch, ein Schreibpult, ein Holzstuhl, ein Bett, ein Wandschrank, eine eingebaute Kochnische. Das alles war zweckdienlich, wunderbar minimalistisch. Diese Schlichtheit berührte mich, weil sie etwas Romantisches hatte. Endlich hatte ich eine Stadtwohnung. Meine Stadtwohnung. Eine Mansarde für mich allein. 

 

Wenn ich mein Mansardenfenster aufmachte, hörte ich aus westlicher Richtung den Aeschenplatz brodeln. Diese Geräuschkulisse signalisierte Stadtnähe, und trotzdem wohnte ich in einem ruhigen Aussenquartier: Häuser wie Schmuckschatullen, Gärten, Promenaden, Parks und Alleen. Direkt neben der Bahnlinie, die das Quartier im Osten begrenzte, zog sich eine Promenade hin, die auf einem kleinen, hinter Wohnblocks versteckten Hügel ihren Ausgang nahm. Hier war früher der Galgenhügel gewesen, der noch immer ein Hügel war. Man hatte ihn ängstlich freigehalten. Solche Plätze werden selten überbaut. Auch gegenwärtig wohne ich wieder an so einem Ort, nämlich neben der Hexmatt in Pratteln, auf der früher die Hexen getanzt haben sollen. Das vielleicht immer noch verhexte Wiesenstück ist heute ein Fussballplatz mitten in einem Wohnquartier. Auf der sogenannten Galgenhügel-Promenade promenierte man angenehm, und in den Büschen und Linden zwischen Bahndamm und Spazierweg tummelten sich auffällig viele Krähen. Vielleicht suchten sie immer noch nach gut abgehangenem Futter. Sie taten sich an den Abfallkübeln gütlich und flogen mit einem Krah-krah auf, wenn man sie störte. Und noch immer lag das ausserhalb der Stadttore, fast auf dem Land. Aber nur fast. Von Osten her zog sich eine lärmige Schlaufe um die ländliche Ruhe. Eng kanalisiert auf Asphaltpisten, Schienen, Brücken und in Unterführungen wand sich der Verkehrsschwall am Quartier vorbei, teils in die Stadt hinein, teils um sie herum. Es war das alles eine Umleitung. Das Quartier blieb davon verschont, der grosse Verkehr führte um die beschaulichen Plätze und Strassen herum. Das Gellertquartier war ein Quartier der Wohlhabenden und Alten, fast eine Art Alterssiedlung. Ein Tramklingeln oder ein quitschender Rollator waren das Lauteste, was man zu hören bekam. Um diese Ruhe nicht zu stören, verzichteten die Strassenkehrer auf die Putzmaschine und arbeiteten sich Meter für Meter mit dem Reisigbesen voran. 

 

In der ersten Zeit war mein Ansehen bei Frau Morat noch intakt. Ich war noch keiner, über den sie hintenrum schlecht reden musste. Ich hielt mich gut, verhielt mich mustergültig, ich machte alles richtig. Ich empfing keinen Damenbesuch, ich schaffte mir kein unerlaubtes Haustier an, (Hunde und Katzen waren erlaubt, aber Schlangen zum Beispiel nicht), ich hängte keine Wäsche in der Wohnung auf, hörte nicht überlaut Musik, spielte nicht Alphorn oder Tuba, klopfte keine Teppiche am offenen Fenster aus, liess keine Partys steigen, hämmerte um zwei Uhr nachts keine Ikea-Schränke zusammen, bohrte keine Wasserleitungen an, und auch sonst gab es bei mir wenig zu beanstanden. Ich hatte es nicht nötig, überwacht zu werden. Der junge Sportlehrer, mit dem ich die Etage teilte, hatte das nötiger. Bei ihm gab es Auffälligkeiten, über die man Mutmassung anstellen, den Kopf schütteln oder spotten konnte. Ich wunderte mich, dass er bei Frau Moret nicht durchs Raster gefallen war. Er hatte einiges am Laufen. Soweit ich das mitbekam, hatte er eine feste Freundin, die hin und wieder die Nacht bei ihm verbrachte. Manchmal erwachte ich um drei Uhr morgens, als würde jemand am Bett rütteln. Ich bekam eine merkwürdige Unruhe mit. Sie übertrug sich auf mich, während ich noch im Halbschlaf lag und überhaupt nicht kapierte, was da los war, bis mich diese Unruhe vollends aus dem Schlaf riss, weil sie heftiger und deutlicher wurde. Nebenan tat sich was. Etwas sehr Lebhaftes. Ein rhythmisches Poltern, und dazwischen immer wieder das Stöhnen einer Frau. Mit dem Handtüchli-Sportlehrer liess sich das nur schwer in Verbindung bringen. Schmächtig und drahtig hopste er zuweilen mit einer umgehängten riesigen Sporttasche die Treppe hinab, ein Springinsfeld oder Zwuckel, dem man eine solche Freundin niemals zugetraut hätte. Seine zweite Freundin, die ihn immer nur an den Wochenenden besuchte, wenn die als Hostesse arbeitende feste Freundin nicht da war, verhielt sich etwas leiser. Soweit ich das mitbekam, verursachte sie kein Erdbeben. Und so sehr ich auch lauschte, ich hörte nichts. Kein Poltern und nicht das leiseste Stöhnen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das gut finden sollte oder nicht. Sie hielt anscheinend an sich. Bis auf die wenigen Momente, da es zum Krach kam, weil sie etwas wollte, das er nicht wollte. Sie: "Warum nicht?" Er: "Kapier's endlich! Es geht nicht!" Sie kapierte es nicht. Stattdessen trieb sie den Streit immer weiter voran - und vermutlich weit über den eigentlichen Streitpunkt hinaus. Sie schmiss dem Handtüchli-Sportlehrer dies und das an den Kopf. Nicht Gegenstände, aber Worte. Dies und das sei falsch, was er mache. Oder eben nicht mache. Sie erhob Vorwürfe, die er zurückwies. Was immer neue Vorwürfe auf den Plan rief und der Freundin zunehmend den Boden unter den Füssen wegzog. Denn irgendwann fielen ihr keine Vorwürfe mehr ein. Sie wiederholte sich und steigerte sich in etwas hinein, das sie zur Furie machte. Man hörte Geschrei, zuerst von ihr, während er sie zu besänftigen versuchte, bis der Handtüchli-Sportlehrer das Handtüchli warf und selber laut wurde, die Beherrschung verlor und zurückschrie. "Was bist du überhaupt für eine Frau? Du wäschst meine Socken mit 20 Grad!" Daraufhin hörte man ein Schluchzen. Aha, dachte ich, wurde auch Zeit. Wiederum wurden Vorwürfe laut, diesmal unter Tränen. Er setzte sich zur Wehr, geriet nun ernsthaft in Bedrängnis. Es flogen die Fetzen, die Wand, die mich von dem streitenden Pärchen trennte, wackelte wie eine Trennwand im Theater. Ein Klirren (Vase?) und ein Getrampel zwischen Auf- und Abtritten, und nach einer Viertelstunde ein ersticktes Wimmern und ein finales Türenknallen, dann kehrte wieder Ruhe ein, und so sehr ich auch lauschte: es war vorüber, nichts mehr zu hören. Eine der beiden Freundinnen lief mir im Flur mal über den Weg, als ich aufs Klo ging. Mein Nachbar und ich teilten ein Etagenklo mit Ziehspülung. Dem Wochentag nach zu schliessen, war es die Hostesse. Sie trug einen gut gefüllten Alpaka-Pullover, und sie grüsste mich mit einem bezaubernden Lächeln. Sie schien mir recht nett zu sein. 

 

Der Eintritt hatte etwas Unheimliches. Als schlösse sich ein Burgtor. Der geknickte Arm des Türschliessers hemmte die Tür, nachdem man sie aufgedrückt hatte, hielt sie ein paar Sekunden lang offen und klappte dann ganz plötzlich zu, und die Tür fiel krachend ins Schloss. Ein Krach, der in Watte versank, kein Hall, man hätte in einer Schachtel sein können. Eine Luft wie Schurwolle, man trat ein, und sofort umgab einen der leicht abgestandene Geruch von alten Teppichen, wuchernden Zimmerpflanzen und gedünsteten Zwiebeln. Man ging auf einem Läufer, der sich vom Eingangsbereich zur Treppe und über alle Stufen hinweg bis zum obersten Treppenabsatz zog. Der Läufer war aus Rauhfaser oder Bast, einem Material, das die Schuhsohlen automatisch sauber bürstete. Im Treppenhaus herrschte eine Art Fin-de-siècle-Stimmung. Im Oberlicht tanzten Staubkörnchen, und an den Wänden hingen gerahmte Kunstdrucke, Merian-Blumen und solches Zeug. Frau Moret hatte Geschmack, das musste man ihr lassen. Morgens lief man ihr häufig über den Weg, wenn sie die Post verteilte. Aussen neben ihrer Wohnungstür hatte sie ein Fachregal an die Wand dübeln lassen, und jeder Mieter hatte dort sein Fächli, in das sie die Briefe, Postkarten, Zeitschriften und Zeitungen legte. Und falls ein Päkchen dabei war, hinterliess sie einen Post-it-Zettel, damit man es bei ihr abholen konnte. Sie nahm es sehr genau mit der Post. Keine Postkarte blieb ungelesen, jedes amtliche Schreiben wurde geröngt, und bei jedem Briefcouvert, das halbwegs nach einem Privatschreiben aussah, warf sie einen Blick auf die Rückseite. War der Absender angegeben, kannte sie schon die Hälfte des Inhalts, und den Rest konnte sie sich zusammenreimen. Diskretion stand bei ihr nicht an oberster Stelle. Wer bei ihr wohnte, hatte keine wirkliche Privatsphäre, nicht einmal innerhalb der eigenen vier Wände. Frau Moret verschaffte sich gerne Zutritt zu den Wohnungen, wenn sie etwas nachschauen wollte, und das machte sie immer hinter dem Rücken der betreffenden Mietpersonen. Sie schlich sich mit einem Zweitschlüssel hinein, kontrollierte den Rolladen, den Drehknopf am Heizkörper oder sonst etwas und schlich sich wieder hinaus. Die Mietperson wusste von nichts und fand es lediglich etwas komisch, dass ein Fenster, das zuvor noch offen gewesen war, nun auf einmal fest verriegelt war. Als hätte eine Geisterhand gewaltet. Zusammen mit einem Elektriker, der die Steckdosen überprüfte, betrat Frau Moret einmal meine Wohnung, als ich nicht da war. Und natürlich wusste ich von nichts. Und ich hätte auch nie davon erfahren, wenn mein Aschenbecher nicht gewesen wäre. Eine schadhafte Steckdose fand Frau Moret nicht. Was ihr aber sofort ins Auge fiel, war mein Aschenbecher. Und der brachte sie völlig aus der Fassung. Mein Aeschenbecher - ein Drehaschenbecher mit einem Hebelchen, das man betätigen konnte, um die Asche in den Behälter hineinzudrücken - war ziemlich überfüllt. Sein Inhalt quoll über und mottete friedlich vor sich. Als ich nach Hause kam, rief mich Frau Moret sofort zu sich. Sie war ausser sich. Das sei ja wohl der Gipfel! Mit Hilfe eines Topflappens habe sie den qualmenden Haufen ins Waschbecken befördert und mit Wasser übergossen. Das sei ja gerade noch einmal gut gegangen! Hätte sich die Glut ins Wachstischtuch gebrannt, stünde jetzt die Feuerwehr da! Aber auch so sei das schon schlimm genug! Die Wohnung sei kaum noch bewohnbar. Polster, Vorhänge, alles stinke. So etwas wolle Sie nie wieder erleben, nie wieder! Ich gelobte Besserung, und Frau Moret liess mich gehen. Ich war froh, dass sie mir nicht gekündigt hatte. Ich lief nach oben, um eine zu rauchen. 

 

Abends war ich oftmals aus. Ich hatte tatsächlich ein bisschen Anschluss gefunden, den einen oder anderen Kollegen, mit dem ich nach Feierabend durch die Stadt zog und da und dort einkehrte, um etwas zu trinken. Es war das übliche Ausgehprogramm. Wir tranken etwas, schwatzten oder schwiegen, hörten der Musik zu, die im Hintergrund lief, tranken etwas, schwatzten oder schwiegen und hörten der Musik zu, die im Hintergrund lief. Und so ging es den ganzen Abend. Ich kannte mich in Basel inzwischen recht gut aus. Wie sagt man doch? Eine Stadt kennt man erst, wenn man ihre Kneipen kennt. Wenn ich zu Hause blieb, sass ich am Fenster - vor mir das Geäst einer Platane - und hoffte, den Schatten einer Eule vor dem Mond vorbeifliegen zu sehen. Natürlich gab es hier keine Eulen. Das Schuhu-schuhu, das mich manchmal in den Schlaf wiegte, kam von den Tauben, die unter dem Dachkännel nisteten. Oft dachte ich an das Schaufenster von AGFACOLOR. Zum Photographieren blieb mir schlicht keine Zeit. Tagsüber war ich im Geschäft, wo ich meine Lehre machte und von früh bis spät eingespannt war, und abends war es dunkel. Da hätte ich höchstens noch die Sterne oder den Mond photographieren können. Und wenn ich dann endlich mal frei hatte, streikten meine Betawellen, sie fielen in sich zusammen, und die Kreativität lag flach. Ab und zu nahm ich mir ein Buch vor. Es waren immer die gleichen drei bis vier Bücher, die ich zur Hand nahm. Wenn ich sie durch hatte, fing ich einfach wieder von vorne an, als gäbe es keine anderen Bücher. Als wären Bücher eine rationierte Mangelware. Ich genoss es, am offenen Fenster zu lesen und dazu die eine oder andere Zigarette zu rauchen. Ich war zwar Lehrling in einer Buchhandlung, las aber selten etwas Aktuelles, geschweige denn einen Bestseller. Stattdessen las ich Sachen, die man im allgemeinen für antiquiert hielt. Zum Beispiel die Gedichte und Briefe von Lord Byron. Es verschaffte mir eine gewisse Genugtuung, dass ich weit und breit der einzige Byron-Leser war. Und ganz bestimmt war ich der einzige Byron-Leser, der seinen Byron an einem offenen Mansardenfenster las! Ich versetzte mich in sein Leben und seine Zeit zurück. Er war viel umhergereist und hatte in den prächtigsten Villen logiert. Und er hatte ein paar ziemlich aussergewöhnliche Haustiere gehabt, darunter einen Bären, einen Dachs, einen Adler und einen ägyptischen Kranich. Das gefiel mir. Dass ich selbst kein Haustier hatte, bedauerte ich keineswegs. Ich musste nur mich selbst versorgen, das genügte mir vollauf und gab mir schon reichlich zu tun. Dafür hatte ich ja eine Kochnische, und die war ideal. Mein normales Abendessen bestand aus dem, was nach zehn Minuten al dente war und via Tropfsieb auf den Teller gelangte. Zwischen zehn und elf Uhr abends - zum Schlafengehen war es noch zu früh - hüllte ich mich in meinen Wildwest-Mantel und ging noch einmal hinaus. Ich folgte den Tramgeleisen bis zur Überführung der Autobahnausfahrt, dann nahm ich die Galgenhügel-Promenade bis zur Gellertbrücke, und nachdem ich diese überquert hatte, kam ich in eine Gegend, die spätabends wie ausgestorben war. In der Nähe war das Bethesda-Spital, und von Zeit zu Zeit jaulte die Sirene eines Krankenwagens vorüber. Ansonsten vollkommene Stille. Keine Autos, keine Passanten, nichts. An den Gitterstäben des Schwarzparks rauchte ich eine Zigarette. Dann ging ich wieder über die Gellertbrücke, spazierte der Gellertstrasse entlang und bog in den St.Alban-Ring ein, bis ich zu einer Bäckerei und einem Coiffeursalon kam. Gleich gegenüber war der Sonnenweg, und dann waren es nur noch ein paar Schritte bis zur Haustür und in meine Mansarde hinauf, wo mein Bett auf mich wartete.

 

Frau Moret hatte einen Sohn, der ihr grossen Kummer machte. Er war auf die schiefe Bahn geraten. Als er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, behielt sie das nicht etwa für sich, sondern erzählte es im ganzen Haus herum. Es blieb einem nicht erspart, dass man sich über alle Geschehnisse, die diesen Sohn betrafen, genaustens ins Bild setzen lassen und der armen alten Frau ein Ohr leihen musste. "Je verwandter, je verdammter," rief sie ein übers andere Mal, wenn sie mich (oder sonst jemanden) im Treppenhaus abgefangen hatte, um ihr Herz auszuschütten. Mir war das lästig, ich wollte mich möglichst schnell davonmachen. Was gar nicht so einfach war. Frau Moret wollte unbedingt wissen, was man zu dem Fall zu sagen hatte. Sie wollte eine persönliche Meinung hören. Jedes Mal sagte ich etwas über den Familienzusammenhalt und das gemeinsame Blut, das dicker als Wasser sei. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Darauf Frau Moret, den Tränen nahe: "Leider! Leider! Der Vater hat es gut. Er kann sich aus allem heraushalten. Er kann sich auf die Möglichkeit berufen, dass ein anderer der Vater sein könnte. Er kann in der Masse verschwinden. Aber die Mutter ist immer die Mutter. Sie ist in jedem Fall die Hauptbetroffene. Sie kann überhaupt nichts relativieren. Sie trägt die persönliche Haftung. Sie weiss, woher das Kind kommt. Die Zeugung kann sie bezeugen, und auch bei der Entbindung ist sie dabei gewesen. Blut ist dicker als Wasser. Und je verwandter, desto verdammter. Leider, leider..." - Um endlich weiterzukommen, versuchte ich das Gespräch so taktvoll wie möglich zu beenden und sagte etwas in der Art von: "Ja, ja, Sie haben Recht. Familien sind schwierig, Man wäre wahrscheinlich besser dran, wenn man keine Verwandten hätte. Wenn man wie Mogli bei den Affen oder Wölfen aufwachsen würde." Nicht bei allen Blutsverwandten empfand Frau Moret die Verwandtschaft als Fluch. Ihre Nichte, die junge Frau Moret, wohnte ebenfalls im Parterre. Zu ihr schien Frau Moret ein gutes Verhältnis zu haben. Vielleicht weil diese Nichte eine Behinderung hatte. Am linken Fuss, der ein Klumpfuss war, trug sie einen Spezialschuh, mit dem sie stark humpelte. Dank einer flink wiegenden Gangart konnte sie mit ihrem Hund trotzdem Gassi gehen, manchmal auch eine längere Wegstrecke. Sie ging mit ihm kreuz und quer durchs Quartier. Der Hund war ein Schäferhund. Er sei ausserordentlich kinderlieb, sagte sie. Beim Einkaufen und Gassigehen durfte jedes Kind, das auch nur im entferntesten etwas für Hunde übrig hatte, an ihn ran und ihn streicheln. Wenn ich sie antraf, dann meistens draussen, wo sie mit dem Hund und einem Einkaufswägelchen voller Hundefutter die Sonnenstrasse entlanghumpelte oder an der Hardstrasse das Schaufenster von AGFACOLOR betrachtete. So sanft und kinderlieb der Hund auch war: am Sonnenweg war er ein unermüdlicher Wächter. Immer wenn er jemanden im Treppenhaus wahrnahm, lief er zur Wohnungstür, um zu bellen. Für die alte Frau Moret war das in Ordnung, weil sie bei jedem Bellen nachschauen konnte, wer durch den Eingangsflur ging. Das kam ihr entgegen. Je nachdem war es jemand, mit dem sie ein paar Worte wechseln wollte. Das Zuschlagen der Eingangstür, das an sich sehr laut war, kam zu spät, wenn jemand das Haus verliess. Da war sie mit einem Wachhund besser bedient. Das Bellen war kraftvoll und knackig, aber nur kurz. Die junge Frau Moret hatte den Hund so erzogen, dass er immer nur einmal bellte. Er schlug an und fertig. Die Regel, die sie ihm beigebracht hatte, lautete: wenn draussen jemand ist, einmal bellen und dann sofort verstummen. Für jedes einmalige Bellen bekam er ein Läckerli. Der jungen Frau Moret war sehr daran gelegen, dass sich die Mieter nicht nervten. Das Bellen sollte keine Belästigung sein. Einmal bellen genügte. Das klappte soweit wunderbar, wobei der Hund eben sehr intelligent war und manchmal auch bellte, wenn niemand an der Wohnungstür vorüberging. 

 

Nach ungefähr zwei Jahren - ich war noch in der Lehre - erhielt ich die Kündigung. Ich war nicht der Einzige, der damit beglückt wurde. In jedem Fächli lag eine gelbweisse Abholeinladung. In einem eingeschriebenen Brief, den ich zweimal durchlesen musste, bis ich endlich kapierte, dass es eine Kündigung war, teilte Frau Moret allen Mietpersonen mit, dass sie vorhabe, das Haus an eine Stiftung zu verkaufen. Es sollte zu einem Behindertenheim umgebaut werden. Das war es also gewesen, mein erstes eigenes Zuhause! Schade drum. Ich hatte keine Lust, mir einen neue Wohnung zu suchen. Ich ging zu den Eltern zurück und bezog wieder mein Kinderzimmer, wo ich bis auf weiteres bleiben wollte. 

 

2022