Über das Gendern

 

Das Gendersternchen ist für mich keine Bedrohung, und dass ich seine Erfindung nicht unbedingt für eine Sternstunde der Menschheit halte, könnte ich als persönliche Animosität verbuchen. Ich tue es aber nicht, weil ich weiss, dass es da nicht nur um die Sprache geht. Was mich am Gendern nervt, ist die Unwahrheit dahinter. Ginge es nur um die Sprache, mein Gott, man könnte das Gendern ja zulassen. In der Sprache ist vieles eine Ermessensfrage. Man könnte generös sein. Die Sprache ist robust. Sie hält das aus. Irgendwann hat sich das ausgetobt, und dann kehren wir reumütig zum generischen Maskulinum zurück. Zu einer gesunden sprachlichen Pragmatik. Aber so einfach ist es nicht. Wer die Sprache nach Gender-Vorgaben reguliert, tut das nicht aus dem hohlen Bauch heraus. Solche Leute haben eine ausgereifte Ideologie im Rücken, und diese Ideologie gilt es beim Wort zu nehmen. Im Gender Mainstreaming wird eine Grundbehauptung aufgestellt, die äusserst problematisch ist und nicht so ohne weiteres akzeptiert werden kann. Sie enthält einen gravierenden Denkfehler. Die Unterscheidung zwischen sexus (biologisches Geschlecht) und gender (sozial konstruiertes Geschlecht) ist eine künstliche, eine gewollte. Sie ist genauso konstruiert wie das soziale Geschlecht, das sie beflissen in den Vordergrund stellt, um die Biologie zu marginalisieren. Diese Trennung ist eine rein diskursive, eine total willkürliche. Als ob der Geist nicht auch zur Natur gehörte! Als ob das Soziale nicht auch eine Naturkomponente wäre! Als ob unser Gehirn mitsamt seiner geistigen Kapazität nicht auch ein Stück Biologie wäre, ein komplexes Ergebnis der Evolution! Als ob die Willensfreiheit unter Neurologen nicht hochgradig umstritten wäre! Als ob unsere Psyche nicht vom Überlebens- und Selbsterhaltungstrieb dominiert würde! Als ob der Mensch kein Tier wäre, das Nahrung ausscheidet und sich fortpflanzt, sondern ein Halbgott oder Avatar, der mittels Zaubersprüchen in seine Natur eingreifen kann! Der Denkfehler springt einem förmlich ins Gesicht. Ist ja schön und gut, dass wir zwei verschiedene Sexualitäten haben. Aber von welchem Standpunkt aus vollzieht man die Trennung? Wo handelt man die Kriterien aus, mit denen man sexus und gender auseinanderdröselt? Ja eben: im diskursiven Wolkenkuckucksheim. Wissenschaftlich ist diese Unterscheidung nicht haltbar. Gender Studies sind keine Wissenschaft. Sie haben keine empirische Grundlage. Sie sind eher eine Art von Glauben. Der Begriff "Ideologie" bringt es exakt auf den Punkt.

Wer gendert, geht davon aus, dass der Mensch sich selber definiert, über die Sprache, den Diskurs, die subjektive Aussage, die Selbstzuschreibung. Dass seine Wahrheit also diejenige ist, die er sich wunschgemäss auf den Leib schneidert. Dagegen lässt sich einiges einwenden. Was wir sind, ist nicht immer deckungsgleich mit dem, was wir sein sollen oder sein wollen. In der Einschätzung dessen, was der Mensch ist, gibt es so etwas wie wissenschaftliche Objektivität, eine empirische Sichtweise, die auf Erfahrung und Beobachtung beruht - und nicht auf den Projektionen eines Wunschdenkens. Sie sagt uns, was den Menschen ausmacht. Oder was das Geschlecht ist. Was die Kategorien "Mann" und "Frau" zu bedeuten haben etc. etc. Wer gendert, setzt sich über all das hinweg, relativiert jeden Anspruch auf Objektivität und versucht das Unerwünschte als Sehfehler wegzukorrigieren. Dabei geht es meistens um die Biologie. Sie ist das Unerwünschte schlechthin. "Ich bin nonbinär. Ich bin weder Mann noch Frau oder von beidem ein bisschen." Solche Aussagen sind Blödsinn. Vor allem da sie nichts mit Intersexualität zu tun haben, die eine biologische Tatsache ist. Im Gender-Diskurs wirft man das jedoch fröhlich durcheinander, um die Grenzen aufzuweichen, um das Männliche und Weibliche diskursiv zu entschärfen und den biologischen Hintergrund dieser Kategorien kleinzureden. Als ob das jemals gelingen könnte! Wenn man die menschliche Natur als diskursgesteuert zu beschreiben versucht, erzeugt man einen blinden Fleck, der kaum zu übersehen ist. Eigentlich ist mir erst durch das Gendern so richtig bewusst geworden, wie weitreichend die biologischen Einflüsse sind, die unser Leben bestimmen. Bis in alle kulturellen Verästelungen und Modifikationen hinein sind wir Affen, die sich wie Affen verhalten. Unsere tierischen Anlagen sind aufs Engste mit der Kultur verwoben. Die Verhaltensbiologie macht keinen Hehl daraus, dass wir unsern nächsten Verwandten im Tierreich verblüffend ähnlich sind. Dass Schimpansen, Bonobos und Gorillas keine Liebesbriefe schreiben und nicht Tango tanzen, ist kein Gegenbeweis. Der Unterschied liegt in der Modifikationsfähigkeit. Aufgrund seines grossen und extrem formbaren Gehirns besitzt der Mensch die grössere und nuanciertere Verhaltenspalette. Was nicht heisst, dass diese nicht biologisch wäre. Wir sind aus Fleisch und Blut, zu 100% ein Bio-Produkt. Wir haben ein individuelles Verfallsdatum, und der Geist, auf den wir uns so viel einbilden, kann sich durch eine Migräne, eine Demenz, eine Kopfverletzung, eine Droge oder ein Medikament im Nu als das entpuppen, was er eigentlich ist: eine fragile körperliche Funktion.

Auf der anderen Seite ist es durchaus statthaft, der menschlichen Spezies ein paar Spielräume zuzugestehen, über die kein Tier verfügt. Man redet in diesem Zusammenhang gerne von "Modifikation" oder "Plastizität". Eine Modifikation kann diese oder jene Form annehmen, je nach Zeitalter, Ort und Kultur äussert sich zum Beispiel die Sexualität ganz unterschiedlich. In Argentinien tanzt man Tango, in Finnland besucht man die gemischte Sauna, in Indien hängt man sich gegenseitig Blütenketten um den Hals, in Japan fragt man einander nach dem Vornamen, in Italien singt man Arien, in Deutschland dekoriert man den Schrebergarten mit Schneewittchen und den sieben Zwergen, in England trägt man einen komischen Hut, in Frankreich stöhnt man "Je t'aime, moi non plus", und in der Schweiz zeigt man sein Briefmarkenalbum. Und auch die Unterschiede zwischen Männern und Frauen können beträchtlich variieren. Das hat aber nur sehr bedingt mit unterschiedlichen kulturellen Ausformungen zu tun. Schon von Natur aus sind die Geschlechter nicht ganz so festgelegt wie die Symbolfiguren auf den Toilettentüren. Bei der Weitergabe des Genmaterials strebt die Natur nach einem Optimum an Kombinationsmöglichkeiten, weshalb es nicht den richtigen Mann oder die richtige Frau gibt. Es gibt höchstens den richtigen Mann für die richtige Frau. Oder umgekehrt. Und natürlich gibt es Eigenschaften, die für die Fortpflanzung präferiert werden, zum Beispiel eine hohe soziale Stellung bei Männern und gesunde körperliche Rundungen bei Frauen. Aber auch das muss man immer ein bisschen relativieren. Wie auch die Monogamie. Beim Menschen ist das meistens nur eine vorübergehende Sache, eine Sache, die immerfort ein bisschen wackelt, weshalb man die Institution der Ehe erfunden hat, eine Art Staudamm im Naturgeschehen. Raben sind wesentlich monogamer. Aber was ist der Mensch nun genau? Worin ähnelt er seinen Verwandten aus dem Tierreich? Naturwissenschaftler haben eine interessante Parallele festgestellt. Von seinen sexuellen Anlagen her und tatsächlich von Natur aus scheint der Mensch eine Mischung aus Bonobo (alle mit allen) und Gorilla (Alpha-Männchen mit Harem) zu sein. Manche neigen eher dem Bonobo zu, andere dem Gorilla, und dann gibt es noch solche, die in der Paarbeziehung eine prekäre Mittelposition suchen. Die Bandbreite der menschlichen Sexualität ist auf jeden Fall riesig. Ist die biologische Betrachtungsweise reduktionistisch? Spricht sie uns die Vielseitigkeit ab? Nein, nicht die Spur.

Unsere Affenähnlichkeit sollte natürlich kein Freibrief sein. So nach dem Motto: "Ich kann nichts dafür, dass ich mich daneben benehme, es ist halt meine Natur." Einen freien Willen haben wir trotzdem. Wir sind fähig, uns vom Äffischen (auf die Brust trommeln, komische Laute ausstossen, Fäuste schwingen etc.) zu distanzieren, meistens jedenfalls. Das macht uns Menschen aus. Es ist aber auch das, woran wir so gerne scheitern. Wir wären gerne Übertiere, und je anmassender wir das sein wollen, desto eher holt uns der Schatten ein, die tierische Natur, das Instinkthafte, das man kennen und respektieren muss, um es in Schach halten zu können. Unsere Affenähnlichkeit ist mehr als offensichtlich. Und sie betrifft nicht nur die Sexualität. Mit den Schimpansen, die sich bandenmässig organisieren und Kriege gegen die eigene Art führen, verbindet uns zum Beispiel das Aggressionspotential. Es ist ein Märchen, dass nur der Mensch böse sein kann. Vielleicht ist er das einzige Lebewesen, dass ein Bewusstsein von Gut und Böse hat, aber er ist mit Sicherheit nicht das einzige Lebewesen, das bösartig sein kann. Das Böse liegt in der Natur. So wie auch das Gute und Schöne in der Natur liegt. Zum Beispiel der Humor. Schimpansen sind äusserst kitzlig. Sie können wunderbar grinsen und lachen. Wir sind also recht bunt zusammengesetzt. Kein Wunder, geht es da manchmal etwas widersprüchlich zu.

Eine festgefügte Norm (ohne Variationsmöglichkeiten) gibt es in der Natur ohnehin nicht, und erst recht nicht beim Menschen, der seine Triebe und Instinkte codieren, sublimieren, unterdrücken oder kanalisieren kann, eine Fähigkeit, die die ganze Kultur vielfältig durchwirkt, und es widerspricht der Biologie keineswegs, wenn man sich Gedanken über Geschlechterrollen macht, und man soll und darf diese auch hinterfragen. Das Problem ist nur, dass man die Biologie damit nicht wegbekommt. Sie lässt sich weder abspalten noch als Nebensache behandeln. Man kann die Geschlechterrollen zwar umschreiben oder umbesetzen, aber den Plot für das Ganze schreibt eben doch die Natur. Und die will sich fortpflanzen und anpassungsfähig bleiben. Damit reproduziert sie äussere Merkmale und verhaltensbiologische Tendenzen, die evolutionär bedingt sind. Mit dieser Erkenntnis tun sich viele Menschen schwer. Sie mögen es überhaupt nicht, wenn man sie mit Schimpansen vergleicht. Sie haben es lieber, wenn man sie als souveräne Lebensgestalter anspricht. Nur zu gerne reden sie sich ein, die Biologie sei etwas Reduktionistisches, sie beschränkte sich auf Peinlichkeiten wie Schweissfüsse, Laktoseintoleranz und Menstruation, und die Kultur sei quasi vom Körperlichen abgelöst und könne frei über die Sexualität verfügen, sie nach bestimmten Idealvorstellungen umformen oder umbauen. Doch da macht man die Rechnung ohne die Naturwissenschaft. Sie sagt uns, dass wir nicht von der Biologie loskommen, dass wir uns zwar mit Hilfe der Technik (Medizin, Chirurgie, Pharmazie, Genetik etc.) optimieren können, aber trotzdem für immer ein Stück Natur bleiben, das Naturgesetzen gehorcht. Oder anders gesagt: wir sind Marionetten, die sich für Marionettenspieler halten. Indem uns die Naturwissenschaft auf unsere natürliche Beschaffenheit verweist, den blinden und überpersönlichen Mechanismus des Lebens und der Evolution, lässt sie uns mit unsern Sinnfragen im Regen stehen. Und das betrifft nicht nur die Sexualität, die Naturwissenschaft kann generell keine Sinnfragen beantworten. Indem sie den Urknall oder die Gesetze der Schwerkraft erklärt, verleiht sie der individuellen Existenz noch keinen Sinn. Hier kommt dann eben die Phantasie ins Spiel, das menschliche Bedürfnis, den Sinn zu erklären. Oder mehr noch: ihn zu erschaffen. Von daher die Parallelen zwischen Gender und Religion. Wer für das Gendern ist, folgt einem Glaubenssatz. Wer gegen das Gendern ist, folgt der objektiven Tatsachenbeschreibung von Wissenschaft.

Man kann einen Mittelweg wählen. Ich versuche es. Ich bin nicht gegen das Gendern, aber ich mahne die Gender-Befürworter*innen zur Vorsicht. Glaubensfragen können gefährlich werden, wenn sie ins Doktrinäre kippen und zu einem Instrument werden, mit dem man die Vernunft bekämpft. Mir ist es lieber, ein vernünftiger Affe zu sein, der an seine Affen-Natur gebunden ist, als ein unvernünftiges Übertier, das sich einbildet, die Natur sei ein Wunschkonzert unserer Selbstdefinitionen. Das ist sie nicht. Sie ist älter als wir. Sehr viel älter. Und wir sind nur eines ihrer unzähligen Produkte.

 

2023