Dornröschen

Ich glaube, ich bin etwa fünf oder sechs Jahre alt gewesen, als ich im Fernsehen den Disney-Zeichentrickfilm "Dornröschen" ("Sleeping beauty") gesehen habe. Der Klassiker aus dem Jahr 1959 ist der letzte Disney-Trickfilm, bei dem noch jedes einzelne Bild von Hand gemalt und gezeichnet worden ist. Zwar gilt "Dornröschen" nicht als Disneys Meisterwerk, bis heute steht es im Schatten des berühmteren "Schneewittchens", des ersten abendfüllenden Zeichentrickfilms überhaupt. Dennoch ragt "Dornröschen" heraus. Es hat eine ganz eigene künstlerische Qualität, vor allem bezüglich Linien, Perspektiven und räumlicher Staffelung. Und die Formen sind viel eckiger, als man es von Disney gewohnt ist. Da und dort fast schon kubistisch. Als Kind nimmt man solche Finessen natürlich nicht bewusst wahr, aber ich weiss noch genau, was mich an diesem Film beeindruckt hat: es war nicht die Geschichte. Und es waren auch nicht die Figuren, mit Ausnahme der bösen Fee Malefiz fand ich die eher langweilig. Was mich hingegen vom Hocker gehauen hat, waren die gemalten Hintergründe. Vor allem die Architektur des Schlosses. Himmelstrebende Türme, einer hinter dem andern, schier unzählbar. Und dann der Thronsaal! Eine opulente Innenansicht mit Rundbögen und Spitzpfeilern, dieser ganze schwebende Zierat, dem ich wahrscheinlich meine Mittelalter-Liebe zu verdanken habe. Noch jahrelang war ich verrückt nach Schlössern und Kathedralen. Ich war angefixt, könnte man sagen, und irgendwann dämmerte mir, dass das echte Mittelalter ein bisschen anders gewesen sein könnte, jedenfalls nicht so phantastisch, und ich begann mich für die echten Ritterburgen zu interessieren. Doch als ich mit ungefähr zwölf eine Ausgabe von Balzacs "Tolldreisten Geschichten" mit Illustration von Gustave Doré in die Hände bekam, ergriff mich wieder dieselbe Faszination. In Dorés Stichen war das noch märchenhafter als bei Walt Disney: wirre Schlossanlagen, überschlanke Türmchen, Balkone wie Storchennester und halsbrecherische Wendeltreppen. Allerdings war die Darstellungsart dann doch eine romantische, keine mittelalterliche. Alles ein bisschen kraus und verworren. Voller Spinnweben. Es fehlte der Ordnungssinn, das Ausgewogene, das heraldisch Einfache. Aber gehört nicht auch das zur Gotik? Ein gewisse Disharmonie? Etwas Bizarres und Obskures? In der Bezeichnung schwingt seit jeher eine gewisse Ambivalenz mit. Das italienische Kunsttheoretiker Giorgio Vasari hat mit der Bezeichnung "Gotico" ("fremdartig", "barbarisch") seine Verachtung für den seiner Meinung nach wirren mittelalterlichen Architekturstil zum Ausdruck gebracht. Kein völliges Missverständnis. Das Gotische hat ja auch etwas Schauerliches. Und gerade im Mittelalterbild der Romantik und Spätromantik kommt das sehr schön zum Ausdruck. Dorés Illustrationen könnten romantischer nicht sein. Ein paar Jahre später habe ich das Stundenbuch des Herzogs von Berry kennengelernt, ein anmutig illustriertes Manuskript aus dem 15. Jahrhundert, und da fand ich sie wieder: die anmutige Dornröschen-Welt. Heute weiss ich, dass das Stundenbuch eine wichtige Inspirationsquelle für Disneys Dornröschen gewesen ist. Für den zeichnerischen Look ist der Künstler Eyvind Earle verantwortlich gewesen, er hat seine eigenwillige Handschrift auf den Film übertragen. Dadurch wirkt "Dornröschen" so anders als andere Disney-Filme, weniger weich, weniger plüschig. Mit seiner Klarheit, Eleganz und ausladende Optik sticht es deutlich heraus. Vom Stundenbuch, das auch mich in seinen Bann gezogen hat, hat sich Eyvind Earle zu seiner neo-gotischen Ästhetik inspirieren lassen. Allerdings hat er auch seine eigene Ästhetik einfliessen lassen, und diese war auch der Grund, weshalb ihn Disney überhaupt engagiert hat. Earle war kein vollberuflicher Trickfilmzeichner. Von Haus aus war er Landschaftsmaler. Der nüchterne, leicht reduktionistische Stil seiner Gemälde erinnert weitläufig an die Neue Sachlichkeit der Zwanziger- und Dreissigerjahre. Dass er Landschaftsmaler war, wird deutlich, wenn man die berühmte Waldszene anschaut. Aus Angst, dass sich der Fluch der bösen Fee erfüllen könnte, wird Prinzessin Aurora von ihren Eltern in eine Waldhütte geschickt, wo sie unter der Obhut der drei guten Feen aufwächst. Am Morgen, bevor sie ins Schloss zurückkehren soll, spaziert sie noch einmal durch den Wald und trifft dort den Prinzen, der auf seinem Schimmel - oder besser gesagt neben seinem Schimmel, er ist kein besonders guter Reiter - durch den Wald reitet. Während das Spazierens trällert sie in altbekannter Disney-Manier vor sich hin, Vögel schwirren umher, die Sonne scheint, der Wald ist wunderschön. Kitsch, könnte man meinen. Doch wie Eyvind Earle Himmel, Luft und Bäume gestaltet, wie er Vordergrund, Hintergrund, Zwischenräume und Pflanzenarchitektur voneinander absetzt und in die Bildbreite zieht, gehört zum Eindrücklichsten, was ein Zeichentrickfilm jemals zustande gebracht hat. 

An "Sleeping Beauty" hat mich vor allem die Bildebene beeindruckt. Das heisst aber nicht, dass mich die Story gänzlich kalt gelassen hätte. An der Geschichte von Dornröschen hat mich seit jeher der lange Schlaf fasziniert, die erstarrte Zeit, die die Menschen und Tiere gefangen hält - und sogar die physikalischen Gesetze (Feuer, Wind) aufhebt. Die Gebrüder Grimm beschreiben das sehr schön: "Da schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hof, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, an den Haaren ziehen wollte, liess ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr." Der verwunschene Zustand hat mit Zeitentrücktheit zu tun. Oder Zeitlosigkeit. So etwas empfindet man sofort, wenn man ein altes Schloss besucht. Oder auch nur eine Ruine. Da liegt etwas im Schlaf, etwas Altes dämmert vor sich hin. Darin liegt ein Zauber, eine kraftvolle Poesie. Die ausser Kraft gesetzte Zeit ist für unsere Psyche ungefähr das, was die Schwerelosigkeit für unsern Körper ist. Im Schlaf regenerieren wir uns, in der Ohnmacht "treten wir weg", um uns zu schützen. Wir sind nicht da, sind aber andererseits voll bei uns. Dieser widersprüchliche Zustand kommt im Märchen vom hundertjährigen Schlaf sehr schön heraus: die Selbstversenkung, die Inaktivität, das narkotisierte Ich. Psychologisch gesehen steht der Dornröschenschlaf für die Latenzphasen des Lebens, das Sich-Aufheben und die Geborgenheit in der Passivität. Eine schöne Sache eigentlich. In unserer kurzlebigen, ganz auf Reiz-und-Reaktion getrimmten Zeit wird ja gerne verdrängt, dass das Leben auch aus Ausfällen und Aussetzern besteht, aus passiven Zuständen. Mindestens einen davon kennen wir alle: den Schlaf. Oder je nachdem auch die Schlaflosigkeit, in der man ja nicht minder passiv ist. Man ist darin gefangen wie in einer Warteschleife, die nicht aufhören will. In den Schläfern aus Dornröschens Schloss erkennen wir uns alle. Auf die eine oder andere Weise. Und die Geschichte mit den Feen, dem Fluch, der Spindel, den Dornen, der Erlösung: das perfekte Märchen. Fand ich damals - und finde ich heute noch. Vielleicht seltsam, dass ein Märchen mein Lieblingsmärchen wurde, dass ich als Kind kaum hätte nacherzählen können. Mit Kindheitsmärchen verbinde ich vor allem Bilder - und keine Geschichten. Mit der Geschichte von Dornröschen habe ich mich erst viel später befasst, aus einem erwachsenen Verständnis für Literatur heraus. Mutter hat uns manchmal Märchen vorgelesen, die bekannten Märchen der Gebrüder Grimm, und schon da haben mich weniger die Geschichten als die beigefügten Bilder beeindruckt. Den Geschichten zu folgen, fiel mir schwer. Die für Märchen typischen Weissagungen, Verwandlungen, Verwechslungen, Täuschungen, Verwicklungen, Aufzählungen und Wiederholungen verwirrten mich, ich mochte es lieber, wenn eine Geschichte fadengrad erzählt war, mit einem kreditwürdigen Realismus und ohne dieses abgekartete Spiel, das jedes Mal auf ein blitzsauberes Happy End zusteuerte. "Und wenn sie nicht gestorben sind...." Die Geschichten, die mir gefielen, waren phantastisch, aber eben auch realistisch, mit Figuren, die glaubhaft lebten und litten. Ich liebte das "Rösslein Hü" und "Bambi", aus denen uns Mutter ebenfalls vorlas, jeden Abend ein neues Kapitel. Das waren richtige Romane mit plausiblen Handlungen, mit Abenteuern und Problemen, die mich packten und die ich nachvollziehen konnte. Märchen waren mir zu kompliziert, zu undurchschaubar, wie Spiele mit unbegreiflichen Regeln, und manchmal, wenn die Märchen-Lektüre dann doch ein bisschen spannend wurde, schoss mir ein fieser Gedanke durch den Kopf: "Es ist ja nur ein Märchen." Und schon war der Zauber dahin. Ich war ein schlechter Märchenkonsument. Einzelne Märchen gefielen mir zwar recht gut, vor allem solche wie Dornröschen, in denen ein Schloss vorkam, aber im grossen und ganzen interessierten mich an Märchen fast nur die Bilder. Besonders angetan hatten es mir die Illustrationen von Ludwig Richter. Seine traulich-verschlungene Biedermeier-Welt liess mich in die Atmosphäre der Märchen eintauchen, nur in die Atmosphäre, nicht in diese oder jene Geschichte, lediglich in eine Stimmung, die in mir die Bereitschaft weckte, zu träumen und zu fantasieren. Damit war ich bestens bedient. Ich wollte ein romantisches Märchengefühl haben, und dafür waren Ludwig Richters Illustrationen ideal. Verzückt und verzaubert blätterte ich in Grimms Märchen, nicht lesend, sondern schauend. Sobald ein Märchen erzählt wurde, wich diese Verzauberung einer linearen Abfolge hübscher Begebenheiten. Alles wurde wie an einer Schnur heruntergehaspelt: enttäuschend einfach. Und doch auch schwierig, weil das jedes Mal ein kniffliger Aufgabenparcour war. Überall galten Regeln und Vorschriften, diese oder jene rote Linie durfte nicht überschritten werden, und überall wurden Erbsen gezählt. Die Frage ist natürlich, ob Märchen überhaupt für Kinder gedacht oder gemacht sind. Kinder lesen keine Märchen. Sie bekommen sie vorgelesen, klar. Aber selber lesen? Mit sieben oder acht, als ich nicht mehr aufs Vorlesen angewiesen war und ansatzweise selber lesen konnte, liess ich alle Märchenbücher links liegen und vertiefte mich in Meyers Konversationslexikon. Ich studierte alle Wörter, die mit X und Y anfangen. Das Wissen der Erwachsenen verlockte mich mehr als die Märchenwelt. Ich hatte zum Beispiel ein SJW-Heftchen über Weltraumfahrt. Ich verstand zwar kein Wort, aber immerhin war ich da in einer Sache drin, die Hand und Fuss hatte. Märchen fand ich unzuverlässig. Ich traute ihnen nicht. Erst als ich mit J.R.R. Tolkiens "Hobbit" und "The Lord of the Rings" in Berührung kam, mit ungefähr dreizehn, hat sich bei mir das Blatt gewendet. Das waren Märchen für mich! Märchen mit meiner Kragenweite und Hutgrösse. Märchen, die ich ernst nehmen konnte. Interessanterweise hat Tolkien Kindermärchen nicht besonders gemocht. Zu wenig Realismus, lautete sein Befund. Richtig! Zu wenig Realismus. Der Erzählton ist beliebig. So nach dem Motto: lass uns eintauchen in die Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat. Trotz allen Widrigkeiten geht garantiert irgendwo ein Türchen auf, und alles wird gut. Märchen können mal so, mal so erzählt werden. Sie bestehen aus Varianten, aus einzelnen Bauteilen, die sich bei jedem neuen Erzählen etwas anders anordnen lassen. Das sieht man ja auch, wenn man das gleiche Märchen in verschiedenen Fassungen liest. Die ältere Dornröschen-Version von Perraut, die Vorlage für Walt Disneys Adaption, kennt nur drei gute Feen, während es bei den Gebrüdern Grimm ein ganzes Dutzend sind, damit die dreizehnte Fee die Böse sein kann. In der Urfassung von Giambattista Basiles, eines neapolitanischen Dichters aus dem 17. Jahrhundert, nimmt das Märchen kurz vor seinem bekannten Happy End einen völlig unerwarteten Verlauf. Die Prinzessin heisst hier Thalia, und sie wird nicht von einem Prinzen wachgeküsst, sondern von einem König vergewaltigt, während sie noch schläft. Er "trug sie in seine Armen auf ein Lager und pflückte dort die Früchte ihrer Liebe," wie es beschönigend heisst. Daraufhin bringt sie - noch im Schlaf - Zwillinge zur Welt und erwacht erst, als eines ihrer Babys den Splitter aus ihrem Finger saugt. Als sie ins Leben zurückkehrt, versucht die Frau des Königs aus den Zwillingen ein Festtagsmenü zu machen und trachtet Thalia nach dem Leben. Es geht also auch um Kannibalismus. Die geplanten Mordanschläge werden vereitelt, und die böse Königin kommt ums Leben. Eine ziemlich abstruse und düstere Version. Mit einem fragwürdigen Happy End. Es gibt keinen zwingenden Grund, ein Märchen so und nicht anders zu erzählen. Beim Versuch, einen Märchenstandard zu etablieren, waren die Gebrüder Grimm mit ständigen Nachbesserungen beschäftigt. Ihre Märchensammlung haben sie fortlaufend überarbeitet. Von Auflage zu Auflage haben sie immer mal wieder etwas abgeändert, haben korrigiert, gestrichen, gekürzt, verlängert, dazuerfunden und weggelassen: nie gab es eine definitive Version. Märchen sind nicht in Stein gemeisselt, auch nicht bei den Gebrüdern Grimm. Märchen sind zum Weiterzählen gedacht. Und das macht sie auch so schwierig. Beim Erzählen kann man sich Freiheiten erlauben und alles ein bisschen umbauen, Sachen abwandeln, dazuerfinden oder weglassen, der Frosch kann auch ein Krebs sein, mal sind es drei Feen, mal zwölf, mal wird das Schloss von einem Drachen bewacht, dann wieder nur von Dornensträuchern, und so rankt sich die Fabulierlust um eine Regelhaftigkeit herum, die dann doch irgendwie gewahrt werden muss. Ein Märchen ist eine Rechenoperation mit sehr vielen Variablen, sehr vielen Faktoren, die nicht festgelegt sind: aber am Schluss muss alles aufgehen, das Dornröschen muss aus dem hundertjährigen Schlaf erwachen, der Bauch des Wolfs aufgeschlitzt werden. Ohne Plan und Ordnung funktioniert das nicht. Auf einer tieferen Ebene wollen Märchen stimmig sein. Sie wollen, dass eins plus eins zwei gibt. Sie bestehen darauf. Das hat etwas Pingeliges. Es werden Erbsen gezählt, bis das Mass voll ist. Bis alles beglichen und die richtige Ordnung hergestellt ist. Dieses Streben nach Ordnung und Ausgleich mochte ich an Märchen nicht. Aber vielleicht war das meine erste Kunsterfahrung. Märchen sind phantasievoll, und trotzdem liegt ihnen kein freies Phantasieren zugrunde. Dieser Widerspruch ist der Kunst immanent. Und die Märchen treiben ihn auf die Spitze. Er liegt im Kunstcharakter des Märchens, seinem Formwillen, der das Fabulieren einhegt und ritualisiert. "Märchen sind Kunstwerke", schreibt die Schriftstellerin und Dichteirn Illma Rakusa. "Ihre Suggestivkraft verdanken sie nicht nur dem Inhalt, sondern der Form. Und so kommt es, dass sie schön sind, auch wenn sie von Grausamkeit handeln, beruhigend, auch wenn sie von Unheimlichem erzählen." Märchen sind schön, weil sie das Unschöne oder Schlimme (das Grausame und Unheimliche) auf mustergültige Weise schön machen: es erzählbar machen. Und Schönheit hat immer mit Form zu tun, mit der Art und Weise, wie etwas an- oder zugerichtet wird. Analog zum Essen, das in seinem rohen Zustand - denken wir an Rohfleisch, Erdknollen, ungeschnittenes Gemüse etc. - selten appetitanregend wirkt. Kannibalismus, Mord und Totschlag, Kindsmisshandlung, zerrüttete Familienverhältnisse. Starker Tobak. Nichts davon würde man Kinderohren zumuten wollen. Aber das alles kommt in Märchen vor, sogar in den bekanntesten und beliebtesten Märchen, und wir nennen diese Märchen "Hausmärchen" und meinen das nicht einmal ironisch. Ohne Form wäre das nicht möglich. Es ist nur ein Märchen. Wie beruhigend! Es ist nur ein Märchen. Genau darum geht es. Kinder sind da viel schlauer als wir. Wenn sie im Spiel aufeinander schiessen und tot umfallen, tun sie das nie (oder selten), weil sie es toll fänden, jemanden tatsächlich umzubringen. Kinder spielen mit der grössten Unbefangenheit Krieg, schiessen einander tot, und die Erwachsenen entsetzen sich darüber, weil sie dem Spiel einen Realismus zuschreiben, den es nicht hat. Ein klassisches Missverständnis. Das Spiel ist eine ritualisierte Form, eine ritualisierte Sprache, die die Dinge rückgängig machen kann. Im Spiel gibt es nichts Definitives, nichts Endgültiges. Sogar das Endgültigste überhaupt, das Totsein, kann im Spiel, in der freien Mimesis, rückgängig gemacht werden. Und genau das ist der Unterschied zwischen Leben und Kunst, der Unterschied zwischen der Realität, die immer genauso ist, wie sie ist, und der Fiktionalität eines Kunstwerks, die eine Möglichkeit darstellt. Die Fiktionalität wird gültig, wenn sie die richtige Form findet, das richtige Gefäss. In diesem Gefäss ist das Schlimme gleichsam gebannt, aufgehoben im doppelten Wortsinn. Ilma Rakusa hat diese Form in der Sprache gefunden, im eigentlichen Märchenerzählen. Ihre Mutter hat ihr Märchen erzählt oder vorgelesen, für die spätere Dichterin die erste Begegnung mit dem Zauber der Sprache. Eine Art Einweihung. Das war mir nicht vergönnt, so frühreif war ich nicht. Oder vielleicht war meine Mutter keine gute Märchenerzählerin, möglicherweise der tiefere Grund, weshalb aus mir kein Dichter geworden ist. Und trotzdem habe ich mich an der Schönheit von Märchen erfreuen dürfen: zuerst durch die Bilder von Ludwig Richter, dann durch das "Dornröschen" von Walt Disney und Eyvind Earle. Und obwohl ich wie die meisten Kinder vor vielen Dingen Angst hatte, vor der Dunkelheit unter dem Bett, dem nächtlichen Knarren des Wandschranks, kann ich mich nicht daran erinnern, dass mir ein Märchen jemals Angst eingeflösst hätte. Auch bei Disneys "Dornröschen" gab es für mich nichts Angstmachendes. Vielleicht da und dort einen Anflug von Hühnerhaut. Manche Alptraumszenen beeindruckten mich wie die Donnerschläge eines Gewitters. Es war aber nichts, vor dem ich mich unter die Bettdecke hätte verkriechen müssen. Die böse Fee Malefiz und auch ihre Verwandlung in einen Drachen verursachten mir keine Alpträume, Disneys "Dornröschen" war für mich schön und spannend, weiter nichts, und so war es auch bei den meisten andern Filmen, die ich als Kind schauen durfte. Wenn mein Vater mitschaute und eine Szene vorkam, in der Blut floss, sagte er trocken: "Das ist nur Konfitüre." So lernte ich schon früh, dass man Sachen darstellen kann und darf, die in der Realität unerträglich wären. Und auch in unsern Märchen ist der Schrecken "nur Konfitüre", dick aufgetragen zwar, aber das muss man aushalten, wenn man mit einem Happy End belohnt werden will. 

 

2023