Der Vater

Der Kiesweg unterhalb unseres Gartens war ein nützlicher und trotzdem selten benutzter Durchgang. Ein kurzes Stück weiter oben, vor dem Anwesen der Bürgins, endete der Weg sang- und klanglos in einem Gestrüpp. Auf dem Grundstück davor befand sich unser Haus mit den Nummern 6a und 6b. Wir wohnten in der östlichen Hälfte des Doppelhauses, in der Nummer 6b. Die Vorderseite - mit Briefkasten, Hausnummer, Haustür und Velohäuschen - schaute auf unsere Wohnstrasse hinaus, das Baumgärtli. Unten gab es nur diesen kleinen Kiesweg, der von der Langmattstrasse her zu uns hochstieg. Die beiden Parzellen 6a und 6b, wie auch alle andere Gärten im neueren Teil des Baumgärtlis, stiessen an diesen halbprivaten Weg, der den jeweiligen Grundstücken einverleibt war, seine Eigentümer waren die Anwohner. Grundbuchamtlich war das geregelt, und trotzdem war es ein Weg und musste ein Weg bleiben, ein offener Durchgang, damit die Bahnarbeiter die Böschung roden konnten. Hier, direkt über dem Abhang der Bahnlinie Olten-Basel, wo die Züge im Fünfminutentakt vorüberrauschten, erhob sich unser Komposthaufen, gekrönt von Salatblättern, Kaffeesatz und Eierschalen, und gleich daneben parkierte Vater gelegentlich den Wagen, einen knarzenden Kleinwagen der Marke Fiat, den wir fast ausschliesslich für die Sonntagsbesuche bei der Grossmutter in Basel gebrauchten. Normalerweise stand er in einer angemieteten Garage. Der Kiesweg war eigentlich kein Parkplatz, diente aber hin und wieder als Zufahrt. Man konnte das Haus auch von dieser Seite her betreten. Hier stieg man, indem man ein kleines Gatter aufdrückte, in die Hangschräge unseres Gartens hinein. Eine notdürftig angelegte Treppe aus ungleich gehauenen Steinquadern führte zum Rasen empor, wie auch zum Sitzplatz und zum unteren Hauseingang, wo sich das Spielhäuschen mit dem Westernsaloon-Schild und das Wikingerschiff befanden. Unser Spielhäuschen war vermutlich das weltweit einzige Kinderspielhäuschen, das über einen Tresen mit Whiskyausschank verfügte. Als Schankwirte hatten wir automatisch eine Ausschankgenehmigung. Dank der abschliessbaren Durchreiche konnten wir das Häuschen auch als Kiosk oder Laden gebrauchen. Und im Wikingerschiff konnten wir ein "echtes", rotweiss gestreiftes Wikingersegel hissen. Die beiden Holzkonstruktionen verdankten wir Vaters Heimwerkertalent. Solche Sachen zu machen, sie im Handumdrehen enstehen zu lassen, an einem einzigen Nachmittag oder Abend, mit ein bisschen Sägen, Leimen und Hämmern im kleinen Keller, das lag ihm, da war er ganz in seinem Element. Meine Schwester und ich hatten einen Vater, der alles Mögliche und Unmögliche herbeizaubern konnte. Zum Beispiel eine Weltraumkapsel in Originalgrösse, mit einem blinkenden Armaturenbrett, oft aber auch kleinere Sachen, etwa einen Bauernhof aus Holz oder eine Ritterburg aus Papier, Spielplätze für unsere Playmobil-Figuren. Immer fiel ihm etwas ein. Immer kam er mit etwas Neuem und Überraschendem um die Ecke. Er war ein unermüdlicher Bastler, ein Spieler und Spielzeuglieferant, ein Phantasiemensch durch und durch. 

Wenn er mit Kittel und Krawatte und seinem schwarzen Aktenköfferchen zur Arbeit ging, sah man ihm das kaum an. Nichts deutete auf einen besonderen Einfallsreichtum. So wie er werktags daherkam, hätte er auch bei der Steuerverwaltung arbeiten können. Die seriöse Aufmachung war für den Ausseneinsatz bestimmt, die Berufswelt. Mit dem Zug fuhr er nach Basel, immer erster Klasse, "finanziert vom Geschäft", wie er sagte. In Basel ging er dann zu Fuss durch die Innerstadt, über die Mittlere Brücke und in sein Grossraumbüro, in dem er zwar nicht der oberste Chef war, aber doch eine wichtige Position innehatte. Das Grossraumbüro befand sich im dritten Stock eines unscheinbaren Gebäudes, mitten im Gässchengewirr der Altstadt. Mit dem Lift kam man auf einen hell beleuchteten Flur mit zahllosen grauen Türen links und rechts. Man sah gleich, dass dies ein Bürogebäude war. In einer Nische neben dem Lift hingen ein Feuerlöscher und eine Metallplatte mit der Brandschutzverordnung, die Bodenläufer waren porentief gereinigt, die Türen mit Messingschildchen beschriftet, und irgendwo stand ein Gummibaum in einem Topf voller Granulatkügelchen. Alles roch nach Kunstfasern, Papier und der ozonhaltigen Abluft von Fotokopierapparaten. Bevor Vater sein Grossraumbüro betrat, grüsste er diesen oder jenen Kollegen, der ihm auf dem Flur entgegenkam. Man scherzte, der Umgangston war locker. Aufgrund seiner Position - er war eine Art Unterchef - hatte er ein eigenes Abteil mit Sichtfenster, ein Büro im Büro. Von hier aus übersah er die Abteilung, in der er Chef war, sein "Ressort", wie er das nannte. Halb verborgen hinter Stellwänden arbeiteten die fünf bis sechs Angestellten seines Teams, einer hiess Buser, ein anderer Männel, auch eine Dame war dabei. Manchmal gingen sie umher und unterhielten sich halblaut miteinander. Oder sie telefonierten, wobei sie häufig Französisch sprachen. Die meiste Zeit sassen sie vor Bildschirmen mit grün blinkenden Ziffern, und aus einem wandhohen IBM-Drucker, einem ruckelnden und stotternden Nadeldrucker, lief die ganze Zeit eine perforierte Papierschlange auf den Boden und wuchs dort zu einem Wust an, den man regelmässig abreissen und zusammenfalten musste. Das vom Druckvorgang noch warme Papier hatte Abreissstellen und winzige Ziffern auf grünen und weissen Linien. Diese Ziffern - das war letztlich der Zweck des Ausdrucks, des ganzen Papierverbrauchs - musste man gewissenhaft nachkontrollieren und mit einem Kugelschreiber abhaken. Eine Lehrlingsaufgabe. Zweimal absolvierte ich eine Schnupper- oder Praktikumswoche in Vaters Büro, und jedes Mal war es meine Aufgabe, ein mindestens dreihundert Meter langes Papierband von oben bis unten zu überprüfen, indem ich die Ziffern mit den Angaben aus irgendwelchen Ordnern verglich. Zur Abwechslung durfte ich auch mal etwas fotokopieren, meistens dann, wenn eine Unstimmigkeit auftauchte, eine Abweichung oder Irregularität, die Vater genauer anschauen musste. So verbrachte ich Tage zwischen zusammengefalteten Papierschlangen und Bergen von Ordnern, und obwohl ich den ganzen Papierkram, den Fotokopiergeruch und das akribische Vor-mich-hin-Arbeiten mochte, hatte ich nicht die geringste Ahnung, was die Zahlen zu bedeuten hatten, die der IBM-Drucker so stur ausspie, endlos, wie es schien. Vaters Erklärungen überstiegen meinen Verstand. 

Vaters Chef, der Herr Dossenbach, hatte sein Büro am Ende des Flurs, neben dem Fotokopierraum, und es war ein Büro mit Privatsphäre, mit einer Sitzgelegenheit für Gäste, einem Wohnzimmerbüffet, einem handgeknüpften Wandteppich, einem Gummizwerg auf dem Schreibtisch und einem dickwulstigen Ledersessel, dem Chefsessel, der einem gestrandeten Schlauchboot ähnelte. Obwohl er ständig Leute empfing, war Herr Dossenbach bei weitem nicht der oberste Chef, ja, nicht einmal der zweit- oder drittoberste. Über ihm türmte sich eine ganze Führungsetage auf, aus deren Perspektive er nur ein kleiner Untergebener war, der Oberabteilungsleiter der zweituntersten Charge oder so etwas. Den obersten Chef, der Maus hiess, bekam fast niemand zu Gesicht. Für den Jahresabschlussbericht verfasste er jeweils das Geleitwort, und man kannte seine schwungvolle Unterschrift, weil sie unter dem Geleitwort und auf vielen Firmenpapieren erschien. Wenn Vater von seinem Chef sprach, meinte er jedoch nicht den Herrn Maus, sondern immer nur seinen direkten Vogesetzten, den Herrn Dossenbach. Ihn kannte ich persönlich. Besuchte ich Vater im Büro, machten wir stets einen Abstecher zu Herrn Dossenbach, damit er mich im Namen der Abteilung und der ganzen Firma begrüssen konnte. "Ah, der Herr Sohnemann!" rief er, wenn wir nach einem kurzen Klopfen bei ihm eintraten. Sogleich erhob er sich, reichte mir über den Schreibtisch hinweg seine Riesenpranke und erklärte scherzhaft, jetzt könne Vater ja wohl in Pension gehen, man habe einen qualifizierten Nachfolger gefunden. Herr Dossenbach war von mächtiger Statur, er hatte eine Halbglatze und eine dicke Max-Frisch-Brille, und wenn er mir die Hand drückte, tat es weh. 

Mit ihm hatte Vater regen Kontakt, nicht nur im Geschäft, wie Vater das Büro nannte, sondern auch im Privatleben, wo die beiden Männer einer gemeinsamen Verrücktheit frönten. Ausser bei ganz seltenen Firmenanlässen konnten sie diese Verrücktheit nur privat ausleben, unter Wahrung einer gewissen verschwörerischen Diskretion. Dazu gehörte zum Beispiel, dass sie sich bewusst siezten, um nicht den Eindruck einer regelwidrigen Kumpanei zu erwecken. Beide spielten elektronische Heimorgel: Vater eine Yamaha, Herr Dossenbach eine Hammond. Beide waren orgel- und jazzverrückt, wie man es eben war, wenn man mit dem Nachkriegssound der Amerikaner aufgewachsen war, mit Swing und Cooljazz und den legendären echten Alligatoren im Basler Atlantis. Die elektronische Orgel und vor allem die Hammondorgel stand für authentischen Jazz, war aber schon längst ein Universalinstrument für Hinz und Kunz. Wer eine Heimorgel besass, spielte darauf in der Regel ein buntes Medley aus Hits, Klassik und Evergreens, viel Jazz natürlich, aber auch alles Sonstige, von Bach bis Freddy Quinn, von Vivaldi bis Bert Kaempfert. Das tat auch Vater, während Herr Dossenbach immer nur Jazz spielte, weil es für ihn nichts anderes gab, nichts anderes versetzte ihn in die richtige Stimmung, die richtige Schwingung. Vater war nicht ganz so einseitig, aber auch bei ihm nahm der Jazz eine herausragende Stellung ein. Gelegentlich trafen sich die beiden Orgel- und Jazzverrückten mit anderen Orgel- und Jazzverrückten in einem Orgelkeller, wo man sich gegenseitig vorspielte und über die Spielweise von Klaus Wunderlich, Franz Lambert, Jimmy Smith, Wild Bill Davis und anderer Orgelvirtuosen mit der Begeisterung eingeschworener Heimorgel-Adepten fachsimpelte. Die Orgelvirtuosen waren Idole, denen man nacheiferte, an deren Virtuosentum man sich ein Beispiel nahm. Man ging an ihre Konzerte und ahmte ihre Spieltechnik nach, deren Beherrschung einen in die Lage versetzte, mit dem richtigen Groove zu spielen. Der richtige Groove war das, was man aus der Orgel herauskitzeln, aus ihr herausholen musste, um ein guter Orgelspieler zu sein. Ein Orgelspieler wie Herr Dossenbach, der auf der Hammond mit dem richtigen Groove zu improvisieren vermochte, "immer dick drauflos", wie er sagte. Er spielte jazzig, und zwar auf die echte Weise, ohne Notenblätter, die den freien Spielfluss wahrscheinlich nur gestört hätten, und es war jedes Mal eine Offenbarung, ihn spielen zu hören. Seine Orgel schnarrte, fauchte, vibrierte und wummerte, wie wenn jeder Ton einem kochenden Gebräu, einer wabernden Gluthitze entweichen würde. Da war eine echte Intensität drin, eine Orgel- und Jazzverrücktheit, die sich mit bewundernswerter Könnerschaft paarte. Unter den wieselflink dahineilenden dicklichen Fingern schien die Orgel zu rauchen wie ein Ofen. Jazz war das höchste der Gefühle, Jazz setzte Endorphine frei. Jazz war eine Lokomotive, die von Herrn Dossenbach leidenschaftlich angeheizt wurde und die uns, die normalbegabten Orgelspieler, kraftvoll mitzog. Ich selbst spielte auch Orgel. Seit ich neun war, nahm ich Unterricht, nicht an der Schule, sondern privat: jeden Mittwoch fuhr ich nach Sissach ins Musikgeschäft Bürgin, um mich von Frau Bürgin und später von ihrem Mann an der doppelten Tastatur einer Yamaha-Orgel unterweisen zu lassen, und an den Treffen der Orgel- und Jazzverrückten war ich selbstverständlich dabei und gab mein Bestes. Die Orgel- und Jazzverrücktheit, die dort gepflegt wurde, konnte ich gut nachvollziehen. Ich war ja auch ein bisschen davon angesteckt. Wenn Vater und sein Chef im Büro oder ausserhalb des Büros miteinander sprachen, ging es nie um die Arbeit. Sobald sie miteinander sprachen, wurde die Arbeit nebensächlich, und das Gespräch drehte sich fast nur noch um das Orgelspielen und den Jazz. Erwähnte Vater uns gegenüber Herrn Dossenbach und die Gespräche mit ihm, so erfuhren wir nichts über die Arbeit, aber alles über Herrn Dossenbachs Orgel- und Jazzverrücktheit, die mit Vaters Orgel- und Jazzverrücktheit ausgezeichnet harmonierte. 

Ansonsten wusste ich recht wenig über seinen Beruf. Was schon damit anfing, dass ich diesen Beruf unmöglich hätte benennen können. Als mich der Zahnarzt einmal fragte, was mein Vater denn so mache, sagte ich: "Alles Mögliche". Daraufhin präzisierte der Zahnarzt seine Frage: was mein Vater beruflich mache? Ich wusste die Antwort nicht. Der Zahnarzt liess nicht locker. Ob ich denn nicht wisse, was mein Vater mache? Was sein Beruf sei? Ich begann zu überlegen. Was war mein Vater von Beruf? Gute Frage. Ich hatte mir das noch nie so genau überlegt. Und als ich sah, wie der Zahnarzt die Stirn runzelte, sagte ich schnell: "Meine Mutter weiss es auch nicht." Und als der Zahnarzt fast schon resigniert weiterfragte, ob ich denn wenigstens wisse, wo mein Vater hingehe, wenn er zur Arbeit gehe, sagte ich wahrheitsgemäss: "Ins Büro." 

Sprach Vater im vertrauten Umgang mit Freunden und Verwandten über seinen Beruf, sagte er gerne, er sei "Bürolist". Diese Selbstbezeichnung war scherzhaft gemeint, selbstironisch, man konnte sie unmöglich in ein seriöses Gespräch einflechten. Unter dem Strich war ein Bürolist eine lächerliche Figur, eine Loriot-Figur mit Knollennase. Unmöglich konnte ich sagen, mein Vater sei Bürolist. Ich wollte nicht, dass man ihn für eine Witz- oder Cartoonfigur hielt. Im übrigen war das Berufliche so ziemlich das Unwichtigste an ihm. Wenn er nicht im Büro war, ging er seinen Hobbys nach. Und die waren so breit gefächert, so überpräsent, dass sie den Beruf quasi überlagerten. Neben der Heimorgel spielte er auch noch Handorgel, Mundharmonika, Schwyzerörgeli, Klarinette und Saxofon. Das Musizieren hatte er sich selber beigebracht. Er war der geborene Autodidakt, spielte jedoch nicht wie die von ihm bewunderten Jazzgiganten einfach so aus dem Bauch heraus, mit zwei Whiskys intus und nach Gehör, sondern äusserst genau nach Noten. Er war kein Improvisator, auch das Notenlesen hatte er sich sorgfältig beigebracht. Als Jugendlicher hatte er in einer Tanzcombo gespielt. Damit hatte er sich seine ersten Sporen als Musiker verdient - und auch sein erstes Geld. Erst relativ spät, als er schon auf die Sechzig zuging und damit begann, seine frühzeitige Pensionierung einzufädeln, trat er in den Musikverein Gelterkinden ein. Als berufstätiger Familienvater musizierte er am liebsten in der Wohnstube. Und da kam ihm die Heimorgel gerade recht. Sie war das ideale Einmann-Orchester. Hier konnte er alle Register ziehen und trotzdem in der gemütlichen Stube bleiben. Hier konnte er sich entspannen und trotzdem etwas tun, bei dem das Hirn noch dabei war. Und wenn er mal danebengriff, eine falsche Taste oder ein falsches Pedal erwischte, war das halb so wild. Er dudelte unbeschwert vor sich hin, unterhielt sich selbst als Alleinunterhalter. Im Unterschied zum Filmen war das nichts, womit er gross herauskommen musste. 

Die Filmerei betrieb er als Präsident eines Amateur-Filmclubs, ein Amt, das er von seinem Onkel übernommen hatte, dem Götti Migger aus Rheinfelden. Vater erwies sich als würdiger Nachfolger. Mit ihm kam etwas Unkonventionelles in den Filmclub. Mit seinen witzigen Super8-Filmchen (ursprünglich noch Normal8-Filmchen) vollbrachte er charmante Amateurfilmkunststücke. Neben ganz normalen Familienfilmchen, die im privatesten Umkreis Erinnerungen an Ferien, Wanderungen, Ausflüge oder die Bescherung unterm Weihnachtsbaum festhielten, drehte er früh schon kleinere Spiel- und Slapstickfilme. Mit seinem Bruder Traugi beispielsweise. Oder mit Roland, seinem Sohn aus erster Ehe. Später vorzugsweise mit mir und meiner Schwester. Jedenfalls solange wir noch in einem Alter waren, in dem wir begeistert mitspielten - und es tatsächlich ein Spiel für uns war, ein Kinderspiel, das uns Spass machte. Das Kind, das sich am meisten dafür begeisterte, war zweifellos unser Vater. Er heimste Filmpreis über Filmpreis ein, zum Teil in seinem eigenen Filmclub, der das Schaffen seiner Mitglieder alljährlich jurierte, mit Götti Migger als Oberjuror, Wettkampf-Moderator, Preisverleihungsredner und Filmkritiker, aber auch an überregionalen und nationalen Wettbewerben. Der Wettstreit war für Vater ein wichtiger Ansporn, das Sehen und Gesehenwerden hielt ihn auf Trab. Das Publikum hat immer Recht, pflegte er zu sagen. Genausogut hätte er sagen können: die Jury hat immer Recht. Auf fachliche Expertisen legte er den allergrössten Wert, Prämierungsrituale mit Lob und Kritik gingen ihm runter wie Honig. Er liebte es, der Beste oder wenigstens Zweitbeste zu sein. Die jeweilige Platzierung mit der entsprechenden Benotung und Jury-Begründung trieb ihn dazu an, es beim nächsten Mal mindestens so gut oder noch besser zu machen. Er wollte sich ständig selber übertreffen und der Klassenbeste sein, und so häuften sich die Zinnbecher, Zinnpokale und Messingplaketten auf dem Tablar neben seinem Schneidetisch. Unter seinen Amateurfilm-Kollegen galt er als Unterhaltungsspezialist. Er brachte die Leute zum Lachen. Das war seine Spezialität. Er wusste genau, worauf es hier ankam: den Gag, den witzigen Einfall. Im Fernsehen schauten wir oft die klassischen Slapstickkomödien von Laurel und Hardy, Buster Keaton, Harold Lloyd, Charlie Chaplin, den Marx Brothers und all den andern, die durch die verquere Slapstickwelt stolperten oder sich pfiffig gegen sie behaupteten, die sich Tortenschlachten lieferten, Klaviere zügelten, durch Drehtüren flogen, an Uhrzeigern hingen, Schuhsohlen verspeisten, Stuben demolierten, aus fahrenden Autos purzelten oder mit nichts als einem Gesichtsausdruck Komik erzeugten, und Vater erklärte uns, wie und weshalb das funktionierte. Was das für Tricks und Methoden waren, mit denen die Slapstick-Helden die Schwerkraft aufhoben und jeden erdenklichen Unsinn anstellten. Besonders angetan war er von Buster Keaton, seiner Akrobatik, seinen Stunts, seiner unerschütterlichen Art, von einem Beinahe-Crash zum nächsten zu stolpern. Wobei Buster Keaton auch die Kunst des Weglassens beherrschte, den komödiantischen Minimalismus. Da konnte man sich schon den einen oder anderen Kniff abschauen, und man griff dabei auch nicht zu hoch: die meisten Slapstick-Nummern waren inhaltlich sehr simpel gestrickt. Drehte man einen Slapstick, war die Frage des Filmfachmanns immer ungefähr dieselbe: was passiert, wenn ein Trottel auf eine Bananenschale trifft? Man konnte es machen wie Charlie Chaplin und auf der Bananenschale in ein heftiges Straucheln geraten. Oder man konnte es machen wie Harold Lloyd und auf der Bananenschale einen doppelten Salto vollführen, mit dem verblüffenden Ergebnis, dass man sicher auf den Füssen landete. Oder man konnte es machen wie Buster Keaton und mit gleichgültigem Gesicht haarscharf an der Bananenschale vorübergehen. Da wurde keine komplizierte Geschichte erzählt. Im Grunde brauchte es nur eine Bananenschale und jemanden, der beinahe (!) darauf ausrutschte, wennmöglich mit einem Buster Keaton-Gesicht, und schon hatte man alles beisammen, was es für einen guten Slapstick, respektive eine gute Abendunterhaltung brauchte.

Bei uns zuhause war jede Filmvorführung ein mit Spannung erwartetes Ereignis. Wie der erleuchtete Weihnachtsbaum war das etwas Feierliches und Herausgehobenes, etwas, das einer gewissen Vorbereitung bedurfte und nur unter ganz bestimmten Bedingungen funktionierte. Es musste Abend sein, und es war von Vorteil, wenn die Filmvorführung ein Publikum hatte, wenn also Besucher bei uns waren, die allesamt darauf brannten, ein selber gemachtes Filmchen zu schauen, eine kleine Komödie aus Vaters Filmproduktion. Sobald es eingedunkelt hatte und man in der Stube das Licht anzünden musste, stellte er den Bauer-Projektor und die Leinwand auf, spannte die Filmrollen ein, zog die Filmspule durch, hakte sie in der zweiten Rolle ein, schaltete das Stubenlicht aus, der Projektor begann zu rattern, und auf der Leinwand erschien das magische Rechteck, das uns minutenlang festbannte. Zuerst kam immer der rote Kodak-Streifen mit den vorüberhuschenden Zahlen und Buchstaben, und aus den Lautsprechern erscholl die Filmmusik, Ragtime aus der Klamottenkiste oder das warme Vibrato einer Hammondorgel, und gleich darauf sah man den Filmtitel aus klobigen Setzbuchstaben und eine lustige Titelzeichnung. Und nicht selten bewegte sich die Figur auf der Zeichnung. Sie hampelte durchs Bild mit einer Schrifttafel, bewegte Kopf, Beine und Arme. Für den Film-Zauberer war es ein Leichtes, gezeichnete Figuren zum Leben zu erwecken. Vater, der ein guter Zeichner war, liebte Trickfilm-Animationen. 

Seine Filme fabrizierte er am Fliessband. Familien-, Slapstick- und Trickfilme wie auch Filme, die er im Rahmen irgendwelcher Filmclubprojekte realisierte. Dass er daneben noch Zeit fand für die Musik, war schon ziemlich erstaunlich. Noch erstaunlicher und fast nicht zu glauben war, dass er zusätzlich noch Zeit fand für tausend andere Dinge, für Dinge, bei denen wir uns manchmal fragten: "Was zum Kuckuck macht er da eigentlich?" Vater war pausenlos am Basteln, Reparieren und Ausprobieren. Kam irgendeine Elektronikneuheit auf den Markt, war er sofort dabei. Das Videospiel "Pong", mit dem wir etliche Sonntagnachmittage verbrachten, kaufte er gleich am Erstverkaufstag. Er bastelte an einem Transformator und an einem Synthesizer herum, schloss ein Oszilloskop an die Orgel an, um die Schallwellen sichtbar zu machen, und liess irgendein ferngesteuertes Fluggerät (Marke Eigenbau) vom Stapel, um damit die Katzen zu erschrecken. Man fragte sich, wie er das alles auf die Reihe bekam. Die Antwort ist einfach. Er war perfekt organisiert. Alle Hilfsmittel oder Instrumente, mit denen er sich umgab, waren am richtigen Platz und in einem optimalen Zustand: Kabelrollen, Stecker, Kameras, Projektoren, Filmlampen, Filmrollen, Leimtöpfe, Handwerkszeug, Schnittgeräte, alles war optimal gewartet und wurde regelmässig generalüberholt. Das heisst: genauestens auf die Funktionstüchtigkeit überprüft. Jeder Handgriff war geplant und einstudiert, alles war bis ins Detail durchdacht und ausgeklügelt. Das fing schon bei den kleinsten Sachen an. Immer hatte er eine ordentliche Auswahl an Bleistiften, Farbstiften, Kugelschreibern und Leuchtstiften in Griffnähe. Am liebsten benutzte er Bleistifte mit auswechselbaren Minen, weil er sich gerne mit kleinen kniffligen Sachen beschäftigte. Und überhaupt mit Sachen, die er handhaben, mit denen er umgehen konnte, die sich in diesem oder jenem Anwendungsbereich als praktisch, brauchbar und hilfreich erwiesen und die er gerade deshalb so liebte, weil sie ein gewisses Geschick erforderten, Know-How kombiniert mit Fingerfertigkeit und Geduld. Mit Papierschneidmaschinen, Pinzetten, Pinseln, Dispersionsfarben, Lötlampen, Mehrfachsteckern, Klebepressen und Reinigungschemikalien hantierte er wie ein Koch mit dem Kochgeschirr, ein Zauberer mit den Zauberutensilien. Er arbeitete viel mit Tonbandkassetten - auch mit hochqualitativen Ferrochrom-Kassetten, auf die er besonders stolz war - und mit Reinigungskassetten, die er zum Reinigen der Tonköpfe gebrauchte, eine Sache, die ihm enorm wichtig war. Der Audiobereich war sein Steckenpferd. Er war eben nicht nur ein Augen-, sondern auch ein Ohrenmensch. Und vor allem war er jemand, der gerne Sammlungen anlegte. Er liebte es, Geräusche, Soundeffekte, Musikstücke, aber auch Bilder, Fotos, Dias und Filme, was auch immer, zu archivieren, zu etikettieren und mit Beschreibungen und Stichworten zu versehen, damit er jederzeit auf das gesammelte Material zurückgreifen, es optimal nutzen konnte. In seinem Soundarchiv gab es alles. Es gab zum Beispiel vier verschiedene Schreie: einen Aua-Schrei, einen Freudenschrei, einen Tarzan-Schrei und einen neutralen Schrei. Aus Kassettenrekordern baute er ein Tonstudio zusammen, ein raffiniertes Tapedeck, in dem alles mit allem verkabelt war, und es gefiel ihm, mit den unterschiedlichsten Mikrofonen zu experimentieren, die er zusammen mit Windschutzkappen und Membranen in Schubladen hortete. Alles war dort eingeräumt, wo es sein musste, war mit einem Dymo-Prägegerät säuberlich beschriftet und garantiert staubfrei. Mindestens einmal pro Woche wurde bei ihm alles geputzt, wurde der kleinste Gegenstand mit einem Lappen von mikroskopischen Verunreinigungen gesäubert. Und ständig war etwas "in Arbeit". Er werkelte, bastelte, vertonte, musizierte, filmte und zeichnete, liess verschiedene Projekte parallel laufen, ohne sich darin zu verheddern. Er pflegte ein Multitasking, wie man heute sagen würde, er fächerte sich auf und verknüpfte alles mit allem. Und immer mit System, immer derart durchorganisiert, dass selbst die Unordnung noch ein System hatte. Und ständig wurde bei ihm geräumt und umgeräumt, ständig wurde das System umgemodelt und angepasst. Ordnung zu schaffen, war für ihn nicht nur ein Mittel zum Zweck. Ordnung zu schaffen, zu halten und immer wieder herzustellen, war für ihn eine Frage der Lebensführung, eine Art Meditation. Die Ordnung, die er immerfort anstrebte, hatte nicht nur den Zweck, seine Hobbys zu unterstützen. Sie war durchaus Selbstzweck. Sie war selber ein Hobby. 

In diesem Punkt unterschied er sich stark von seinem Bruder, dem Zimmeranstreicher und Kunstmaler. Gab es mal einen Tag, an dem Onkel Traugi nicht in einen Farbkessel trat oder beim rückwärts Ausparken keinen Blechschaden anrichtete, so war das für ihn ein Glückstag. Er vermasselte immerzu alles und war trotzdem der Grösste. Er brachte es fertig, jedes Missgeschick in eine Heldentat zu verwandeln. Er trommelte sich auf die Brust, während er freimütig erzählte, was alles schiefgelaufen war, in welche Scheisse er sich wieder einmal geritten hatte, und die Leute amüsierten sich prächtig. In Basel gab es keine Beiz, wo man ihn nicht kannte, den grandiosen "Captain Joe". Immer vom Pech verfolgt, aber trotzdem ein Held. Wenn er etwas vermasselte, tat er das wenigstens mit einem ordentlichen Getöse. Einem Getöse, das unserm Vater fremd war. Vater war massvoll, ordnungsliebend, korrekt, höflich und diszipliniert. Alles andere als ein Haudegen. Alles andere als ein Angeber. Wie konnte es sein, dass die beiden miteinander verwandt waren? Schon rein äusserlich unterschied sich Onkel Traugi stark von unserm Vater. Mit seinem farbgefleckten T-Shirt und seiner Schiffermütze kam er wie ein abgetakelter Schiffskapitän daher. Sein breites Gesicht und seine Halbglatze mit dem wirr abstehenden Haarkranz hatten etwas Zirkusartiges. Tatsächlich hatte er einmal in einem Zirkus gearbeitet, als Beleuchter. Niemals hätte er einen Bürojob machen können. Er hatte lange in Südfrankreich gelebt und vieles von den Südfranzosen übernommen, das Ausschlafen, das Fluchen, das Weintrinken, das Rosétrinken, das Pastistrinken, das Trinken generell und vor allem auch das ständige Pausieren. Onkel Traugi, der mein Götti war und diese Rolle treulich erfüllte, obwohl er den Göttibatzen meistens versoff, war im Grund seines Herzens ein Künstler, und das Herz lag ihm allzu oft auf der Zunge. Bei Familienanlässen oder gelegentlichen Besuchen bei ihm zu Hause hörten wir Ausdrücke wie „Nundedie!", "Gopferglemmi!", "Merde!", "Ich piss mich voll!", "Scheiss die Wand an!", "Leck mich doch am Arsch!", "Ich verrecke!" etc. etc. Solche Ausdrücke hätte Vater niemals gebraucht. 

Mit Krawatte, Kittel, Bügelhemd und Bügelhosen ging er seinem Beruf nach. Nach Feierabend, wenn er den Krawattenknoten aufgenestelt und die Krawatte in den Krawattenhalter zu den zwei Dutzend anderen Krawatten gehängt hatte, war er gleich wie ausgewechselt. Er wurde der Hobby-Mensch, als den wir ihn kannten und der unablässig seinen Hobbys nachging. Manchmal musste Mutter ihn energisch daran erinnern, dass am Esstisch auch für ihn gedeckt war. Es konnte vorkommen, dass er gerade "etwas ob hatte", wie wir sagten, dass ihn etwas beschäftigte, das ihn nicht losliess, bei dem er dran bleiben musste. "Bin gleich soweit. Eine Sekunde noch!" Aus der Sekunde wurde eine Minute - und aus der Minute wurden fünf Minuten. Das Essen wurde kalt, und Vater blieb bis auf weiteres verschollen. Er hatte zu tun. Er war immer beschäftigt, und nirgends gab es für ihn weniger Freizeit als in der Freizeit. Er war eben für das Kreative zuständig. 

Daneben war er auch für die häuslichen Notfälle zuständig. Ein Notfall war alles, wofür es einen Vater brauchte, weil die Mutter nicht weiterwusste. Ein Notfall lag zum Beispiel vor, wenn in der Küche oder im Keller eine Neonröhre flackerte. Oder wenn der Gartentisch wackelte, weil sich eine Bodenplatte gelöst hatte. Da war Mutter sofort überfordert. Alles Handwerkliche oder Technische war für sie ein Unding. Nahm sie ein neu gekauftes Haushaltungsgerät in Betrieb, das mehr als einen Knopf hatte, begann sie mit sich zu hadern, weil sie nicht wusste, welchen Knopf sie drücken sollte. Und die Bedienungsanleitung machte alles nur noch schlimmer. Mutter war nicht unbedingt der Typ Mensch, der per Funkanleitung einen Jumbo Jet notlanden konnte. Wenn ein Gerät bei ihr nicht funktionierte, musste Vater immer zuerst schauen, ob es überhaupt eingesteckt war. Aber es gab auch die wirklich dramatischen Notfälle. Mit dem Staubsauger oder dem Rosshaar-Beseli holte er im unteren Stockwerk die Spinnen von den Wänden. Da mein Zimmer gleich neben dem Garteneingang und dem Keller lag, besuchten mich diese Tierchen ziemlich oft, vor allem bei einsetzendem Regenwetter. Für sie war mein Zimmer eine Höhle, in der sie Schutz suchten. Sehr zu meinem Leidwesen. Plötzlich war da eine Spinne an der Wand, fett und schwarz, mit langen Beinen, und mich befiel das Grausen. Dann rief ich nach Vater, und wenn es eine besonders grosse Spinne war, nahm er den Staubsauger und saugte sie ein, damit sie am Leben blieb. Den Staubsauger stellte er anschliessend nach draussen. "So kann sie rauskrabbeln und sich ein neues Zuhause suchen," sagte er. Und nicht lange danach tauchte die Spinne im Zimmer meiner Schwester auf, und Vater musste erneut mit dem Staubsauger anrücken. Im Garten zerschnitt er mit der Rosenschere die Maulwurfsgrillen, die wir Wärri nannten. Die Wärri galten als Schädlinge, weil sie unterirdisch alles anfrassen, deshalb kannte Vater kein Pardon und zerschnitt sie, ohne lange herumzufackeln. Manchmal versuchte er mit dem Gartenschlauch die Nester auszuspülen, was aber nicht besonders wirksam war. Vater sagte, mit Dynamit ginge das besser, aber Mutter wollte das nicht. Unter "Rasensprengen" verstand sie etwas anderes. Den Rasen mähte er mit einem Spindelmäher der Marke Wolf. Für die kleine Fläche brauchte es keinen Motormäher. Vater mähte den Rasen regelmässig, obwohl er unter Heuschnuppen litt und beim Mähen zuweilen fast nicht mehr aus den Augen sah. Trotzdem war das eine Vateraufgabe und keine Mutteraufgabe. Ein blinder Vater konnte das immer noch besser als eine sehende Mutter. Das klebrige Gras sprühte in einen blechgestützten Sack, den Vater über dem Komposthaufen ausschüttelte. Hier, direkt über dem Abhang der Bahnlinie Olten-Basel, wo die Züge im Fünfminutentakt vorüberrauschten, erhob sich der von Drahtgitter und Plastikplanen umschlossene Komposthaufen, den Vater und Mutter regelmässig mit organischen Abfällen fütterten: das Wahrzeichen unserer Häuslichkeit. 

 

2019

 

Vater in seinem Büro, Anfang Siebzigerjahre